Jörg Ferrando (IG Metall)

Als Ausgangspunkt dient uns die Frage, wie sich die curricularen Anforderungen der Facharbeiterausbildung vor dem Hintergrund der „Transformation“, insbesondere der sogenannten Digitalisierung der Arbeitswelt ändern müssen. Die Gewerkschaften haben dabei die Position eingenommen, dass für die Bewältigung der absehbaren Aufgabenstellungen mehr erforderlich ist als Kenntnisse zum Umgang mit Daten und einige, wenn auch wichtiger werdende Soft skills. Die neuen Standardberufsbildpositionen finden sich in diesem Geiste gestaltet – ein guter Anfang. Wenn die Algorithmen versagen, brauchen die Facharbeiter starke Nerven und noch stärkere Kompetenzen zur Problemlösung, zur Kommunikation und zur Kollaboration mit anderen. Dies alles in einem Ausmaß, dass wir heute nicht regelhaft in der beruflichen Bildung erreichen.

Was es bisher an Ansätzen bereits gab, bündelt die Broschüre „Wir bilden Persönlichkeiten“, die fünf typische Wege identifiziert und beschreibt, Tipps zur Einführung und Umsetzung gibt und vor allem für die betriebliche Praxis der Betriebsräte, Vertrauensleute und Weiterbildungsmentoren hilfreich sein soll. Als ein Beispiel für die vielfältigen Initiativen „Vom Ausbilder zum Coach“ soll hier an das „Ausbilderprofil der IHK Frankfurt am Main erinnert werden. Diese Ausgabe von denk-doch-mal.de versteht sich als Vertiefung und Erweiterung der mit der Broschüre begonnenen Initiative für die Stärkung der Persönlichkeitsentwicklung in der beruflichen Bildung. Und in der Tat haben sich sehr spannende Einsichten ergeben.

Prof. Dr. Werner Sauer antwortet in seinem Beitrag „Gezielte Entwicklung von Persönlichkeiten?“ auf unsere Ausgangsfrage mit einer zunächst verblüffenden Wendung: Die curricularen Anforderungen müssen sich nicht ändern, weil die uns bekannten Curricula in Zukunft gar nicht mehr benötigt werden. Menschen lernen und behalten das Gelernte durch selbst gemachte und mit Emotionen verbundene Erfahrungen. Folglich sollten diese Lerngelegenheiten letztlich auch im Betrieb geschaffen und systematisch gefördert werden. Er stellt den wissenschaftlichen Stand zum Thema Persönlichkeit anschaulich dar und klärt erfreulicherweise darüber auf, dass es zwar unterschiedlich leicht zu beeinflussende Merkmale einer Persönlichkeit gibt; letztlich kommt er aber zum Schluss, dass die Aspekte, die für die Arbeitswelt entscheidend sind, gleichzeitig jene sind, die nach Ansicht der Hirnforschung und der Neurobiologie am leichtesten verändert werden können: Kompetenzen und Haltungen bzw. Werte. Die Ansicht, dass humane Persönlichkeit naturgegeben und kaum veränderbar sei, lässt sich nicht weiter aufrechterhalten. Investitionen in Persönlichkeitsentwicklung sind lohnenswert! Prof. Sauter skizziert einen Weg, wie eine seinen Erkenntnissen folgende Lernkultur im Betrieb aussehen kann und wie sie aus Sicht einer betrieblichen Personalentwicklung gestaltet werden sollte. In diesen stark mitbestimmungspflichtigen Fragen dürften Betriebsräte, Vertrauensleute und Weiterbildungsmentor*innen noch ergänzende Vorschläge haben, darf vermutet werden.

Individuelle Lernbegleitung ist unbestritten der Königsweg bei der Förderung von Persönlichkeitsentwicklung. Seit zehn Jahren geht die Bundesagentur für Arbeit diesen Weg in ihrer internen Weiterbildung. Sie bringt das Lernen dorthin, wo es benötigt wird: an den Arbeitsplatz. Hier findet tatsächlich systematisch arbeitsintegriertes Lernen statt. Gelernt wird, was man nicht in externen Lehrgangsangeboten vermitteln kann. Zukunftskompetenzen entwickeln sich und Werthaltungen werden reflektiert. Probleme lösen und Lernen gehen Hand in Hand. „Schwimmen lernt man nur im Wasser.“ Diese Methode erfordert ein Einvernehmen aller Beteiligten, eine explizite Lernkultur. Wie das geht, zeigt uns Dr. Barbara Burger in ihrem Beitrag „Wo Arbeiten komplexer wird, muss Lernen ganzheitlich sein“. Vieles von dem hier beschriebenen erinnert an die Vorschläge, die Prof. Sauter macht.

Nicolas Schrode beschreibt in seinem Beitrag „Berufsbildung und Persönlichkeitsentwicklung in Zeiten Künstlicher Intelligenz“ die Chancen, die sich bieten, wenn Berufsbildung Persönlichkeiten gezielter als bisher bilden möchte. Er ist darauf gestoßen, dass hier geradezu der Schlüssel für das Bestehen der Facharbeit gegenüber der Brave New World mit der sogenannten künstlichen Intelligenz liegt. KI wird niemals kreativ sein, intuitiv handeln und sich explorativ an selbst reflektierten und damit verbindlich gewordenen Werten orientieren. Die KI kann aber besser rechnen als wir. Persönlichkeiten entwickeln sich über ihr gesamtes Leben. Lassen wir also KI die langweiligen Dinge tun, wir sind dann mal kreativ, so malt Nicolas Schrode ein schönes, freieres Bild von der Zukunft, auf die man sich nur freuen kann. Ob sich auch die Mitmenschen freuen, die bisher davon erfüllt sind, Auskünfte über Regeln und Grenzen zu diesem oder jenem zu geben, steht auf einem anderen Blatt. Deren Arbeitsplätze sind vermutlich bald nicht mehr vorhanden. Wir werden bald über Zumutungen sprechen, die von überzogen hohen Ansprüchen an unsere Kreativität getriggert werden.

Einen ebenfalls optimistischen Blick in die Zukunft wagen Anke Muth, Daniel Friedrich und Jörg Ferrando in ihrem „Diskussionspapier für mehr Persönlichkeitsentwicklung in der Ausbildung!“. Hier lassen sie sich von der Hoffnung leiten, dass die auch von Unternehmen kaum noch zu bestreitende Notwendigkeit zu mehr Persönlichkeitsentwicklung zu einer allmählichen Überwindung des Bildungsschismas führen kann. Anlässlich der Novellierung der Standardberufsbildpositionen beschreiben sie die fragile Mensch-Maschine-Beziehung und leiten daraus die Erkenntnis ab, dass stabile und kreative Persönlichkeiten nunmehr am Arbeitsplatz auf keinen Fall weniger bedeutsam sind als im angestammten Milieu des Humanismus in Gymnasien und Universitäten. Der Blick über den Betrieb hinaus und in die Verwerfungen und Krisen unserer Zeit lässt erahnen, dass davon auch die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft profitieren würde.

Das alles ist im Grunde keine neue Debatte. Prof. Dr. Franz Kaiser erinnert uns in seinem Artikel „Ein kritischer Blick auf Berufsbildung und Persönlichkeitsentwicklung in einer „neuen Arbeitswelt““ an die Schlüsselqualifikationen der 70er, an die folgende Kompetenzdiskussion. Aber er warnt eindringlich, nicht das Umfeld zu vergessen, in dem das alles stattzufinden hat. Im Kapitalismus werde Freiheit zum ökonomisch deformierten Zwang zur Selbstoptimierung. Spätestens bei der Forderung nach Employability beginnt es vielen von uns zu gruseln. Zu viel Offenheit der Bildungsziele führt zu Orientierungslosigkeit in der Frage, was denn das zu Lernende sein soll. Wenn die Werte, an denen wir uns orientieren, nicht die eigenen, sondern lediglich als vorteilhaft empfundene sind, dann funktioniert das Freisein nicht. Es folgen Überforderungen und die Ausweitung von psychischen Krankheiten. Die kapitalistische Deformation ist so tief in unseren Köpfen verankert, dass der Weg zur Persönlichkeit steiniger und weiter ist als erhofft. Es führt kein Weg vorbei an der Befreiung von dieser „Denke“. Ein hierbei verblüffend hilfreiches Verständnis von beruflicher Handlungsfähigkeit ermöglicht deren Betrachtung mithilfe der themenzentrierten Interaktion. Berufe sind übrigens noch immer ein wichtiger Aspekt einer Persönlichkeit. Auch wenn es kompliziert ist, es gibt auch für die Gesellschaft keinen anderen Weg, den wir gehen können. Nur mündige Bürger stehen für die Demokratie ein. Mündig wird, wer sich dem Diktat der Beschleunigung widersetzt und eine Kultur der Muße entwickelt.

Claudia Munz verlässt mit uns den Betrieb und zeigt in ihrem Beitrag „Schule zur Lebensbewältigung – Wie Reparieren die Persönlichkeitsbildung junger Menschen fördert“ wie unser Thema in einer Schule aufgegriffen werden kann. Auch hier gilt: „… Persönlichkeitsbildung lässt sich nicht lehren oder vermitteln. Dafür werden Lebens- und Lernsituationen gebraucht, in denen sich die Person handelnd mit Herausforderungen auseinandersetzt und daran neue Einsichten, Fähigkeiten, Werte und Handlungsweisen entwickelt…“ Die Voraussetzung für den Erfolg: Die Herausforderungen müssen echt sein. Üben im „abgesicherten Modus“ hilft nicht, wenn die Erfahrung von Selbstwirksamkeit gemacht werden soll. Im echten Leben entwickeln sich echte Kompetenzen.

Denkt man, dass das Hineinwachsen in die Praxisgemeinschaft vornehmlich im Handwerk stattfindet, wird von Sibylle Tollkötter im Interview mit Uta Kupfer „Ausbildung im Betrieb entwickelt die Persönlichkeit“ eines Besseren belehrt. Auch in den Justizbehörden findet das genauso statt. Kompromisse einzugehen lernt man zumeist nicht in der Schule, zusammenarbeiten mit Kollegen sowie Eigenverantwortung übernehmen auch nicht. Die Auszubildenden am Amtsgericht waren sicherlich nicht in der Schule, die Claudia Munz zuvor beschrieben hat – aber in einer Schule, die die meisten von uns wohl kennengelernt haben. Ausbildungsverantwortliche müssen zunächst authentisch ein, müssen vorleben, was vermittelt werden soll. Und wenn sie keinen Sinn erkennen, kommen die Jugendlichen auch nicht zur Ausbildung. Das soziale am Lernen, die Interaktion mit anderen spielt eine große Rolle. Kommunikation hat mehr Aspekte als sich in virtuellen Meetings abbilden lässt. Ausbildung bildet durch Interaktion richtig durchgeführt die Persönlichkeit. „Bein Umgang mit rechtssuchenden Bürgern müssen sie zuhören, müssen erkennen und verstehen, emphatisch auf den Menschen eingehen…“ „Das unterscheidet die Berufsbildung auch vom Studium.“ Hinzufügen möchte man: und von dem, was die KI kann!

Autor

  • Jörg Ferrando ist Diplom-Politologe und arbeitet seit 2002 als Gewerkschaftssekretär im Ressort Bildungs- und Qualifizierungspolitik beim Vorstand der IG Metall. Aktuelle Schwerpunkte sind die IT-Berufe und das IT-Weiterbildungssystem, Standardberufsbildpositionen, europäische Bildungspolitik, arbeitsprozessorientierte Weiterbildung und das Konzept der Bildungsberatung und –begleitung durch gewerkschaftliche Weiterbildungsmentoren.

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