Nicolas Schrode (Dipl. Soziologe, Forscher, Berater und Weiterbildner bei der GAB München)

Denk doch mal darüber nach, wie die moderne Berufsbildung heute Persönlichkeitsentwicklung fördern kann, und inwieweit sie das auch tun muss! …in einer Arbeitswelt , in der immer stärker Künstliche Intelligenz (KI) ihren Einzug hält. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Veränderungen, die sich durch KI andeuten, zu einem weiteren Bedeutungszuwachs der Förderung sozialer und personaler Kompetenzen führen werden. Ebenso werden Ansätze einer Kompetenzentwicklung an Bedeutung gewinnen, die gleichzeitig auch als Persönlichkeitsentwicklung gestaltet ist. Warum? Weil genau in diesen Feldern KI nie eine Chance haben wird und darin zugleich die größten Chancen zukünftiger Mensch-Maschinen-Kollaboration liegen: KI übernimmt das, was uns ohnehin lästig war, und wir haben dadurch mehr Möglichkeiten und Zeit, unsere Subjektfähigkeiten zu entfalten. Klingt doch gut, oder?

Im Beitrag wird zunächst gefragt, was beruflich qualifizierte Fachkräfte heute eigentlich können müssen, was KI nicht (lernen) kann, um dann daran anschließend einige Aspekte dazu anzuführen, was Berufliche Bildung zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen kann.

… Denk doch mal rein in diese Perspektive und lasse dich inspirieren!

1. Was müssen Fachkräfte überhaupt können, was KI nicht (lernen) kann?

Nahezu allen Prognosen nach wird KI viele derjenigen Arbeitstätigkeiten ersetzen können, in denen gut-strukturierte Daten vorliegen oder geschaffen werden können. Damit ist es nur eine Frage der Zeit, bis Arbeit die „algorithmisierbar“ ist – jede Arbeit also, die sich in wiederholende Schemata transformieren lässt – von KI übernommen wird. Es wird dann beispielsweise immer normaler, dass Maschinen Nachrichten verfassen, buchhalterische Vorgänge durchführen oder auch andere Maschinen programmieren. Manchen macht das Angst, andere freuen sich, endlich Zeit für die „wirklich wichtigen Dinge“ zu haben: für diejenigen Tätigkeiten, die eben nur Menschen können und in denen sie ihre Subjektfähigkeiten voll einbringen und entfalten können. Auch dabei können sie sich dann sehr wohl von KI-basierten Tools unterstützen lassen. Warum sollte man auch nicht, bevor man sich den Kopf zerbricht, wie ein Bug in einem Softwareprogramm behoben werden kann oder welche Kommunikationstechniken für Mitarbeitergespräche es gibt nicht einfach einen KI-basierten Chatbot wie ChatGPT fragen? Nicht allerdings, da dieser für alles die richtige Antwort hat, aber, weil er Fährten legt, die einem helfen könnten, zu guten Lösungen zu kommen. Man könnte sagen: Big Data is inspiring Data! Was der gut gefütterte Chatbot sagt, kommt nicht von ungefähr, sondern beruht auf weit verbreiteten Perspektiven.
Was man als Fachkraft dann können sollte: Sich inspirieren lassen! Und das heißt eben, die Informationen, die der Bot einem flüstert, kritisch hinterfragen, einordnen, gegenchecken und die Informationen, die tatsächlich wertvoll für einen sind, kreativ und findig weiterverwenden können.

  • 1. Fachkräfte müssen mit Wissen umgehen und ihr Denken überdenken können

Sobald KI sich dann auch nicht mehr so häufig irrt wie in ihren derzeitigen Kinderschuhen, aus denen sie schnell herauswachsen wird, wird es noch unwichtiger als bisher, selbst ein breites Wissen i.S. von Auswendiggelerntem und Gemerktem zu haben. Umso wichtiger wird hingegen die eben beschriebene Fähigkeit mit Wissen(sangeboten) umgehen zu können. Denn auch die besttrainierten KI-Programme werden zum einen weiterhin gelegentlich Fehlinformationen liefern, zum anderen werden sie auf viele Fragen eine relativ große Bandbreite an möglichen Antworten zusammenkombinieren. Von der einzelnen Fachkraft wird daher gefordert sein, zum einen filtern zu können, welche Informationen, die ihr gegeben werden, erstens plausibel und zweitens brauchbar sind. Zum anderen muss diese „Brauchbarkeit“ von den Fachkräften hergestellt werden. Die Brauchbarkeit ist nicht einfach da, sondern muss „gemacht“ werden – hier ist dann etwas gefragt, das sich Kreativität nennt!

  • 2. Von Fachkräften ist heute Kreativität gefragt

Ganz besonders wichtig wird Kreativität, wenn Fachkräfte vor Herausforderungen und Problemen in ihrer Arbeit stehen, die so noch nicht bekannt sind. Für solche offenen Situationen gibt es keine passenden fertigen Instrumente. In diesen Fällen sind sie gefragt, sich tatsächlich etwas Neues einfallen zu lassen, spontan situationsangemessen Bestehendes zu rekombinieren und oftmals intuitiv erfahrungsgeleitet, unter Rückgriff auf ihr Gespür zu improvisieren.

Hierin sind sie jedweder Technologie und jedem Instrument überlegen. So mag zwar auch KI in beeindruckender Weise auf der Grundlage bestehender großer Datenmengen und Deep Learning „Neues“ – verstanden als so noch nicht Kombiniertes – schaffen. Ihr fehlt aber etwas Entscheidendes gegenüber dem Menschen, das nötig ist, um tatsächlich Neues in die Welt zu bringen, das nicht einfach eine Melange darstellt, die auf Grundlage von Vergangenem und dessen Bewertung neu gemixt wird. Denn was KI kann, ist gar keine Kreativität, sondern eine technisch-rationale, deduktive Ableitung entlang codierter Daten (Verknüpfungen, Regelmäßigkeiten, Wahrscheinlichkeiten, Erfolgsaussichten, Bewertungen). Es handelt sich um Objektivierung und damit um das Gegenteil von Kreativität. Wesentliche Elemente von Kreativität sind gerade spontane Einfälle und Assoziationen, Intuition, Zufälle. KI kennt keinen Zufall, kann keine Intuition haben und nicht spontan sein (gut entwickelte KI kann all dies höchstens simulieren!). KI arbeitet grundsätzlich über das Auffinden von Mustern in großen Datenmengen. Sie denkt also nicht, sie rechnet. Sie ist dadurch stark in der Seite des Handelns, die man „objektivierend“ nennen kann – also in allem Analytischen, Planmäßigen, Technisch-rationalen. Was ihr komplett fehlt, ist die andere Seite des (menschlichen) Handelns: spürende Wahrnehmung, explorativ-herantastendes Vorgehen, assoziativ-bildhaftes Denken (zu dieser Unterscheidung in „objektivierendes“ und „subjektivierendes“ Handeln, siehe u.a.: Bauer/Böhle et. al 2006).

  • 3. Fachkräfte sind stark im subjektivierenden Arbeitshandeln, und werden dieses zukünftig noch viel mehr brauchen!

Da Maschinen Vieles vom objektivierenden Arbeitshandeln nicht nur auch, sondern sogar viel besser (schneller, effizienter, evidenzbasierter) können, wird das subjektivierende Arbeitshandeln zum eigentlichen Unterscheidungs- und Alleinstellungsmerkmal des Menschen gegenüber Maschinen und Artefakte. Das Subjektivierende ist das Besondere am Menschen.

Dieses Besondere – Yuval Noah Harari nutzt den schönen Begriff „der menschliche Funke“ (Harari 2015) – zeichnet den Menschen gegenüber KI aus. Dieser menschliche Funke ist nicht kopierbar, denn er ist nicht algorithmisierbar. Und er meint (nach Yuval Harari) u.a. die Fähigkeit, flexibel zu kooperieren und fiktionale Instanzen zu schaffen (Geld, Götter, Nationen, Weltanschauungen, Gesetze, usw.).

Man könnte auch noch andere Aspekte zum menschlichen Funken dazuzählen, die auch treffend dem menschlichen Funken zugerechnet werden dürften: insbesondere so etwas wie Empathie, also die Fähigkeit sich in sein Gegenüber hineinversetzen zu können. Das wird nicht nur in allen Berufen mit direktem Kundenkontakt immer wichtiger – auch die Zusammenarbeit mit Kolleg:innen oder Auszubildenden mit ganz unterschiedlichen kulturellen und biografischen Hintergründen kann kaum gelingen ohne Empathiefähigkeit.

  • 4. Empathie: eine Kernkompetenz für Fachkräfte

Und auch, auf der Grundlage von Moral und Ethik entscheiden zu können, bleibt rein dem Menschen vorbehalten.

  • 5. Für ihre Handlungsfähigkeit in unvorhersehbaren Situationen müssen Fachkräfte wertebasiert handeln

Nicht zuletzt, oder auch übergeordnet, ist es die Freiheit, entscheiden zu können, wie man entscheidet zu (re)agieren und aufzutreten.[1] Diese Freiheit des Menschen hat viele Ebenen und kann verschieden gesehen werden. Eine Grundfreiheit des Menschen, die beispielsweise der Gründervater der Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankl betont, ist die Entscheidungsfreiheit des eigenen (Re)Agierens: „die Freiheit des Menschen, sich entscheiden zu können, auf emotionaler Ebene zu reagieren oder auf geistiger Ebene zu agieren. Mit dieser Freiheit gehe gleichzeitig die Verantwortung des Menschen für seine Entscheidung und den damit verbundenen Auswirkungen auf sich selbst und anderen Beteiligten einher“ (Berghofer 2020). Was Frankl da beschreibt, ist essenziell in jedem sozialen Handeln (nach Max Weber, Gründervater der deutschen Soziologie, jedes Handeln, das sich auf das Verhalten anderer bezieht und daran in seinem Ablauf orientiert ist): die Fähigkeit aus sich selbst heraus kontextsensibel und situationsangemessen zu interagieren. Das erfordert eine innere Richtschnur: Werte. Und Werte müssen, in Zeiten in denen Kollektivwerte immer obsoleter werden (wie geteilter Glaube, einheitliches Geschlechter- und Familienbild, usw.), von jedem Menschen selbst durch seine Erfahrungen gebildet werden (mithilfe der Fähigkeit, diese Erfahrungen intensiv wahrnehmen und reflektieren zu können).

Sei es ein reklamierender Kunde, ein „schwieriger“ Auszubildender, eine fachliche Kontroverse mit Kolleg:innen: Auch eine Fachkraft, die in ihrer Domäne unglaublich viel weiß und noch mehr Fähigkeiten und Fertigkeiten hat, wird in solchen Situationen allein damit nicht auskommen. Nur wenn sie der Situation in einer angemessenen Haltung begegnet, hat sie die Chance diese professionell zu lösen. Dafür ist es u.a. wichtig, sein Gegenüber empathisch verstehen, dessen Problem respektieren, ihn wertschätzen zu können – und ebenso wertschätzend Grenzen kommunizieren zu können (bspw. wenn Reklamierende sich im Ton vergreifen). Um derartige Haltungen (Wertschätzung, Distanzierung, …) an den Tag zu legen, sind Werte wichtig, die man in schwierigen Situationen (z.B. Konfliktsituationen) gebildet hat.

Schauen wir vor diesem Hintergrund auf KI und ihre „Fähigkeiten“ wird klar: KI kann keine Werte ausbilden, sie ist weder moralisch und ethisch lernfähig noch kann sie eigene Erfahrungen machen. Sie kann immer nur auf Grundlage von Vergangenem entscheiden und nicht etwa auf der Grundlage von reflektierten Werten. So läuft sie nicht nur Gefahr ständig alte Muster zu reproduzieren und zu manifestieren (die schlimmstenfalls in der Vergangenheit aufgrund von Vorurteilen oder Diskriminierung so entstanden sind), sondern sie hat auch keine Chance, Lösungen für das richtige Handeln in bestimmten Situationen zu finden. Denn sie kann zwar evidenzbasiert Vorschläge machen, aber weder Werturteile treffen noch die subjektivierende Ebene des Handelns mit beachten. So bleibt sie robotisch, so viel Schminke man ihr auch auftragen mag (bspw. Fähigkeiten zur Gefühlsvorgaukelung).

Fragt man an dieser Stelle, welche „Werte“ das denn sein sollen, die Fachkräfte heute brauchen, gibt es dafür natürlich keine Pauschalantwort. Allerdings gibt es durchaus objektive bzw. intersubjektive Anhaltspukte dafür, welche Werte besonders wichtig erscheinen.

So ist es heute intersubjektiv – aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln (z.B. Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Arbeits- und Bildungspolitik) – betrachtet, kontraproduktiv, Fachkräfte in ein enges Korsett der Vorgaben und Handlungsregulierungen zu zwängen und sie entsprechend zu schulen. Denn längst sind sie – und eben nicht ihre Vorgesetzen und Vor-Vorgesetzten –  die wahren Konstrukteure der betrieblichen Realität und damit u.a. diejenigen, die die transformativen Prozesse wie Digitalisierung, E-Mobilität, usw. voranbringen (vgl., am Beispiel VW: Pfeiffer & Autor:innenkollektiv 2023). Und das geht nur stark selbstdenkend und selbstorganisiert handelnd und lernend, über den Tellerrand schauend, sich emanzipierend, kritisch und selbstbewusst.

Somit kann man sagen, dass eigener Gestaltungswille und Engagement heute wichtige Werte für Fachkräfte sind. Denn:

  • 6. Fachkräfte müssen heute Gestalter:innen ihrer Verhältnisse sein

Will man an dieser Stelle kurz zusammenfassen, was von Fachkräften heute stärker denn je gefragt ist, kann man sagen:

  • Güte und Brauchbarkeit von Informationen und Wissen situationsbezogen bewerten und sein eigenes Denken reflektieren und kontrollieren zu können (kritisch-konstruktiver Umgang mit Wissen und Denken)
  • kreativ zu sein, d.h.: schöpferisch aus sich selbst heraus (gemeinsam mit anderen Fachkräften) Lösungen für bislang nicht bekannte Probleme finden (Kreativität)
  • empathisch Anliegen und Bedürfnisse ihres Gegenübers (Kund:innen, Kolleg:innen, …) zu verstehen, deuten und in ihrer Interaktion beachten können (Empathie, Reflexion, Achtsamkeit)
  • Entscheidungen zu treffen ohne Vorgabe bzw. „Richtschnur“ von außen – ihre eigenen Werte, die sie in Erfahrung ausgebildet haben, können ihnen dabei die nötige Orientierung geben (Werturteile fällen als Urteilsbildung aus sich selbst heraus)
  • den Wert (er)leben, selbst Gestalter:in der vorgefundenen (betrieblichen und gesellschaftlichen) Welt zu sein, sozusagen: Reiter – nicht Ross, Koch – nicht Kartoffel! Und dabei das Gestalten als gemeinsame, solidarische und konfliktbeladene, kritisch-diskursive Aufgabe zu sehen und die entsprechenden Kompetenzen im Tun zu entwickeln (kritisch-konstruktiv emanzipatorische Gestaltungskompetenz)

All dies sind Fähigkeiten und Werte, die nicht von Technologie übernommen oder erlernt werden können. Und es sind Aspekte von Persönlichkeit. Sie sind individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt und jeder Mensch bildet sie in verschiedenem Ausmaß und auf seine ganz spezifische Eigenart aus.

2. Was kann berufliche Bildung als Kompetenzentwicklung zur Persönlichkeitsbildung beitragen?

So viele unterschiedliche Definitionen von Persönlichkeit es auch geben mag, gilt eines als unbestritten: Die Persönlichkeit eines Menschen ist dynamisch (statt Vieler: Definition nach Faix et al. 2021 im Beitrag von Sauter in dieser Ausgabe). Anders als eine Qualifikation meint Persönlichkeit kein fixes Bündel an Wissen, Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern: alle Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Leben macht, prägen seine Persönlichkeit. Entsprechend ist Persönlichkeit auch zu einem sehr wesentlichen Teil veränderbar. Es liegt in ihrer Natur, dass sie immer im Werden ist.

Auch wenn der Kompetenzbegriff als Leitbegriff der beruflichen Bildung nach wie vor nicht komplett einheitlich verstanden wird, so hat sich zwischenzeitlich der Gedanke durchgesetzt, dass das, was Kompetenz von Qualifikation unterscheidet in der „Hinwendung zum arbeitenden und lernenden Subjekt“ (Wittwer 2015: 3) liegt. Mit der kompetenzorientierten Wende in der Berufspädagogik

„[…] steht die jeweilige Besonderheit der Person, d.h. deren individuelle Kompetenzen im Vordergrund der Bildungsarbeit. Nur so kann das individuelle Potenzial im Sinne des Individuums, der Organisation bzw. des Unternehmens sowie der Gesellschaft genutzt werden.“ (Wittwer 2015:3)

Nach Michael Brater kann Kompetenz verstanden werden als

„die ganzheitliche Zusammenfassung aller persönlichen Kräfte – von Wissen über Fertigkeiten und Fähigkeiten bis zu Motiven, Bereitschaften und Werthaltungen – […], die zum Bewältigen einer Situation zusammenwirken müssen.“ (Brater 2016: 200).

Kompetenzentwicklung in diesem Verständnis geht also einher mit der Festigung oder Weiterentwicklung von persönlichen Werten. Und Werte sind handlungsleitend. Kompetenzentwicklung ist in diesem Verständnis immer auch zu einem gewissen Grad Persönlichkeitsentwicklung.

2.1 Arbeit ist ein zentrales Medium für Sinn: Sinnempfinden im Medium der Arbeit

Arbeit kann aber auch in anderer Hinsicht zur Persönlichkeitsbildung beitragen, und zwar als zentrales Medium für Sinn. Sinnempfinden ist ein wichtiger Bestandteil der Persönlichkeit und zugleich ein wesentlicher Nährboden für ihre (Weiter-)Entwicklung: wenn man sein Leben als bedeutsam und kohärent empfindet, sich zugehörig, integriert und kompetent fühlt, kann man Herausforderungen annehmen und an ihnen wachsen (vgl. To et al. 2014).

Dass Sinnempfinden für Arbeitende zentral ist, belegt die Forschung immer wieder (bspw. sind nach Bailey et al. 2019 soziale Eingebundenheit, Kompetenzerleben und Autonomie entscheidend dafür, dass Mitarbeiter sich mit ihrer Arbeit und ihrem Unternehmen identifizieren; Lysova et al. 2019 erkennen es dafür als besonders wichtig, einen Sinn in seiner Arbeit zu sehen und sich mit diesem Sinn verbinden zu können). Man könnte auch sagen: Gutes Arbeiten ist immer Sinn-volles Arbeiten.  

Und sucht man nach einer Erklärung, inwiefern Arbeit(en) Menschen tatsächlich Sinn vermitteln und sie empfinden lassen kann, findet man solche bereits bei klassischen philosophischen Ansätzen: Nach Aristoteles kann das Spüren von Sinn als ein Ausdruck des gelingenden Lebens gesehen werden, das sich durch praktisches (tugendhaftes) Handeln einstellt und darin äußert (siehe Nikomachische Ethik).

Dinge (für andere) herzustellen oder Dienste zu leisten, bindet Menschen in eine überindividuelle, eine kollektive gesellschaftliche Sinnherstellung und Weltgestaltung ein. In ihrem Kompetenzerleben können sie ihre Selbstwirksamkeit erfahren und dadurch i.S.v. Salutogenese und Resilienzförderung ein gesundes Lebensgefühl entwickeln.

2.2 Die Realität ist der beste Lehrmeister: Vollständige Arbeitshandlungen in komplexen realen Arbeitsprozessen haben das Potenzial den ganzen Menschen und seine Persönlichkeit zu fördern

Was berufliche Bildung kennzeichnet, ist ihre ganzheitliche Anlage: Es geht immer darum, später als qualifizierte Fachkraft komplette komplexe Arbeitssituationen in der eigenen Arbeit lösen zu können. Tragend ist daher seit Langem das Prinzip der Vollständigen Arbeitshandlung (vgl. Bauer et al. 2015, Brater 2018 [Erstauflage 1994]): Alle Phasen des Planens, Durchführens und Überprüfens einer Aufgabe werden von der (werdenden) Fachkraft selbst vorgenommen.

Dabei sind in jeder Phase für die schrittweise Bewältigung komplexer vollständiger Aufgaben eine Vielzahl von personalen Kompetenzen und Aspekten von Persönlichkeit wichtig bzw. gefragt – und können dadurch auch in vollständigen Arbeitshandlungen (weiter)entwickelt werden.

Nach Brater (1994 & 2018) sowie Bauer et al. (2015) kann eine vollständige Arbeitshandlung in acht Phasen aufgegliedert werden und in jeder dieser Phasen stellen sich unterschiedliche Anforderungen an die handelnde Person:

Abbildung 2: 8 Schritte der Vollständigen Arbeitshandlung (nach: Brater 1994 & 2018, Bauer et al. 2015)

I. Begegnung mit der Aufgabe: Hier kommt es u.a. darauf an, die Aufgabe ganzheitlich (mit allen Sinnen, in ihrem Kontext und den Rahmenbedingungen) wahrzunehmen, seine eigenen Fähigkeiten und Ressourcen zur Aufgabe in Beziehung zu setzen und sich mit der Aufgabe zu verbinden, sich in sie hineinzudenken und sich in sein Gegenüber (Kund:innen, Kolleg:innen, …) hineinzuversetzen (Was ist gefragt? Was wird gewollt?) und zu committen.

In der Begegnung mit der Aufgabe kann erübt werden die komplexe Realität angemessen zu erfassen (Sachorientierung, Kontextsensibilität), realistische Selbsteinschätzung (Verstehe ich das? Kann ich das? Was fehlt mir evtl. noch?), Engagement für die Sache, selbst wenn man selbst nichts „von ihr hat“, Empathie, das Treffen und Einhalten sozialer Verabredungen und sich selbständig in einer ungewohnten, unbekannten Situation zurechtzufinden.

II. Planung der Aufgabe: Bei der Planung der Aufgabe muss der zuvor erfasste Kontext beachtet werden. Dafür ist ein systematisches und systemisches Denken gefragt, um die eigene Tätigkeit im Gesamtarbeitsprozess verorten zu können in Bezug auf angrenzende Prozesse, Übergaben, Schnittstellen und den Erwartungen der dort betroffenen Akteure. Dabei ist zum einen ein sachgemäßes, bewegliches, vollständiges Denken gefragt, die Berücksichtigung und Anwendung von Sachgesetzen, die Disziplinierung des Denkens durch Sachlichkeit und hohe Konzentration. Zum anderen geht es darum, einen Gedanken längere Zeit festhalten und „bewegen” zu können, um Sachlogik, um Widerspruchsfreiheit im Denken, die Kontrolle der Gedankenverknüpfung und auch: Eine Sache „durchempfinden” können und Fehlermöglichkeiten vorauszuahnen. Auf der Gefühlsebene geht es darum, eigene Empfindungen und Ahnungen in Bezug auf die Planung ernst zu nehmen (Gefühle wie „irgendwas habe ich übersehen“ oder „etwas stimmt hier nicht“ können ein wichtiger Indikator sein, um Planungsfehler zu vermeiden). Zugleich ist kritische Selbstreflexion in Bezug auf eigene Denk- und Verhaltensmuster und Gewohnheiten gefordert („haben wir schon immer so gemacht“, „geht sowieso nicht“, …). Bei komplexen Aufgaben ist darüber hinaus insbesondere gefordert, originelle Lösungsideen, Entscheidungen bei Lösungsalternativen zu finden. In jeder Planung liegt auch die Chance, den Unterschied von Berechnung und Entscheidung zu erüben, bekannte Lösungen zu modifizieren, aber auch lange Planungen bei neu auftretenden Fakten zu verwerfen. Hier geht es dann darum, unter Umständen von bekannten Mustern abweichen zu können, den Überblick zu behalten und sich nicht in Details zu verlieren. D.h. auch: sich von Schablonen des Denkens lösen, frei neue Ideen bilden und Fachidiotie überwinden zu können.

In der Planung von Aufgaben liegt also die pädagogische Chance zur systematischen und umfassenden Denkschulung und Kräftigung des Vorstellungsvermögens, der Entwicklung gedanklicher Flexibilität, der Fähigkeit, aus dem Überblick zu handeln (Planungsmittel, Ordnung von Unterlagen usw.) und sich bewusst zurückzuhalten und die Sache zunächst zu durchdenken, bevor man sie angeht („Denken vor Tun” als Mittel der Selbstbeherrschung und -kontrolle und der Handlungsorientierung).

III. Entscheidung, seine Planung umzusetzen: Irgendwann muss man „den Absprung“ aus der Planung finden und sich entschließen tatsächlich zu beginnen. Da man niemals alle Details planen kann und man es zugleich immer auch anders angehen könnte, fordert das Risikobereitschaft, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein bzw. eine gewisse Souveränität beim Entschluss die Aufgabe auf eine bestimmte Art und Weise anzugehen. Denn die Entscheidung über den Arbeitsbeginn ist eben nicht „berechenbar“ – der/die Arbeitende muss selbst den Mut aufbringen und fassen, anzufangen.

Pädagogische Chancen für die Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung, die darin liegen sind:
Verbindlichkeit der eigenen Gedanken und den Realitätsgehalt von Gedanken zu erfahren (Plan vs. Realität), sich aus intensiven Denk- und Planungsprozessen wieder lösen zu können und mit deren Unabgeschlossenheit und Unsicherheit leben zu lernen, Entscheidungstraining, Willensbildung i.S.v. „Selbstüberwindung“ (sich auf den Weg machen, selbst wenn man am liebsten noch weiterüberlegen würde, aber weiß, dass das relativ sinnlos ist, weil man die Realität nicht voraussehen kann).

IV. Durchführung der Aufgabe: Hat man sich entschieden die Aufgabe anzugehen und ist dabei das bisher Gedachte (den Plan) geistig physisch-körperlich sinnvoll bzw. geschickt umzusetzen, erlebt man in der Regel schnell Diskrepanzen zwischen Plan und Realität (Widerstand der Realität). Nun geht es darum, mit der Tatsache umgehen zu können, dass Plan und Realität „zwei paar Schuhe“ sind und unterschiedlichen Logiken folgen. Gefragt ist an dieser Stelle häufig, improvisieren zu können, aber auch einschätzen zu können, wo man wie weit von seinem Plan abweichen kann oder sogar muss, allerdings ohne das Ergebnis zu gefährden. Zugleich wird es wichtig die eigenen Kräfte in Bezug auf die Aufgabe zu bündeln, Teiltätigkeiten zu koordinieren und zu integrieren,  sein eigenes Denken und Handeln selbst zu organisieren sowie ein gutes Gleichgewicht zu finden zwischen Selbstbezogenheit und Selbstaufgabe, indem man zum Beispiel auch lernt, darüber zu entscheiden, wann eine Pause nötig ist oder wann es genug ist (Stichworte: Selbstführsorge, Selbstachtsamkeit).

Neben dem Aspekt, einen bewussten Umgang mit Körper und Geist zu erlernen, liegen pädagogische Chancen dieser Phase u.a. darin, Gefühls-, Willens- und Denkkontrolle zu üben und vorher Gedachtes praktisch zu überprüfen (Lag ich richtig? Wo muss ich mich korrigieren? …). Da Arbeiten immer auch ein sozialer Prozess ist können zudem elementare soziale Fähigkeiten in der Interaktion mit Kolleg:innen, Kund:innen, Vorgesetzten, etc. gebildet werden.

V. Prüfen der Aufgabe: Arbeiten ist immer ein Wechselspiel von Tun und Wahrnehmen. In der Aufgabe muss eine Fachkraft immer wieder prüfen, wo sie steht, „wie es läuft“, wie nah sie ihrem Ziel bereits ist, wo sich kleinere Fehler eingeschlichen haben, die sich aufsummieren könnten, etc. Hier ist gefragt: unbefangen wahrzunehmen – „das sehen, was ist“ statt das, „was man gerne hätte“, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wenn etwas nicht stimmt , selbstverantwortlich zwischen Ausführen und Prüfen der Aufgabe wechseln zu können (Wahl des Kontrollzeitpunkts und angemessener Prüfmethoden) sowie sich unabhängig von den eigenen Vorstellungen ein realistisches Bild von den Tatsachen zu machen.

Chancen für die Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung liegen im Üben, die eigene Wachheit aufrechtzuerhalten, zu lernen, Kontrolle über das eigene Tun bewahren, in Klärung und Objektivierung des Gefühlslebens (Unlust, Wut über Fehler, etc.), darin, die eigene Wahrnehmung zu schärfen und zu objektivieren sowie in der wichtigen Bereitschaft zur sachlichen Selbstkritik.

VI. Korrigieren: Nun muss man aus der Prüfung des Wahrgenommenen Bewertungen und Beurteilungen dazu gewinnen, ob man das bisherige Vorgehen fortsetzt oder korrigiert. Hier ist schließendes Denken gefordert, da aus Urteilen Konsequenzen für die weitere Praxis gefolgert werden müssen. Und dafür müssen wiederum relativ komplexe Zusammenhänge überschaut und beurteilt werden (z.B. Sekundärfolgen bestimmter Korrekturen). Der Entschluss zu Korrekturen bedeutet wiederum, einen einmal eingeschlagenen Weg nicht stur weiterzugehen, sondern ihn auch wieder verlassen zu können, wenn neue Gesichtspunkte dafür auftreten. Es geht darum, dafür Sorge zu tragen, dass solche Korrekturen stets sachbezogen vorgenommen werden – also ohne Einmischung persönlicher Vorlieben, aber auch ohne Rücksicht auf frühere Festlegungen und Präferenzen.

Pädagogische Chancen, die darin liegen, sind neben einer weiteren Förderung kognitiver Leistungen: Möglichkeit die Intensivierung des Sachbezugs und der Sachorientierung zu üben; die Fähigkeit weiterentwickeln, persönliche Aspekte zurückzustellen; lernen, eigene Entscheidungen und Setzungen auch wieder in Frage stellen und sich nicht krampfhaft daran festzuhalten, sowie sich selbst „von außen”, im Lichte objektiver Maßstäbe sehen.

VII. Abschließen der Aufgabe: Gerade bei nicht-standardisierten Aufgaben und Arbeitsprozessen stellt sich immer die Frage, wann man eigentlich fertig ist. An dieser Stelle ist dann gefragt, zu lernen, nicht Lust und Unlust über das Abschließen der Arbeit entscheiden zu lassen, sondern den „Sachstand”. Je nach der Lage muss man durchhalten oder loslassen können. Das ist kein leichtes Unterfangen, es gilt bei der Sache zu bleiben ebenso wie sich auch wiederum von ihr lösen zu können (= Ausdruck der Souveränität des Arbeitenden der Arbeit gegenüber), abschätzen zu lernen, wann es „genug” ist, was sinnvollerweise noch getan werden sollte oder wo es sich nicht mehr lohnt… Es gibt dafür kein Rezept, die eigene Einschätzungs- und Entscheidungsfähigkeit ist gefragt. Außerdem sind viele weitere Aspekte mit einzubeziehen: z.B. die soziale Seite: Man kann hier eine gewisse Opferbereitschaft lernen und auch, gut und engagiert zu arbeiten, wenn man selbst gar nichts davon hat. Hier kann man also Hilfsbereitschaft, Uneigennützigkeit und „Dienstleistungsbereitschaft” lernen. Aber auch: entscheiden zu können, wo die einzelne Arbeit im Gesamtgefüge seiner sonstigen Verpflichtungen und Lebensbezüge steht und ihr einen angemessenen Platz zubilligen sowie zwischen subjektiven Interessen und Sacherfordernissen eine angemessene Balance zu finden für die es keine äußeren Entscheidungshilfen gibt.

 

Pädagogische Chancen hierin (die z.T. eben bereits genannt wurden): Beim Abschließen kann man lernen innere Prozesse und Steuerungen äußeren Erfordernissen und Gesetzen unterzuordnen, durchzuhalten und loszulassen, selbst über das Ausmaß seines Engagements zu entscheiden – Ausbalancieren der Lebensbezüge, aber auch: Opferbereitschaft und Entsagung als Elemente der eigenen Autonomie.

VIII. Auswerten der Aufgabe: Ist eine Aufgabe abgeschlossen, wird es – insbesondere aus Lerngesichtspunkten – wichtig, sie sachlich und unbefangen zu betrachten (gemäß dem Grundsatz „Kein Lernen ohne Reflexion!“). Will man als Fachkraft eine abgeschlossene auswerten, geht es also auch stark darum, spontane Urteile und Gefühle zurückhalten zu können sowie eine gewisse Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber zu haben (Selbstkritik). Aber auch Geduld ist gefragt: abwarten zu können, bis einem plötzlich vorher verborgene Zusammenhänge deutlich werden (was herausfordernd ist, wenn bspw. schnell weitergearbeitet werden soll!). Gefragt ist auch die Fähigkeit, nicht den ersten Eindruck oder der ersten Einschätzung sofort „Wahrheitscharakter“ zuzuschreiben, sondern  vorsichtig-tastende Interpretationsversuche zu machen und dabei immer wieder auf das Ganze zu schauen bis man schließlich zu Einsichten und (vorläufigen) Gewissheiten kommt.

Damit und darin kann gelernt werden: das Gewordene anzuerkennen, das Vergangene bewusst und gezielt als Lernprozess aufzuarbeiten und die eigene Wahrnehmungsfähigkeit i.S. von Achtsamkeit zu stärken.

Betrachtet man die Lernpotenziale vollständiger (Arbeits-)Handlungen, wie sie in Abbildung 2 beschrieben sind, so wird deutlich, dass jeder vollständige reale Arbeitsprozess (oder Geschäftsprozess) ein vollständiges Curriculum ist: Lernziele, Lernorte, Stoffplan und Lernmittel in einem!

Und mehr noch: Viele der arbeits- und berufspädagogischen Chancen, die in vollständigen (Arbeits-) Handlungen liegen, ermöglichen genau den Aufbau von Persönlichkeitsaspekten, die für Jugendliche auf ihrem Weg ins Erwachsenenalter entscheidende Entwicklungsaufgaben darstellen: ein Selbstbild und eine eigene Identität entwickeln, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit formen und seinen eigenen Willen auszubilden, und : einen neuen Weltbezug herzustellen und Verantwortungsbereitschaft, Sozialität und Solidarität zu üben (vgl. Brater/Schrode, zit. nach: Burger et al. 2021, S. 31).

Daher geht es in einer Ausbildung, die Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung fördern soll

„[…] darum, in der realen (Arbeits-)Welt verantwortungsvolle Aufgaben zu übernehmen. Dabei wird spür- und erfahrbar: Gebraucht zu werden, selbst wirksam zu sein, in Teams eingebunden und für sie wichtig zu sein; es wird möglich, Selbstbewusstsein und Sozialkompetenz zu entwickeln, seine eigenen Wege dafür zu finden, sich in der Welt zu verorten, Verantwortung zu übernehmen, Selbststeuerungsfähigkeiten auszubilden. Junge Menschen können in Settings der beruflichen Bildung also lernen, sich sozial in Gruppen einzubinden, Kompetenzen und Autonomie zu entwickeln, zu erleben und ihre eigene Entwicklung zu beobachten, wenn sie fachlich immer besser werden. Damit können sich Auszubildende zugleich auch die Kompetenzen erarbeiten, die sie für die eigenständige Gestaltung ihrer Berufsbiografie benötigen: Sie entwickeln (Selbst-)Lernkompetenz, erkennen ihre wachsenden Kompetenzen und können diese gezielt weiterentwickeln. Werden biografische Aspekte bewusst thematisiert, lernen sie, dass das Leben sich in Phasen vollzieht, die jeweils unterschiedliche Stärken und Entwicklungsaufgaben mit sich bringen, und sie bilden ein realistisches Selbstbild und Selbstbewusstsein aus, das es ihnen ermöglicht, sich auf dem Arbeitsmarkt authentisch zu präsentieren.“ (ebd., S. 34).

Anders als in der Lernzieldidaktik und im materialen Lernverständnis der Fachsystematik wird die Komplexität der Realität nicht in vermittelbaren „Lernstoff“ und in „Inhalte“ zerstückelt, um sie Häppchenweise weiterzugeben. Stattdessen wurde eine Methodik und didaktisches Begleitinstrumentarium entwickelt, das Lernenden ein Lernen trotz und in dieser Komplexität erlaubt: die Lernprozessbegleitung. Diese wird im nächsten Abschnitt (1.2.3) kurz beschrieben.

2.3 Strukturierte individualisierende Ausbildungsmethoden wie die Lernprozessbegleitung unterstützen Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung

Erkennt man das Potenzial komplexer Aufgaben für die Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung, kann man reale Arbeits- und Geschäftsprozesse als „pädagogisches Gold“ begreifen. Denn alles, was man zu ihrer Bewältigung können muss und ebenso alle sozialen und personalen Kompetenzen und persönlichen Stärken, die man für die Aufgabenbewältigung nutzen kann, kann man auch in der komplexen Aufgabe selbst lernen!

Allerdings führt die Komplexität realer Arbeitsaufgaben (Geschäftsprozessen) schnell dazu, dass Novizen von ihr förmlich „erschlagen“ werden. Ohne eine behutsame, durchdachte Begleitung, kann das „pädagogische Gold“ nicht gehoben und folglich nicht für die Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung genutzt werden.

Die entscheidende berufspädagogische Stellschraube ist hier, Lernenden zu ermöglichen, ihre Lernzone zu finden, in der sie weder unterfordert (Komfortzone) noch überfordert (Panikzone) sind.

Abbildung 3: Verbildlichtes 3-Zonen-Modell des Lernens (© GAB München)

Wird die Lernzone immer wieder gefunden, können Lernende in jeder Phase ihrer vollständigen Arbeitshandlung die Potenziale für ihre Entwicklung bestmöglich nutzen.

Ein Instrumentarium, um strukturiert und individuell beim Lernen in der Arbeit zu begleiten, wurde von der GAB München vor über 30 Jahren entwickelt und seitdem kontinuierlich in unterschiedlichen Ausbildungskontexten erprobt und angepasst: die Lernprozessbegleitung (siehe dazu Beitrag von Barbara Burger in dieser Ausgabe).

Die Lernprozessbegleitung ist grob gesagt ein Instrument um Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung in komplexen realen Arbeitsprozessen strukturiert zu unterstützen. Ihr Herzstück sind Gespräche, die den Fokus auf die Ermöglichung von arbeitsintegriertem, entdeckendem Lernen legen. Dabei steht insbesondere die Erarbeitung von Lernanliegen und Lernwegen im Fokus sowie die Reflexion der dabei gemachten Erfahrungen.

Die Lernprozessbegleitung stellt damit eine Methodik dar, mit deren Hilfe Lernende selbst vor die Herausforderungen vollständiger komplexer Handlungen und ihrer vielfältigen Chancen für die Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung (siehe 1.2.2) gestellt werden. Sie zielt darauf ab, dass die Lernenden selbst ihre eigenen Wege finden. So werden wichtige Aspekte wie Selbstorganisationsfähigkeit, Mündigkeit, kritisches Denken, Kreativität, das Treffen sozialer Vereinbarungen zur Zusammenarbeit oder Empathie geschult, indem die Auszubildenden genau diese Fähigkeiten in komplexen Arbeitsprozessen brauchen und somit auch genau in diesen Arbeitsprozessen ausbilden können. Die Begleitung hilft ihnen dabei ihr Lernen zu strukturieren und zu fokussieren (Fokus auf bestimmte Fähigkeiten, die als nächstes gelernt werden wollen) und ihre Lernerträge zu erkennen (Reflexion vorangegangener Lernerfahrungen).

2.4 Die sozialpartnerschaftliche Organisation betrieblicher Bildung ist ein Booster für die Persönlichkeitsentwicklung

Nicht zuletzt ist Berufsbildung immer auch Selbstermächtigung und damit auch politische Bildung (vgl. bereits: Blankertz 1963). Denn in betrieblicher Mitbestimmung erfahren werdende Fachkräfte, dass sie als Gestalter:innen wirksam sein können, da „Strukturen, gesellschaftliche Unterscheidungen (und somit auch Machtverhältnisse) grundsätzlich immer auch anders möglich wären“ (Schrode 2010, S. 9). Sie erleben also, dass die Dinge nicht so sein müssen wie sie einmal festgelegt wurden, sondern dass es sich um Gestaltungsfragen handelt, an denen sie stark mitwirken können. Sie entwickeln entsprechend Kompetenzen einer konstruktiven, partnerschaftlichen Konfliktkultur – und Werte wie Solidarität und Zusammenhalt. Die entsprechende Selbstwirksamkeitserfahrung im Kompetenzerleben signalisiert bereits Auszubildenden, dass sie gemeinsam politisch etwas erreichen (also die Welt tatsächlich verändern) können (vgl. Rosa 2016, S. 275). Gestaltungskompetenz bezieht sich keineswegs nur auf die Bewältigung betrieblicher Herausforderungen, sondern auch auf die Gestaltung der betrieblichen Rahmenbedingungen und gesellschaftspolitischer Fragen. Ein Engagement in der betrieblichen Mitbestimmung kann daher ein „Booster“ für die Persönlichkeitsentwicklung sein.

3. Werden gerade in Zeiten von KI die persönlichkeitsentwickelnden Potenziale beruflicher Bildung wichtiger und stärker zu bedenken?

KI ‚kann‘ vieles, aber will nichts. Sie kann zwar statistisch und auf der Basis von Algorithmen entscheiden, aber nicht ethisch-moralisch. Sie kann keine Werturteile fällen. Sie ‚kann‘ zwar (sehr gut) rechnen, aber weder wahrnehmen, denken, empfinden, fühlen, wollen noch tun.

Da in komplexen ganzheitlichen Aufgaben nie alle Informationen, Wahrnehmungen, Handlungsoptionen in gut strukturierte und damit algorithmisierbare Daten überführt werden können, wird KI sie auch nie in Gänze übernehmen können. Insbesondere wertebasierte Entscheidungsfindung jenseits jeder Berechnungslogik und subjektivierendes Arbeitshandeln bleiben menschliche Vorbehaltsaufgaben.

Für die Bewältigung komplexer, ganzheitlicher Arbeitsprozesse braucht es stattdessen: Persönlichkeiten.

Und ein guter Teil der Persönlichkeitsbildung kann in der lernend-reflektierenden und begleiteten Aufgabenbewältigung selbst geschehen. Nimmt KI uns in komplexen Aufgaben einzelne, eher lästige, standardisierte Anteile ab, können wir uns noch stärker auf diese persönlichkeitsbildenden Chancen von beruflich-betrieblicher Bildung konzentrieren – als Lernende ebenso wie als Lernbegleitende!

Gut gestaltete Berufsbildung ist damit immer auch Persönlichkeitsbildung. Und sie sollte in Zeiten von KI ihren Fokus noch mehr auf diese große Stärke lenken.

Oder?

[1] Zur Probe aufs Exempel hat der Autor dieses Textes den Chatbot ChatGPT von OpenAI gefragt: „Kannst du mir sagen, inwieweit du frei bist?“ ChatGPT antwortete: „Als KI-Modell bin ich nicht wirklich »frei«, sondern ich arbeite innerhalb der von meinem Entwicklerteam definierten Parameter und Algorithmen. Meine Fähigkeiten und Antworten basieren auf meinen Trainingsdaten und meinem Programmcode. Aber ich bin in der Lage, automatisiert zu interagieren und Antworten auf Ihre Fragen zu geben, solange sie im Rahmen meiner Fähigkeiten und meines Trainings liegen. Wie kann ich Ihnen helfen?“

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Autor

  • Nicolas Schrode

    Nicolas Schrode ist Dipl. Soziologe, er ist als Forscher, Berater und Weiterbildner bei der GAB München - Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung aktiv. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Entwicklung von Konzepten für das Lernen in der Arbeit und seiner Begleitung, die Professionalisierung des Bildungspersonals, Praxisforschung in Arbeit, Beruf und Organisation sowie die Qualitätsentwicklung und Evaluation beruflichen Lernens und Arbeitens.