Exemplarisches Lernen im Prozess der Arbeit – ein Validierungskonzept

Prof. Dr. Uwe Elsholz (Lehrstuhlinhaber)

Im Folgenden wird ein Verfahren zur Validierung und Zertifizierung des Lernens im Prozess der Arbeit vorgestellt, das sich in der Tradition des exemplarischen Lernens verortet (Negt 1968, Klafki 2007). Die Kompetenzentwicklung Beschäftigter im Rahmen eines individuellen Qualifizierungsprojekts bildet dabei den Kulminationspunkt, auf dessen Basis die Validierung der erworbenen Kompetenzen erfolgt. Der Bezug zur Beruflichkeit wird durch eine starke Betonung des Transfers und dem Rückbezug des betrieblichen Lernens auf einen überbetrieblichen Ordnungsrahmen, im konkreten Fall das Elektrotechnik-Weiterbildungssystem (BGBl 2009), gewährleistet.

Der nachfolgend zu Grunde gelegte Ablauf ist im Kontext des ET-Weiterbildungssystems auf der Spezialistenebene angesiedelt, das Lernen im Prozess der Arbeit erfolgt damit in einem sozialpartnerschaftlich geschaffenen Rahmen. Die Schrittfolge des Konzepts (genauer in Elsholz/Kallies/Schönfeld 2017) ist grundsätzlich auf vergleichbare Bildungskontexte adaptierbar.

1. Exemplarische Auswahl eines betrieblichen Arbeits- und Lernprojekts

Der erste Schritt im Rahmen der Fortbildung besteht in der Identifizierung eines realen betrieblichen Qualifizierungsprojekts. Entscheidend ist hier, dass es sich bei dem auszuwählenden betrieblichen Projekt aus didaktischer Perspektive i. S. des exemplarischen Lernens um ein Exempel handelt, das der aktiven Erarbeitung „verallgemeinerbare[r] Kenntnisse, Fähigkeiten [und] Einstellungen“ (Klakfi 2007, S. 143f.) dienen kann. Dem ausgewählten betrieblichen Projekt müssen hinreichende fachliche und prozessuale Inhalte innewohnen, die durch die Teilnehmer*innen – spätestens zum Abschluss der Weiterbildung – als verallgemeinerbar wahrgenommen werden können. Die Auswahl eines solchen Projekts bedarf daher hoher fachlicher und pädagogischer Expertise. Die realen Projekte beim Elektrotechnik-Spezialisten rührten zudem aus konkreten betrieblichen Problemstellungen. So ging es etwa um die Unterbrechung des Druckprozesses bei der Schalterblendenmontage der Produktion von Waschmaschinen. Hier wurde das Problem einerseits fachlich analysiert und zum anderen Lösungsmöglichkeiten erarbeitet. Ein zweites Beispiel bestand in der Prozessoptimierung der Arbeitsschritte im Service eines kleineren Herstellers von Messgeräten.

2. Durchführung und Dokumentation eines betrieblichen Qualifizierungsprojekts

Den zeitlich umfangreichsten Teil der Weiterbildung ist der eigentlichen Durchführung des Qualifizierungsprojekts gewidmet, das i.d.R. 8-10 Monate umfasst. Prozessbegleitend erfolgt eine Dokumentation in einer persönlichen Lernumgebung. Individuelle Arbeits- und Lernfortschritte werden festgehalten sowie mit Fotos, Videos oder anderen Dokumenten veranschaulicht. Es erfolgt zudem stets ein Bezug zum Ordnungsrahmen der ET-Weiterbildung (vgl. Elsholz et al. 2018). Die Dokumentation unterstützt den Weiterbildungsprozess und stellt eine wesentliche Grundlage für die Durchführung begleitender Zwischengespräche als auch des abschließenden Fachgesprächs dar. Hier werden bereits durch gezielte Rückfragen Erfahrungen reflektiert und Transfermöglichkeiten erörtert.

3. Validierungsworkshop mit abschließender Zertifizierung

Die Validierung und Zertifizierung der erworbenen Kompetenzen erfolgt in der letzten Phase und beinhaltet insbesondere den Transfer. Die im Weiterbildungsprozess entwickelten Kompetenzen sind zunächst stark an das spezifische Projekt und den Betrieb gebunden. Um eine weitergehende berufliche Handlungsfähigkeit sicherzustellen, ist es erforderlich, die konkreten Erfahrungen zu verallgemeinern.

Bei der Durchführung des Weiterbildungsprozesses begegnen die Weiterbildungsteilnehmer*innen einer Vielzahl von Technologien und Prozessschritten, die auch in anderen Kontexten Verwendung finden. Die im Rahmen der konkreten Weiterbildungsprozesse erarbeiteten technologischen Inhalte stellen somit zunächst einen Vorgriff dar auf ein „Allgemeines mit größerem oder begrenzterem Generalisierungsanspruch, das zum einen gesichert werden und das zum anderen seine Reichweite und Geltung erst unter Beweis stellen muss“ (Klafki 2007, S. 155). Ausgehend von den Ansätzen zum exemplarischen Lernen sowie den durch den DQR beschriebenen Kompetenzniveaus erfolgt die Verallgemeinerung sowie der Nachweis der Kompetenzen anhand von ausgewählten, besonders kompetenzbedeutsamen Aspekten des durchgeführten Weiterbildungsprozesses.

Der Abschluss-Workshop wird von den Weiterbildungsteilnehmer*innen auf Basis der prozessbegleitend in der digitalen Lernumgebung erarbeiteten Dokumentation vorbereitet. Er dauert insgesamt zwischen 60-75 Minuten und gliedert sich in drei Teile:

  • Projektbeschreibung technologisch am Objekt (Dauer: ca. 15-20 Minuten)
  • Prozessbeschreibung mit Präsentation (Dauer: ca. 15-20 Minuten)
  • Fachgespräch (Dauer: ca. 30-35 Minuten)

Die Struktur des Abschlussworkshops bildet eine Entwicklung vom konkreten Prozess bzw. dem konkreten technologischen Objekt zu allgemeinen beruflichen Handlungskompetenzen ab. Insofern durchläuft der Validierungsworkshop verschiedene Stufen der Abstraktion, die auch im Rahmen der theoretischen Grundlagen zum Exemplarischen Lernen für wichtig befunden wird (vgl. Klafki 2007, S. 156ff.). Sofern die betrieblichen Gegebenheiten es erlauben, erfolgt eine erste technologisch orientierte Vorstellung des Projekts direkt am Arbeitsort (anderenfalls im Seminarraum). Wesentlicher Schwerpunkt dieser Phase ist die Darstellung der technologischen Herausforderungen sowie deren konkreter Lösungen.

Der mittlere Teil des Abschlussworkshops beschäftigt sich mit den im Rahmen des Weiterbildungsprojektes erworbenen prozessualen Kompetenzen. Zugleich wird hier eine erste Distanzierung vom konkreten Arbeitsgegenstand bzw. -prozess vorgenommen. Die Weiterbildungsteilnehmer beschreiben, ausgehend von der eigenen Dokumentation des Projekts, den durchgeführten Weiterbildungsprozess. Gestützt durch zuvor bereitgestellte Leitfragen beziehen die Teilnehmenden in diesem Teil Stellung zu den einzelnen Prozessschritten sowie den dabei aufgetretenen Problem- bzw. Entscheidungssituationen. Insbesondere werden hierbei jeweils die Leitfragen: „Wie sind Sie zu einer Problemlösung gekommen?“, „Warum haben Sie gerade diese Lösung gewählt?“ und „In welchen, ähnlich gelagerten, Prozessen tauchen ähnliche Probleme aus?“ beantwortet.

Den letzten und längsten Teil des Abschlussworkshops stellt ein reflektierendes Fachgespräch dar. Ziel des Fachgespräches ist die Sicherung des DQR-Niveaus 5 sowie die abschließende Verallgemeinerung der erworbenen Kompetenzen. Das Fachgespräch wird auf Grundlage eines Leitfadens geführt (siehe nachfolgende Tabelle), der sich in drei Abschnitte „Inhalt – Prozess – Person“ gliedert. Zunächst werden vertiefende Nachfragen zu fachlichen Inhalten des konkreten Weiterbildungsprozesses gestellt. Daran anschließend folgen Fragen zum Prozess im Weiterbildungsprozess. In beiden Teilen werden nach konkreten fachlichen und prozessualen Nachfragen insbesondere Aspekte des Transfers angesprochen.

Die folgende Tabelle zeigt einen Ausschnitt aus dem erarbeiteten Leitfaden zum Ablauf und zur Dokumentation des Fachgesprächs (ausführlicher in Elsholz et al. 2018, S. 18f.)

Für die abschließende Zertifizierung wurde mit den Sozialpartnern ein Muster-Zertifikat abgestimmt. Während die erste Seite des Zertifikats die spezifischen Angaben zum Teilnehmenden sowie zum konkreten Qualifizierungsprojekt enthält, verweist die zweite Seite als Erläuterung auf die profiltypischen Arbeitsprozesse des jeweiligen Spezialistenprofils (vgl. BGBl 2009). Damit wird auch hier das besondere „betriebliche“ und das verallgemeinerte „berufliche“ abgebildet.

Reflexion des Vorgehens und Transfermöglichkeiten

Mit dem beschriebenen Vorgehen liegt ein Ansatz zur Validierung des Lernens in der Arbeit vor, der theoretisch begründet und praktisch erprobt ist. Es ist kein beliebiges Lernen in der Arbeit, sondern ein gerahmter und intentionaler Prozess der Aneignung neuer Kompetenzen im Rahmen eines individuellen Qualifizierungsprojekts. Die Prinzipien dieser (durchaus anspruchsvollen) Form der Validierung lassen sich auf andere Bildungskontexte übertragen. Insbesondere die Frage der Abstraktion vom konkreten Gegenstand der Lern- und Arbeitserfahrung stellt in diesem Prozess eine wichtige Herausforderung dar. Im geschilderten Vorgehen wurde diese Abstraktion im gesamten Prozess im Rahmen der Dokumentation der einzelnen Arbeitsschritte geübt und angeregt. Der hier genauer dargestellte Abschlussworkshop stellt damit lediglich den letzten – aber entscheidenden – Schritt dar, um vom Einzelfall als Exempel auch die Beruflichkeit sicher zu stellen und damit die entsprechenden Kompetenzen zertifizieren zu können.

BGBl (2009): Verordnung über die Prüfung zum anerkannten Fortbildungsabschluss Geprüfter Prozessmanager Elektrotechnik / Geprüfte Prozessmanagerin Elektrotechnik (Processmanager electric/electronics)« vom 10. August 2009 (Bundesgesetzblatt Jahrgang 2009 Teil I, Nr. 54)

Buck, G. (1998): Lernen und Erfahrung. Zum Begriff der didaktischen Induktion. 3. Aufl., Darmstadt

Elsholz, U.; Kallies, H.; Schönhold, R. (2017): Das Weiterbildungssystem in der Elektroindustrie – eine Chance für betrieblich-berufliche Karrierewege. In: Becker, M. et al. (Hrsg.): Einheit und Differenz in den gewerblich-technischen Wissenschaften – Berufspädagogik, Fachdidaktiken und Fachwissenschaften. Berlin u.a., S. 212-225.

Elsholz, U.; Rüter, M.; Hilger, T.; Slosinski, U. (2018): Handreichung zur Umsetzung des Elektrotechnik-Weiterbildungssystems auf der Spezialistenebene. Hagen: Fernuniversität (Online verfügbar: https://ub-deposit.fernuni-hagen.de/receive/mir_mods_00001478; 20.12.19)

Klafki, W. (2007): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. 6. Auflage, Weinheim/Basel

Negt, O. (1968): Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Frankfurt

Autor

  • Uwe Elsholz hat eine Berufsausbildung zum Industriekaufmann absolviert und eine berufliche Tätigkeit als kaufm. Angestellter. Dann begann er das Studium der Sozial-, Verwaltungs- und Erziehungswissenschaften an den Universitäten Konstanz und Hannover sowie der FernUniversität in Hagen. Abschluss als Diplom-Sozialwissenschaftler (Universität Hannover). Dann war er Jugendbildungsreferent beim DGB Nord in Hamburg. Seine wissenschaftliche Karriere startete er als wiss. Mitarbeiter an den Universitäten Bremen, der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, dem Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb) in Nürnberg und der TU Hamburg-Harburg. Weitere Stepps waren: Promotion 2005 an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, Habilitation 2012 an der TU Hamburg-Harburg, Vertretungsprofessuren für Berufspädagogik an den Universitäten Paderborn und Hannover. Seit dem 1. März 2013 hat Elsholz eine Professur für Lebenslanges Lernen an der FernUniversität in Hagen.

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