John Dewey: Demokratie und Bildung als Lebensform

Tom Kehrbaum (Arbeitet beim Vorstand der IG Metall)

Die Aufgabe der Demokratie ist für immer die Schaffung einer freieren und humaneren Erfahrung, an der alle teilhaben und zu der alle beitragen. (John Dewey)[1]

John Dewey ist vermutlich der einzige Philosoph von Weltrang, der Vorsitzender einer Gewerkschaft war. Ein engagierter Philosoph und Pädagoge zu sein, der eine enorme Fülle an theoretischem Denkmaterial zu Papier brachte, geht bei Dewey untrennbar einher mit der politischen Praxis. Sie bildet den Ausgangs- und Bezugspunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit.

Gesellschaft und Wirtschaft sowie Bildung und Wissenschaft sind in Deweys Konzept Erfahrungsräume des Für-Einander-Handelns in dem sowohl die vielfältigen Bedingungen und Fakten, als auch die Werte und Fähigkeiten entstehen, um soziale Probleme zu lösen. Demokratie basiert bei Dewey auf der Lebensform des Menschen und ist ihre politische Ausgestaltung. Da das öffentliche Leben nicht nur aus ökonomischer Teilhabe bestehen kann, geht es in Deweys Demokratietheorie um die Sichtbarmachung geteilter Zwecke in einer Gemeinschaft und um die entsprechenden Weisen des Umgangs miteinander. Diese werden schon in der Erziehung aus- und vorgebildet. Deweys Einfluss reicht weltweit. Insbesondere Menschen, die über soziale Verbesserungen nachdenken und die Bildung dabei als ein wichtiges Mittel ansehen, lassen sich von seiner Arbeit inspirieren.

Deweys Leben

Um die Person eines Wissenschaftlers einzuführen, zählt man gewöhnlich die Stationen der akademischen Ausbildung und Wirkungsstätten auf. Bei John Dewey würde man damit beginnen, dass er am 20. Oktober 1859 in Burlington im US-Bundesstaat Vermont geboren wurde, wo er auch Philosophie, Geologie, Zoologie und Botanik studierte. Sogleich könnte folgen, dass er dort nach seinem Studium Lehrer am Gymnasium war.[2] Wohinter die Absicht steckte, ein Solidaritätsgefühl bei denjenigen Leserinnen und Lesern ins Schwingen zu bringen, die auch eigene Lehrerfahrungen haben und dadurch schon etwas mit Dewey teilen können. Seine Tätigkeit als Dozent an der Johns Hopkins University in Baltimore bliebe genauso unerwähnt – noch dazu, weil die »JHU« seit Corona-Zeiten einen weltweiten Bekanntheitsgrad erlangte – wie die zehn Jahre als Philosophiedozent in Michigan, wo er nach seiner Promotion in Philosophie im Jahre 1884 zur europäischen idealistischen Philosophie, zur Psychologie und zur Ethik publizierte.

Die Leitungsposition im Fachbereich für Pädagogik, Philosophie und Psychologie an der University of Chicago[3], wo er mit seiner Frau Alice die berühmte Laboratory School gründete, die lange Zeit als das Herzstück der fortschrittlichen Schulreformen in den USA galt, machte sich gut. Zu schreiben, dass er dann 1904 schließlich an die Columbia University in New York berufen wurde, wo er über seine Emeritierung im Jahre 1930 hinaus lehrte, rundete sein wissenschaftliches Leben prima ab. Danach könnte die enorme Fülle seiner 40 Bücher und 700 Aufsätze auch noch diejenigen beeindrucken, die sich trotz diesem vorzeigbaren akademischen Lebenslauf eine kritische Grundhaltung gegenüber »wissenschaftlichen Autoritäten« erhalten wollten.

Über das Leben John Deweys wäre damit natürlich nicht alles gesagt. Einen Blick auf sein sehr engagiertes politisches Handeln ist ebenso spannend wie erkenntnisreich. Denn Dewey war ein Philosoph und Pädagoge, dessen philosophisches und pädagogisches Werk – anders als etwa bei Rousseau und Heidegger – im Zusammenhang mit seinem persönlichen Verhalten nicht in Kritik gerät, sondern dadurch mehr Gewicht bekommt. Und ja, seine Philosophie wird durch die Kenntnis seiner politischen Betätigung sogar besser verstanden.

Dewey war aktives Mitglied des Nationalen Rat für höhere Bildung. Er arbeitete bei der Gewerkschaft Progressive Education Association mit und war dort zeitweise Vorsitzender; gleiches gilt für die amerikanische Lehrergewerkschaft (American Federation of Teachers, AFT), für die er in unterschiedlicher Funktion tätig war. Dewey engagierte sich stark in der Arbeiterbildung und gründete gar eine Gewerkschafts-Uni, das Brookwood Labor College in Katonah im US-Bundesstaat New York, in dem schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts alle Geschlechter und Ethnien zusammen Gewerkschaftsarbeit lernten und sich künstlerisch und musisch-ästhetisch bildeten.[4] Auch für die Rechte und Gewerkschaften anderer Berufsgruppen engagierte er sich stark. Oft war er auf Kongressen und Tagungen als Redner eingeladen.[5] Dewey arbeitete einige Jahre an der Gründung einer Arbeiterpartei (Workers Party) mit und setzte sich intensiv mit der sozialen Praxis sozialistischer Länder auseinander, so leitete er die Kommission zur Untersuchung des sowjetischen Schauprozesses gegen Leo Trotzki und verteidigte ihn gegen seine Ankläger.[6]

Es erscheint ebenso ironisch wie tragisch, dass Deweys Philosophie und Pädagogik in Deutschland oft als unkritisch bezeichnet wurde. Sie würde weder soziale Ungleichheit thematisieren noch einen Begriff von Herrschafts- und Kapitalismuskritik haben. Eine Kritik, die – eingedenk Deweys politischen Handelns – einen Gewerkschaftsvorsitzenden trifft, der zudem als Pädagoge in der Arbeiterbildung Menschen half, sich zu organisieren und zu bilden, um einen freien und humanen Sozialismus[7] selbst gestalten zu können. Wer sich Neugierde und Entdeckerlust durch manch unberechtigte Kritik an Dewey nicht rauben lässt und gleichzeitig an politischem Handeln interessiert ist, wird seinen Schriften viel abgewinnen können. Zum Beispiel schrieb er zur Berufsbildung 1916 in Democracy and Education:

„Jedes Konzept einer beruflichen Bildung, das von dem jetzigen industriellen Regime ausgeht und sich davon ableitet, wird wahrscheinlich seine Spaltungen und Unzulänglichkeiten annehmen und fortführen, und so ein Instrument zur Verwirklichung des feudalen Dogmas der sozialen Vorherbestimmung werden.“ (Dewey 1916, S. 318, Übersetzung von Tom Kehrbaum)

In The Public and ist Problems (Die Öffentlichkeit und ihre Probleme) schrieb er 1927:

„Die Ansicht, daß die Ökonomie die einzige Bedingung ist, die den ganzen Bereich der politischen Organisation beeinflußt, und daß die heutige Industrie zwingend nur einen, bestimmten Typ sozialer Organisation erfordert, war auf Grund des Einflusses der Schriften von Marx eine theoretische Frage. Aber, trotz der Revolution in Sovjetrußland, war es kaum eine unmittelbare praktische Frage der internationalen Politik. Nun wird sie endgültig zu einer solchen, und es gibt Anzeichen dafür, daß sie für die Bestimmung der Zukunft der internationalen politischen Beziehungen eine beherrschende Frage ist.“ (Dewey 1927/1996, S. 186)

Zum Thema „Demokratiebildung“ ist zudem interessant, das Deweys Schüler und guter Freund Sidney Hook – zeitlebens sowohl Marxist als auch Deweyist – den Begriff „Demokratie als Lebensform“ 1938 erstmals ausführlich beschrieb.[8]

Deweys Demokratiekonzept und die philosophischen Hintergründe

John Deweys wissenschaftliche, pädagogische und politische Arbeiten fanden in der Suche nach den Ursachen und Lösungen für die sozialen Probleme menschlichen Lebens ihre Bindeklammer. Theorie ist bei Dewey deshalb mit dem Bemühen gleichzusetzen, wirkungsvolle Denk- und Kommunikationsformen zu er-mitteln. Das Ziel: Das soziale Leben der Menschen soll offener, kooperativer und humaner gestaltbar sein.[9] Dewey ist ein Mitbegründer des philosophischen Pragmatismus, wodurch sein wesentliches Denkprinzip geprägt wurde. Ein Prinzip, dass von Problemlösungen ausgeht und die Analyse von Erfahrungen des scheiternden Handelns und den Konsequenzen des Handelns zu einer Strategie gesellschaftlicher Prozesse umformt. Daraus entwickelte Dewey seine Konzepte zur demokratischen Entwicklung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Deweys philosophisches Interesse galt zunächst der Europäischen Philosophie, insbesondere hatte er sich mit Hegel intensiv auseinandergesetzt. Der philosophische Pragmatismus ist als eine Absetzungsbewegung zu verstehen, die versuchte, die Widersprüche sowohl in der idealistischen als auch in der materialistischen Philosophie aufzulösen.  Beschreibt man diese zugespitzt, so führte der Materialismus zu einer deterministischen Weltsicht, in der sich nur noch die unausgesprochenen Gedanken frei bewegen konnten. Der Idealismus wiederum ließ den Gedanken so sehr freien Lauf, dass man sich sogar an imaginären Wänden – z. B. dem Erkennen absoluter Ideen – den Kopf zerbrechen konnte. Dabei schliefen oft die Füße ein, und so kam dem Idealismus mitunter die Praxis vollends ab-handen. Auch ihr Verhältnis zueinander war unversöhnlich. Das veranlasste die „Denkschulen“, Ideologien auszubilden, die nicht wenige Menschen soweit brachten, ihre jeweilige Weltanschauung auch mit Gewalt durchzusetzen.

Doch auch dort, wo mit Worten gekämpft wurde, wirkte sich die fehlende Konkurrenz für die beiden großen Philosophien als Kommunikationshemmnis aus, die zu vorschnellen Reflexionsabbrüchen führte. Erst die Philosophien des Existenzialismus und des Pragmatismus brachten neue Perspektiven. Während sich der Existenzialismus stark auf die individuelle Lebensgestaltung konzentrierte, schlug der Pragmatismus und Dewey eine systematische Verbindung individueller und kollektiver Interessen vor. Pragmatismus heißt im Griechischen Pragma; so sollte das menschliche Handeln in den Mittelpunkt philosophischer Betrachtung rücken. Genauer: das gemeinsame Handeln im Zusammenleben und Zusammenarbeiten; die alltäglich erfahrene Lebensform der Menschen.

Deweys versteht Demokratie als eine verbindende Praxis menschlicher Gemeinschaft. Deshalb stehen bei ihm Fragen der Wirtschaft, Politik und Bildung in enger Beziehung zu gemeinschaftlichen Handlungsweisen. Die gewöhnlichen Erfahrungen der Menschen bilden den Ausgangspunkt für mögliche Veränderungen, statt ferne Utopien, Leitideen oder theoretische Modelle wie z. B. der „Homo oeconomicus“, der dem klassischen Modell der Wirtschaftswissenschaften als Vorlage für die praktische Ausgestaltung des wirtschaftlichen Handelns dient. Man kann auch sagen: Theorien scheitern oft am realen Leben der Menschen, wenn sie nicht daraus entspringen und daran anknüpfen. Das z. B. das Modell des „Homo oeconomicus“ in der Praxis vielfach scheitert, zeigt schon die Entwicklung der weltweiten Arbeiterbewegung. Sie stellten dem Egoismus und der Rationalisierung(–smaßnahme) Solidarität und Kooperation entgegen.

Dewey schrieb: „Eine Philosophie, die nicht die ökonomischen Prozesse und ihre Auswirkungen auf die Menschen berücksichtigt, ist eine weltflüchtige intellektuelle Freiübung.“[10] So zeigt der Bezug auf die Ökonomie zudem, dass menschliche Handlungsweisen in unvorhersehbare gesellschaftliche Prozesse eingebunden sind.[11] Deshalb sind Handlungen –  und die ihnen zugrundeliegenden Ideen, Werte und Prinzipien, Ziele und Zwecke sowie die Mittel, um diese zu erreichen – in jeder konkreten Problemsituation gemeinsam zu hinterfragen:

  • Können wir das Problem mit den gleichen Handlungsweisen lösen, die sie bewirkt haben?
  • Müssen wir unsere handlungsleitenden Werte und Prinzipien überprüfen und ändern?
  • Haben wir die notwendigen Mittel, um das Ziel zu erreichen?
  • In welchem Verhältnis stehen Mittel und Zwecke?
  • Wie müssen sich die Mittel verändern?
  • Und, was soll die Kritik?

Menschliches Leben als demokratische Praxis und Bildung

Weil menschliches Handeln durch die Entwicklung einer komplexen Sprache in gemeinsame Interpretationspraktiken eingebunden ist, haben sich unterschiedliche Kulturen der Gemeinschaft erst herausbilden können. Immer geht es jedoch um ein Ziel: die – wie auch immer organisierte – gemeinschaftliche Fürsorge.[12] Problemlösen, sei es hinsichtlich der Ernährung, des warmen, trockenen und sicheren Wohnens oder des Umgangs mit Bedrohungen, steht schon weit vor dem verbliebenen Homo sapiens im Mittelpunkt menschlicher Lebensweisen. Kulturen entsprangen oft der kreativen Lösung eines Problems und das neue Wissen und die neuen Fähigkeiten wurden durch Von-, Für und Miteinanderlernen weitergegeben.[13] Das Soziale wurde für Dewey deshalb zur zentralen philosophischen Kategorie, weil der Mensch durch die Entwicklung der Sprache und seiner Kommunikationsfähigkeit zu einem sehr intensiv und rege interagierenden Wesen geworden ist. Gemeinschaftliches Handeln mit geteilten Absichten wurde zum primären Erfahrungs-, Lern- und Lebensraum.

Aus dem Handeln –  das entwicklungsgeschichtlich betrachtet dem symbolischen und komplexen Denken vorausging – können sowohl Interesse und Erkenntnis als auch Beurteilungs- und Kritikfähigkeit abgeleitet werden. Durch gemeinsames Leben und Handeln wurden nicht nur die Fähigkeit zum moralischen Verhalten entwickelt, sondern auch die Fähigkeit zur reflektierten und begründeten Verhaltensänderung. Eine gemeinsame Handlungsproblematik und geteilte Werte, Ziele und Zwecke stehen deshalb für Dewey im Zentrum sowohl für die freie kulturelle Entwicklung als auch für eine humane Bildung.

Alle Probleme der Menschen haben soziale Bezüge, womit sie zum praktischen Anlass für demokratische Lernprozesse werden können. Der starke Begriff des gemeinsamen Entwickelns geteilter Ziele und Zwecke, der Möglichkeit, dass alle Menschen zu ihrer Formung beitragen können und der Verankerung dieses Prozesses in der Lebensform und Erziehung von Menschen, ist das Charakteristikum von Deweys Demokratie-Bildungs-Theorie. Dewey hat diese systematisch und vielschichtig ausgearbeitet.[14] Im Folgenden möchte ich nur drei dieser zahlreichen Konzepte kurz darstellen.

In der menschlichen Lebensform sind die Grundzüge der Demokratie angelegt: Menschliches Leben ist Teil der Natur, in der Interaktion und Zufall immer wieder neue Situationen hervorbringen. Gemeinschaftliche und gesellschaftliche Prozesse sind deshalb von ungewissem Verlauf und menschliches Zusammenleben von Ungewissheit geprägt. Früh haben Menschen angefangen, sich darüber zu verständigen.[15] Mündigkeit ist durch die Sprache und den kommunikativen Fähigkeiten der Menschen sowohl zu einer Wesenseigenschaft als auch zu einem Anspruch geworden. Meinungsfreiheit ist so betrachtet ein Recht darauf, Probleme in aller Öffentlichkeit zu besprechen und zu verhandeln. Eine wichtige Aufgabe der Politik ist deshalb, die umfassenden Bedingungen dafür herzustellen, und Hemmnisse abzubauen, um diese öffentliche Kommunikation von Problemen vollumfänglich zu ermöglichen.[16]

Politische Handlungsfähigkeit durch Kommunikation und Interaktion: Begriffe und ihre Bedeutung – die für die Kommunikation und Beurteilung von problematischen Situationen nötig sind –  lassen sich klären, indem Menschen gemeinsam die Folgen bestimmter Handlungen betrachten. Indem sie gemeinsame Zwecke in den Mittelpunkt stellen und bisheriges und zukünftig verändertes Handeln auf ihre Konsequenzen hin prüfen, werden sowohl gemeinsames Interesse als auch Verantwortung sichtbar.  Erkenntnisse, Bewertungen und Absichten werden dabei gemeinsam ermittelt und abgestimmt, wodurch Sicherheit und Vertrauen entsteht, um den Handlungsraum für experimentelles Ausprobieren zu öffnen.[17]

Kritik ist die Anwendung von Werten im Zuge von Handlungsstrategien: Bei einer Problemlösung werden Ziele und Mittel nicht getrennt voneinander betrachtet und bestimmt. Erst die Bestimmung der Mittel, die eingesetzt werden, um Ziele zu erreichen, gibt darüber Aufschluss, ob das Ziel erstrebenswert ist und bestehen bleiben soll. Wie z. B. das Ersetzen von Atomkraftwerken durch Windkraftwerke oder fossile Brennstoffe durch Strom. Werte – die auch Ziele sein können – sind dabei nicht getrennt von Fakten zu betrachten. Eine „echte“ Problemsituation enthält deshalb notwendig sowohl Werte als auch Fakten. Werden keine Werte zur Beurteilung der Situation benötigt, dann handelt es sich nicht um ein Problem, bei dem es auch um allgemeine Normen geht. Braucht man keine Fakten, so besitzt das Problem keine Handlungsrelevanz.[18] Prinzipien und moralische Werte ermöglichen die kritische Beurteilung der Situation; sie bilden im Zusammenhang mit Fakten erst die Urteilskraft aus. Deshalb sind Werte und Prinzipien bei jeder Problemlösung relevant und müssen offengelegt werden. So kann aus historischer Perspektive sichtbar werden, welche Werte sich bewähren und welche neu zu überdenken sind. Jede Situation bleibt deshalb grundsätzlich offen für Kritik, weil immer eine noch bessere Praxis möglich sein kann. Kritik ist somit gleichzusetzen mit der ständigen Suche nach besseren Lösungen für soziale Probleme.

Die beste Kur für die Leiden der Demokratie: mehr Demokratie[19]

„Das klare Bewusstsein eines gemeinschaftlichen Lebens, mit allem, was sich damit verbindet“, schreibt Dewey, „konstituiert die Idee der Demokratie.“[20] Für die Praxis dieser Lebensform brauchen Menschen Gemeinschaften sowie Anlässe, Möglichkeiten, Orte und Räume, um im gemeinsamen Gespräch von Angesicht zu Angesicht Beteiligte und Betroffene zu Wort kommen zu lassen. Sie machen damit eine Situation zum Gegenstand der Verhandlung, indem sie sie gemeinsam kritisch betrachten. Die demokratische Organisation einer Gesellschaft fängt nach Dewey mit den Erfahrungen in lokal handelnden Praxisgemeinschaften an, wie sie in der Schule, der Ausbildung, im Studium und am Arbeitsplatz Bestandteil des alltäglichen Zusammenlebens sind. Können sich dort, die in der menschlichen Lebensform angelegten demokratischen Tugenden nicht entfalten, dann wird es schwierig, sie als Bestandteil eines Staatsmodells zu postulieren, das den Bürgern demokratisches Verhalten abverlangt.

Wird die menschliche Lebensform als eine im Grunde politische Praxis erkannt und werden die Menschen nicht als soziale und politische Mangelwesen betrachtet, so ist eine demokratische Organisation von lokalen Praxisgemeinschaften ein leicht lösbares Problem.  Betriebsräte und Vertrauensleute in örtlichen Betrieben zeigen z. B. schon längst, dass durch Beteiligung und Mitbestimmung genau die für eine Demokratie unerlässlichen persönlichen Eigenschaften und fachlichen Fähigkeiten entstehen: Mut zur Kritik, Respekt und Anerkennung, Solidarität und Toleranz, Durchsetzungskraft und Kompromissfähigkeit sowie des Wissens und Könnens, um kooperativ Probleme zu lösen. Demokratische Institutionen wie Parlamente, Gesetze, Polizei, Tarifautonomie, Schulen oder Industriekammern werden dann nicht als fremdbestimmende Staatsgängelung verkannt, sondern als Ergebnisse von politischen Verbesserungsprozessen, an denen man direkt oder indirekt beteiligt ist.

Institutionen können so produktiv und lebhaft kritisiert, ausgebaut und auch verteidigt werden. Repräsentanten/innen werden dann mit einer Problemlösung betraut, weil man darauf vertraut, dass diese – wie im vor Ort erfahrenen Gemeinschaftssinn – im Gemeinsinn handeln können. Institutionen entwickeln sich in einer solch lebendigen Demokratie zu einem Mittel des souveränen Umgangs mit Zufall und Ungewissheit. Schon oft haben z. B. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gezeigt, wie flexibel, modern und richtungsweisend die Institution der Tarifautonomie zur Konflikt- und Problemlösung genutzt werden kann.

Demokratiebildung

Deweys Bildungskonzept strebt danach, sämtliche Hemmnisse abzubauen, die eine freie Kommunikation und Interaktion und somit geteilte Erfahrungsmöglichkeit in Handlungsprozessen verhindern. Solche Hemmnisse bestehen z. B. in unhinterfragten Routinen und Gewohnheiten im Denken und Handeln oder in hierarchischen Ordnungsstrukturen, die den Informationsfluss hemmen. Alles, was den Prozess der Lernbefähigung im Miteinander der Menschen behindert, soll problematisierbar sein. Reflexionsprozesse werden bei Dewey nicht durch Ideologien oder Fachgrenzen beschränkt, sondern richten sich an realen Problemen der Arbeit und des Lebens der Menschen in ihrer jeweiligen Gemeinschaft aus. Bildung und Handlung werden so zu einem lebensdienlichen Erfahrungsprozess und Demokratie zu einer Lern- und Lebensform.

Der Zweck von Bildung besteht darin, ständig gemeinsam weiterlernen zu können, denn der Prozess gesellschaftlicher Entwicklung wird immer neue Problemkonstellationen hervorbringen. »Demokratiebildung« bringt deshalb den inneren Zusammenhang von Demokratie und Bildung zum Ausdruck: Sie ist eine politische Handlungsstrategie der Problemlösung, die als kooperativer Lernprozess angelegt ist.[21] Dewey ist der Auffassung, dass Menschen nicht wissen, was ihre Interessen und Bedürfnisse sind oder wozu sie fähig sein werden, bevor sie sich politisch engagieren. Deshalb kann es auch keine endgültige Antwort auf die Frage geben, wie Menschen leben sollten. Dies sollte eben stets der Diskussion und dem Erproben überlassen werden. Genau dafür brauchen wir Demokratie.[22]

In Deweys Demokratie wird konsequent beteiligt und mitbestimmt. Damit traut er den Menschen vieles zu. Zutrauen – das, wie ich finde, beste pädagogische Mittel – wird oft auch als Zumutung empfunden. Demokratie zu leben und zu verteidigen, braucht diese Zumutung. Gerade in einer Zeit, in der viele Angst haben, sich anzustecken, sei deshalb gesagt, dass Mut ebensolche ansteckende Wirkung hat.

Schluss

Folgen wir Dewey, so gibt eine zahlreiche und engagierte Beteiligung an Gemeinschaftsprojekten darüber Aufschluss, ob eine Demokratie eher als Lebensform verstanden wird und im alltäglichen Leben der Menschen gründet und erfahrbar ist, oder lediglich als Staats- und Regierungsform und somit als Ordnungsidee einer Gesellschaft angesehen wird. Es stimmt hoffnungsfroh, dass angesichts antidemokratischer und antipolitischer Bewegungen, in denen das Vertrauen in den Staat mit all seinen Institutionen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien stark abgenommen hat, Deweys Philosophie wieder verstärkt aufgegriffen wird.[23] Am spannendsten wird dabei sein, wie Deweys Auffassung von Kritik und der Bedeutung des Zusammenhangs von Fakten und Werten fruchtbar gemacht werden kann. Für die öffentliche Kommunikation wissenschaftlicher Fakten im Rahmen demokratischer Auseinandersetzungen birgt allein dieses Konzept aktuell ein immenses Entwicklungspotenzial.

Dem Pragmatismus ist als Philosophie zu wünschen, dass ihre Bedeutung für die Demokratisierung sämtlicher Bildungsprozesse erkannt wird und der Handlungs- und Praxisbezug zu einem didaktischen Bestandteil jeder Lehr- und Lerntheorie wird.[24] Dies fördert eine Integration allgemeiner, beruflicher, akademischer sowie politischer Bildung, deren Lerngegenstände dann ganz nah dran sind an allem was Menschen wichtig ist. So kann Demokratie und Bildung als Lebensform zu einer sprudelnden Quelle dringend benötigter technologischer, ökonomischer und sozialer Innovationen werden; vorausgesetzt, wir Menschen können uns wieder nahestehen.

[1] John Dewey, 1936, in: “Creative democracy: The task before us”, John Dewey: The later works, 1925-1953, vol. 14, ed. by J. Boydston et. al. Carbondale: Southern Illinois University Press, p. 230. Übersetzung von Tom Kehrbaum.

[2] Pape 2008, S. 157ff

[3] Ebd.

[4] Pape/Kehrbaum 2019, S. 67ff

[5] Ebd., S. 77.

[6] Dewey setzte sich intensiv mit Trotzkis Positionen auseinander. Z.B.: Dewey (1938 in: Dewey, Kautsky, Trotzki 2001, S. 161ff): Mittel und Zwecke. Ihre Wechselbeziehungen und Leo Trotzkis Essay »Ihre Moral und unsere«.

[7] Vgl. Pape/Kehrbaum 2019, S. 67ff und auch Honneth 2015. Man kann auch sagen, dass Dewey vor hundert Jahren schon Thomas Pikettys „partizipativen Sozialismus“ vorweggenommen hat, den dieser in seinem Buch „Kapital und Ideologie“ vorschlägt (vgl. Piketty 2020, S. 1185ff).

[8] Sidney Hook: Democracy as a Way of Life, Erstveröff. 1938, in: Southern Review, Vol. 4, 1938, S. 45-57 und 1940, in: Sidney Hook: Reason, Social Myth and Democracy, Cosimo Classics, New York 2009/1940

[9] Weil Dewey Sprache, Begriffe und Wörter deshalb manchmal als Instrumente – also Mittel – zur Erlangung dieses Ziels bezeichnete, wurde seiner Philosophie abwertend einen instrumentellen Charakter zugeschrieben (vgl. Horkheimer 1967).

[10] Im original: “Philosophy which does not take into account the economic enterprise and its human consequences is an escapist intellectual gymnastic” (John Dewey, LW 1, S. 360, Übersetzung von Helmut Pape).

[11] Wenn die letzte Finanzkrise diese Einsicht nicht in die Wirtschaftswissenschaften hat vordringen lassen, dann hoffentlich die Corona-Krise.

[12] Selbst der extreme Liberalismus denkt an die Gemeinschaft, wie folgender Un-Sinnspruch zeigt: „Wenn jeder für sich selbst sorgt, dann ist am Ende für alle gesorgt“

[13] Vgl. Tomasello 2010

[14] Z. B.: Dewey 1995, 2019

[15] Vgl. z. B.: Tomasello 2002, 2009

[16] Dewey 2019, S. 45ff

[17] Vgl. Festl 2015

[18] Vgl. Festl 2018, S. 141f

[19] Vgl. Dewey 1996, S. 127

[20] Dewey 1996, S. 129

[21] Deweys pädagogisches Hauptwerk „Democracy and Education“ von 1916 wäre dessen Intention nach besser mit „Demokratie und Bildung“ ins Deutsche übersetzt worden (vgl. Pape/Kehrbaum, 2019, S. 21). Denn Dewey betont, dass erst der eigene Beitrag zum gemeinsamen Problemlösungsprozess »Erfahrung« ermöglicht. Eine ebenso falsche – mit ihrem Sarkasmus aber eher Deweys Intention zum Ausdruck bringende – Übersetzung wäre dann: „Demokratie oder Um-Erziehung“. Dewey hatte indoktrinierende Erziehungssysteme stets kritisiert – sowohl „kommunistische“ als auch „kapitalistische“ (vgl. Dewey 2019).

[22] Vgl. Hilary Putnam in Pape/Kehrbaum 2019, S. 27

[23] Vgl.: z.B. Faulstich 2005 u. 2013, Henkenborg 2009, Scherb 2014 und Kehrbaum 2020, die Ansätze einer pragmatistischen Didaktik im Zusammenhang mit politischer Bildung entwickelt haben.

[24] Z.B.: http://gerprag.net/

Dewey, John (1916): Democracy and education, The Free Press, New York

Dewey, John (1995): Erfahrung und Natur, Suhrkamp, Frankfurt am Main

Dewey, John (1996): Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, Philo Verlag, Bodenheim (Erstveröff. 1927)

Dewey, John (2002): Logik, Die Theorie der Forschung, Suhrkamp, Frankfurt am Main

Dewey, John (2019): Sozialphilosophie. Vorlesungen in China 1919/20, Suhrkamp, Berlin

Dewey, John: The Later Works (LW): 1925–1953 (17 Bände)

Dewey, John/ Kautsky, Karl/Trotzki, Leo (2001): Politik und Moral. Die Zweck-Mittel-Debatte in der neueren Philosophie und Politik, Hrsg. von Ulrich Kohlmann, zu Klampen, Lüneburg

Faulstich, Peter (2005): Lernen Erwachsener in kritisch-pragmatischer Perspektive, in: Zeitschrift für Pädagogik 51/4, S. 528–542, Beltz-Verlag, Weinheim

Faulstich, Peter (2013): Menschliches Lernen, Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie, transcript, Bielefeld

Festl, Michael G. (2015): Gerechtigkeit als historischer Experimentalismus, Gerechtigkeitstheorie nach der pragmatistischen Wende der Erkenntnistheorie, Konstanz University Press, Konstanz

Henkenborg, Peter (2009): Demokratie-Lernen – Eine Philosophie der politischen Bildung, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP), 38. Jg. (2009) H. 3, 277–291

Honneth, Axel (2015): Die Idee des Sozialismus, Versuch einer Aktualisierung, Suhrkamp, Berlin

Horkheimer, Max (1967): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Fischer, Tübingen

Kehrbaum, Tom (im Erscheinen): Interaktion und politische Handlungsfähigkeit. John Deweys Philosophie des Sozialen und ihre Bedeutung für die Weiterentwicklung gewerkschaftlicher Bildung. Wochenschau Verlag, Frankfurt am Main

Pape, Helmut/ Kehrbaum, Tom (2019): John Dewey. Über Bildung, Gewerkschaften und die demokratische Lebensform. Hrsg.: Hans-Böckler-Stiftung. Reihe: Study Nr. 421. Düsseldorf 2019, https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_421.pdf“

Piketty, Thomas (2020): Kapital und Ideologie, C.H. Beck, München

Scherb, Armin (2014): Pragmatistische Politikdidaktik. Make it Explicit, Wochenschauverlag, Schwalbach/Ts.

Tomasello, Michael (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens – Zur Evolution der Kognition, Suhrkamp, Frankfurt am Main

Tomasello, Michael (2009): Die Ursprünge menschlicher Kommunikation, Suhrkamp, Frankfurt am Main

Tomasello, Michael (2010): Warum wir kooperieren, Suhrkamp, Frankfurt am Main

Autor

  • Tom Kehrbaum, geboren 1971, war Industriemechaniker, studierte an der Europäischen Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main, danach Berufspädagogik und Philosophie in Darmstadt. Er war Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall in Karlsruhe und arbeitet heute beim Vorstand der IG Metall. Dort leitete er transnationale Bildungsprojekte und entwickelt den Wissenschaft-Praxis-Transfer. Derzeit promoviert er an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg über den Zusammenhang von zwischenmenschlicher Interaktion und politischer Handlungsfähigkeit in der Erwachsenbildung.

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