Haltelinien und Perspektiven für digitalisierte Bildungsprozesse
Bericht eines gewerkschaftlichen Austausches
Jörg Ferrando (IG Metall), Roman Jaich (ver.di), Mario Patuzzi (DGB), Martina Schmerr (GEW), Moderation: Uwe Elsholz (Fernuniversität Hagen),
1. Hintergrund
Von Anfang an war den Herausgeber*innen bei der Konzeption dieser Ausgabe von denk-doch-mal.de bewusst, dass eine gewerkschaftliche Positionierung zu digitalisierten Bildungsprozessen noch aussteht und sich zudem einer begrifflichen Schärfung (noch) entzieht.
Wir wollen diese Ausgabe von denk-doch-mal.de nicht ohne Hinweise schließen, in welche Richtungen aktuell in den Gewerkschaften zu dem Themenfeld gedacht wird. Dafür haben wir in einem Webaustausch mit den an denk-doch-mal.de beteiligten Gewerkschaften sowie dem DGB konferiert oder besser noch: gebrainstormt, wohin die Reise gehen könnte, aber vor allem auch wohin die Reise nicht gehen sollte. Das Ergebnis dieses Austausches stellen wir hier zur Diskussion.
2. Worüber reden wir?
Schon die Frage danach, worüber wir reden, wenn wir uns über den Begriff „digitalisierte Bildungsprozesse“ nähern, weist auf eine diffuse Begriffslage hin. Weitgehend Einvernehmen herrscht noch bei der Feststellung, dass der Bildungsprozess und darin einfließend digitale Elemente im Fokus stehen und nicht die „Bildung in einer digitalen (Arbeits-)Welt“, einem zwar wichtigen Thema, das aber breit aufgestellt ist. Geht es darum, genauer zu definieren, was denn „digitale Bildung“ meint und was dieses Lernformat gegenüber Präsenzunterricht und anderen Lernformaten hervorhebt, wird es begrifflich schwierig. „Bildung“ per se kann nicht digital sein. Sie kann lediglich auf digitalem Wege oder in digitalisierten Settings stattfinden. Sind andererseits z.B. E-Learning, Computer-based-Trainings (CBT), Web-based Trainings (WBT) oder auch Distance-Learning geeignete Begriffe oder stellen sie begriffliche Engführungen dar? Festgehalten werden kann aus unserer Sicht, dass elektronische oder digitale Medien mittlerweile selbstverständlicher Bestandteil von Bildungsprozessen sind und daher diese seltener ausschließlich analog stattfinden. Allerdings zeigten sich in unserer Diskussion durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen, Dimensionen und Zugänge:
Die gesellschaftliche Debatte legt den Fokus bei digitalisierten Bildungsprozessen überwiegend auf technische / technologische Aspekte wie datafizierte Prozesse oder „Künstliche Intelligenz“ (KI) und den damit verbundenen erheblichen Folgen. Somit wird eher diskutiert, was überhaupt machbar und umsetzbar ist – und eben nicht, was pädagogisch sinnvoll wäre. Hingegen geht es darum, die Entwicklung „umzudrehen“: Es muss das Primat der Pädagogik gelten und nicht das der Technik .
Blicken wir dagegen auf handelsübliche digitale Lerneinheiten, vor allem in der beruflichen Bildung, lässt sich eine Renaissance der Lernnuggets konstatieren. Diese „Microtrainings“ sind schnell abruf- und verdaubar und können zum Teil auch in Arbeitsprozesse integriert werden. Digitale Lernnuggets nutzen das Potenzial schneller digitaler Kommunikationswege und Informationsmöglichkeiten, sie können zudem personalisiert werden und bieten Chancen, Arbeitserfahrungen als Lernerfahrung erlebbar zu machen. Andererseits bergen sie auch die Gefahr, Bildung auf ein „Häppchen-Lernen“ zu reduzieren und – trotz Personalisierung – Lernprozesse zu uniformieren und die lernenden Subjekte einzuengen. Mehr noch: im Zusammenhang mit algorithmischer Steuerung und Organisation von Arbeit können arbeitsintegrierte digitale Lernnuggets das Risiko fremdbestimmten Arbeitens und Lernens mit Folge einer voranschreitenden Arbeitsintensivierung erhöhen.
Für die begriffliche Klärung unseres Themas sind also schließlich die Lernenden selbst und deren individuelle Bedürfnisse in den Blick zu nehmen. Bei der Konzeption digitaler Bildung ist der lernende Mensch als Subjekt in das Zentrum zu stellen: Er muss Subjekt des Bildungsprozesses sein, anstatt das Objekt eines digitalen Prozesses. Individuelle Lernbedürfnisse von Einzelnen in hoher pädagogischer Qualität und angemessener Vielfalt digital abbilden zu können, ist jedoch eine teure und schwer zu operationalisierende Angelegenheit.
3. Wo stehen wir?
Digitalisierte Bildungsprozesse bieten Chancen und Potenziale. Nicht erst seit Beginn der COVID-Pandemie wissen wir, dass sie die Möglichkeit des Lernens über Distanzen hinweg bieten. Damit werden auch Qualifizierungs- und Lernmöglichkeiten für „kleine“ Berufe denkbar, die ansonsten mit aufwändiger Reisetätigkeit oder Beschulung in Klassen mit verwandten Berufen verbunden wären. Digitale Bildungsprozesse zur Überwindung des Raumes können auch dazu beitragen, die Partizipation von Menschen mit Behinderungen an Bildungsprozessen zu erhöhen oder Angebote der Erwachsenenbildung stärker in den ländlichen Raum zu tragen. Und was spricht eigentlich gegen den Einsatz von virtual reality für authentische Simulationen von komplexen und kostenintensiven Arbeitsprozessen oder für digitale Prüfungen in Berufen mit hohem Gefahrpotenzial?
Wir stellen jedoch auch eine Tendenz zur Monopolisierung von Technologie- und Softewareanbietern fest. So hat der Einfluss privater unternehmerischer Akteure auf Bildungsprozesse in den letzten Jahren stetig und vor allem seit der Pandemie noch einmal zugenommen. Insbesondere eine stärkere Kommerzialisierung schulischer Bildung ist nicht von der Hand zu weisen. Die Probleme dabei sind: das Fehlen von Qualitätsstandards, zunehmende Datenschutzprobleme sowie das Zersetzen öffentlich-demokratischer Verantwortung und Regulierung. Auch im Rahmen der betrieblichen Praxis stellen wir deshalb einen erhöhten Bedarf an Überprüfung fest. Ursächlich erfolgt auch hier in weiten Bereichen der Ausbau und das Angebot digitalisierter Bildung nach dem Prinzip eines anarchischen Marktes. Dabei ist die Etablierung von Standards aus dem Blick geraten und der Bedarf an Überprüfung im betrieblichen Kontext, aber auch anderswo, ist sehr hoch. Es fehlt die Diskussion, welche Standards, Kontrollen und Steuerung es braucht, um Organisation und Durchführung qualitativ guter und hochwertiger digitaler Bildungsprozesse zu gewährleisten.
4. Was müssen wir beachten?
Schon die bisherigen Erfahrungen machen deutlich: Digitale Bildungsprozesse sind janusköpfig. Trotz aller hohen Erwartungen und Potenziale bergen sie auch große Herausforderungen und erhebliche Risiken für die „Lernende“ und Lehrende in allen Kontexten. Eine besondere Herausforderung scheint uns zu sein, wie gut es zukünftig gelingt, Methodik und Didaktik digitaler Bildungsprozesse in Einklang mit den Bedürfnissen und Notwendigkeiten bestimmter Zielgruppen zu bringen. Vor allem Kinder brauchen eine entwicklungsgerechte Lernatmosphäre und sichere Lernumgebung, um auch im virtuellen Raum lernen zu können. Pädagogische Konzepte müssen gerade hier das Selbstlernen fördern und dürfen nicht frontal ausgerichtet sein.
Webbasiertes Lernen kann jedoch gerade bei Kindern und jungen Menschen auch zu einer stärkeren Polarisierung führen. Kinder aus besser gestellten Familien sind im Hinblick auf Ausstattung, elterliche Unterstützung und praktische Erfahrungen oft im Vorteil, während Kinder aus sozial benachteiligten Familien weder digitale Geräte besitzen noch jemals positive Lern- oder Entwicklungserfahrungen mit digitalen Tools gemacht haben. Die Corona-Pandemie mit dem in Teilen digitalisierten Schulbetrieb hat die soziale Spaltung noch verstärkt, wie viele Studien belegt haben.
Die bereits erwähnten Micro-Lerneinheiten können wiederrum einem nutzerangepassten Angebot entsprechen, führen aber auch nur zu „Microkompetenzen“, die (analoge) Standards aushebeln und letztlich dazu beitragen können, das Prinzip der Beruflichkeit zu unterlaufen. Etwas bösartig könnte sogar formuliert werden: Micro-Lernheiten stellen einen Verzicht auf berufliche Bildung dar.
Weitere aktuelle Herausforderungen stellen KI-basierte Programme dar, bei denen eine Lernkontrolle und Leistungsfeststellung durch Algorithmen erfolgt, ohne dass Lehrkräfte eine eigene Einschätzung des Lernprozesses und Lernstandes vornehmen. Solche Tools werden sich als problematisch erweisen, da hier konkret die Gefahr der Vermessung und Bewertung von Lernenden (und im Übrigen auch Lehrenden) entlang von Kriterien besteht, die in den seltensten Fällen offengelegt und zu hinterfragen sind. Hier muss es Möglichkeiten des Eingriffs und der Veränderungsmöglichkeit durch neue Schutz- und Gestaltungsrechte von Lehrenden und Lernenden, aber auch von betrieblichen Interessenvertretungen geben.
Digitalisierung von Prozessen wird unserer Einschätzung nach zu einer Überformung und Modellierung von analogen Prozessen führen. Darüber hinaus beobachten wir auch Veränderungen im Miteinander im schulischen, betrieblichen oder sozialen Gefüge. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass es letztlich zu einer schleichenden Umdeutung des Bildungsbegriffs, zu einer Verengung auf digital abprüfbare Inhalte, zu einer Einschränkung pädagogischer Vielfalt und Freiheit sowie zu einer Abnahme demokratischer und solidarischer Erfahrungen in Bildungsprozessen kommt und letztlich auch zu einer weitreichenden Fremdbestimmung von Arbeit in betrieblichen Kontexten führt.
Im Ergebnis scheinen die Risiken und Probleme umso größer zu sein, je früher „digitale Bildung“ in der Bildungsbiografie zum Einsatz kommt. Oder andersherum könnte man zumindest vermuten, dass erwachsene Lernende, bei denen die Persönlichkeitsentwicklung weit fortgeschritten ist, eher die Risiken einschätzen und mit diesen umgehen können und daher Fehlentwicklungen begrenzbar sind.
5. Entwicklung mit Leitplanken versehen. Wer ist zum Handeln aufgefordert? Was tun?
Üblicherweise werden Handlungs- und Lösungsvorschläge nach Themen oder Domänen orientiert vorgetragen. Wir wollen indessen konkrete Akteure benennen, die Handlungsaufträge und Handlungsmöglichkeiten haben, um Leitplanken für gute und qualitativ hochwertige digitale Bildungsprozesse zu entwickeln:
- Unser Ziel ist, die Chancen für individuell selbstbestimmte Bildungsprozesse zu stärken sowie die Risiken von Fremdbestimmung, Fremdsteuerung, Kontrolle und Entwertung von Bildung bekämpfen. Das gilt gleichermaßen für analoge wie digitale Bildungsprozesse und rückt die öffentliche Verantwortung für Bildung in das Zentrum der Überlegungen.
- Als Sozialpartner können wir an unterschiedlichen Stellen ansetzen, um die Digitalisierung im Bildungsbereich mitzugestalten. Sie können z.B. im Rahmen von Neuordnungsverfahren für die Aus- und Fortbildungsordnungen mit dafür Sorge tragen, dass sich die (digitalen) Methoden an den Inhalten ausrichten. Zudem können sie sich in den Neuordnungen darauf verständigen, in welcher Form Prüfungen durchgeführt oder auch mit welchen Instrumenten sie nicht durchgeführt werden sollen. Darüber hinaus sollten die Gewerkschaften – als gesellschaftlicher Akteur – die möglichen Konsequenzen der Digitalisierung in allen Bildungsbereichen aufzeigen und sie als interessengeleiteten Prozess sehen, der gewerkschaftlich gestaltet werden muss. Digitalisierung, Datafizierung und Algorithmen im Bildungswesen müssen inklusiv, nachhaltig, demokratisch, transparent und auf der Basis von Werten und Grundrechten gestaltet werden. Für die Gewerkschaften stehen dabei nicht das technische Werkzeug oder die technische Infrastruktur im Vordergrund, sondern pädagogische und wissenschaftliche Fragen sowie das Lernen, Arbeiten und Forschen in kollegialer und solidarischer Gemeinschaft.
- Die betriebliche Mitbestimmung muss sich schon heute mit dem Thema auseinandersetzen. Betriebs- und Personalrät*innen müssen ihre Mitbestimmungsrechte insbesondere zum Schutz von Beschäftigten aktiv anwenden. Dafür müssen betriebliche Interessensvertreter*innen über Qualifizierungen in die Lage versetzt werden, damit diese fachlich-strategisch mit der Arbeitgeberseite in die Diskussion und Aushandlung gehen können. Um digitale Bildungsprozesse im Betrieb proaktiv gestalten zu können, braucht es aber auch zusätzlich ein Initiativrecht der betrieblichen Interessensvertretung im Bereich der betrieblichen Bildung. Eine Perspektive könnte eine „politische Technikfolgenabschätzung“ für Bildungsprozesse sein, und zwar möglichst VOR der Einführung digitaler Technologien, wie etwa Learning Analytics oder anderer Programme, die eine Lern- oder Verhaltenskontrolle ermöglichen.
- Häufig halten Arbeitgeber kaum oder keine guten Rahmenbedingungen für die Nutzung digitaler Bildungsformate für Beschäftigte vor. Dazu gehören neben der technischen Ausstattung mit Endgerät und Netzzugang auch die Absicherung der Lernzeiten und ein lernfreundliches, lernförderliches und datensicheres Umfeld. Im Kern geht es um Fragen der betrieblichen und beruflichen Bildung im Rahmen von gewerkschaftlicher und betrieblicher Arbeitspolitik, die viel stärker in gewerkschaftlichen Zusammenhängen reflektiert und weiter bearbeitet werden müssen.
- Der Staat, d.h. vor allem Bund und Länder, ist aufgefordert, öffentlich-rechtliche Bildungsplattformen zu etablieren und dieses Feld nicht allein privaten Unternehmen zu überlassen. Zudem bedarf es Standards für das Agieren privater Anbieter im Bildungsbereich und für die Qualität von digitalen Bildungsangeboten. Hier besteht noch Forschungs-, aber vor allem Diskussionsbedarf, welche Standards, Kontrollen und Steuerung es zukünftig braucht und welche Aufgaben und Rolle der Staat dabei haben soll. Sinnvoll wären z.B. Richtlinien für Public Private Partnerships und Lernpartnerschaften, die die Bildungseinrichtungen vor Einflussnahme durch Großkonzerne schützen und sowohl die pädagogische Autonomie von Bildungseinrichtungen und Lehrenden, den Bildungsauftrag wie auch das Neutralitätsgebot vor allem öffentlicher Bildungseinrichtungen schützen. Um die Qualität, Ausgewogenheit und Rechtssicherheit von digitalen Bildungsangeboten zu gewährleisten, spielen auch Monitoring- und Zertifizierungssysteme eine große Rolle.
Während sich staatliche Stellen in den letzten Jahren zunehmend der Gestaltungs- und Gefahrenpotenziale von „Künstlicher Intelligenz“ auf verschiedenen Feldern angenommen haben, sollten auch die Qualität, Transparenz und Sicherheit von Datafizierung und Algorithmitsierung im Bildungswesen verantwortet, gestaltet und reguliert werden. Nicht zuletzt hat der Staat Verantwortung für die Sicherung der Professionalität der Lehrenden – z.B. an Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen und Erwachsenenbildung -, der er durch eine entsprechende (z.B. medienpädagogische, informatische, datenpolitische) Grundqualifizierung nachkommen sollte. In all diesen Diskussionen und Prozessen sollten die Sozialpartner beteiligt und einbezogen werden. - Die Rolle der Wissenschaft ist schließlich, valide Daten zur Bewertung von Chancen und Risiken zu liefern und die Wirkung digitaler Bildung auf verschiedenen Bildungsstufen zu untersuchen. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf der Produktion von Ungleichheiten bzw. der Gestaltung inklusiver Bildungsprozesse (einschließlich des Lernens im Prozess der Arbeit) liegen. Eine weitere Perspektive liegt in der Entwicklung datenpolitischer Expertise im Hinblick auf „Künstliche Intelligenz“, Algorithmen-Steuerung und Big Data in der Bildung sowie im notwendigen Transfer für Lehrende und Lernende.
Wir danken Franziska Hamann-Wachtel (ver.di) und Bernd Kassebaum (IG Metall) für die Unterstützung bei der Dokumentation