Prof. Dr. Franz Kaiser (Mitglied im Wissenschaftlichen Beraterkreis von IG Metall und ver.di)

Worum es geht

Die sogenannte „New work“ ist ein schillernder Begriff, den wir als Gegenwart und Zukunft der Erwerbsarbeit verstehen können. Sie ist eine Gestaltungsaufgabe für Gewerkschaften, die nicht über uns kommt und der man sich nur anpassen kann. Das Ziel Persönlichkeitsentwicklung mit der beruflichen Bildung voranzubringen und diese auch curricular stärker zu verankern (s. die Debatten um die neuen Standardberufsbildpositionen in der Ausbildung) ist auch eine Reaktion auf diese Transformation von Arbeit. Sie verantwortungsvoll auszugestalten gelingt nur mit selbstbewussten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Verantwortung für sich selbst, ihre Facharbeit, ihre Kolleginnen und Kollegen und die wirtschaftlichen Zusammenhänge übernehmen, weil aus diesem Handeln Konsequenzen für sie und die gesamte Welt entstehen.

Zu gerne würde ich die formulierte Aufgabe kleiner machen und die zu gestaltenden Lernprozesse auf spezifische Tätigkeiten und darauf bezogene Fähigkeiten reduzieren, oder auf biografische Gestaltungs- oder Selbststeuerungsfähigkeit, aber das hieße den Anspruch auf Mündigkeit und damit verbundene arbeitnehmerorientierte Berufsbildung in vollem Umfang aufzugeben. Stattdessen geht es genau darum: Sich auf seinen begründeten Standpunkt besinnen zu können und von ihm aus Folgerungen vorzunehmen. „Berufspädagogik als arbeitsorientierte Sozialwissenschaft muß die auf dem Stand der Produktivkräfte möglichen Bildungs- und Erziehungspotenzen der Arbeit freilegen und in Aneignungsprozesse transferieren, die wiederum zur Formulierung und Durchsetzung arbeitsorientierter Interessen befähigen“ (Ehrke 1978, S. 195)

Ausgehend von den Veränderungen in der Facharbeit, die nach flexiblen Persönlichkeiten, Lebenslangem Lernen und Beschäftigungsfähigkeit rufen, beantwortet der Beitrag diesen Ruf mit einem Konzept des sinnvoll verbundenen Lebens, gestützt auf berufliche Facharbeit. Er ist auch inspiriert von mehrmonatigen Forschungsaufenthalten in den skandinavischen Ländern, für die Bildung zur politischen Partizipation auch untrennbar mit beruflicher Bildung verbunden ist (Rönnlund u.a. 2019).

Aus dieser reflexiven, beruflich beheimateten Persönlichkeit geht Kraft zur sinnvollen Arbeits- und Weltgestaltung und zur gesunden Selbstfürsorge aus, die wir im Angesicht des Klimawandels, der verschärften Konflikte zwischen Nord und Süd, Arm und Reich, Integration und Exklusion dringender benötigen denn je (Kaiser 2020).

Zur Dialektik von Autonomie, Einsamkeit und Freiheit in der Zeitgestaltung

Autonomie gilt als Errungenschaft der Moderne. Wir befreien uns aus Traditionen der Ständegesellschaft, überlieferten Verhaltensweisen und kulturellen Gepflogenheiten und bestimmen unser Leben selbst. So die positive Seite der Emanzipation und Aufklärung. Zugleich leben wir in einer Zeit, in der die Anforderungen zur Selbststeuerung an das Individuum weiter erheblich gestiegen sind. Damit geht eine gestiegene Zahl an psychischen Erkrankungen und das Gefühl von Vereinsamung nicht erst seit der Corona-Pandemie einher. So wurden im Rahmen einer europäischen Studie Daten der Jahre 2010 bis 2014 mit circa 106.000 Beobachtungen für 24 Mitgliedsstaaten ausgewertet. Danach fühlten sich altersunabhängig ca. 30 Millionen europäische Erwachsene und damit sieben Prozent der Bevölkerung regelmäßig einsam (EU 2019). Die verstärkte Wirkung der Pandemie auf junge Menschen in Deutschland hat eine im Jahr 2020 vorgelegte Studie mit über 15.000 Proband:innen aufgezeigt (Bäuerle u.a. 2020). Daraus lassen sich keine einfachen Schlüsse ziehen, aber die Studien verweisen auf einen Verlust von Gemeinschaft, der sich für junge Menschen besonders negativ auswirkt (Hari 2019). Das schafft insbesondere für eine gesundheitsorientierte und gewerkschaftliche Perspektive auf die berufliche Bildung neue Schwerpunkte.

Die sogenannten „New work“ geht mit einer weiteren Verlagerung der Steuerungsanforderungen auf die Individuen einher und wirkt sich auf bislang standardisierte Tagesabläufe aus. Arbeits- und Freizeitgestaltung flexibilisieren sich z.B. vom verabredeten Zeitpunkt des Trainings im Sportverein zum individualisierten Training im Fitnesscenter; vom gemeinsamen Dienstbeginn zur Gleitzeit oder gar Homeoffice. Das schafft zwar mehr Flexibilität in der Tagesgestaltung aber auch einen massiven Rückgang an „beiläufiger“ Kommunikation. Genau jene Umstände, die nach JohannHari (2019) gegen Depressionen wirken, denn was die Entstehungsursachen eint, ist ein Gefühl von «Abgeschnittensein»: von sinnvoller Arbeit, von den Mitmenschen, von Wertschätzung.

Der Prozess der Zivilisation, wie er von Norbert Elias bezeichnet wurde, bewirkt seit der Industrialisierung eine Verinnerlichung der Steuerungsverantwortung in den Einzelnen, die sich niederschlägt in einem zunehmend engmaschigeren Netz von Beziehungen, die ständig zu „… Zeit-Entscheidungen verschiedensten Charakters zwingt“ (Elias 1976, S.78). Die Zukunft trifft uns nicht mehr offen, vom Schicksal, Gott oder Chef bestimmt, sondern wird durch individuelles, gegenwärtiges Handeln entscheidend beeinflusst; so die allgemein verbreitete Überzeugung. Damit wird jede eigene Entscheidung zum potentiellen Wendepunkt des eigenen Lebens, der individuell zu verantworten ist.

Ein sichtbarer Ausdruck dieser Verlagerung der Steuerung auf den Einzelnen ist das Verschwinden der sichtbaren Taktgeber. Rief einst die Glocke am Kirchturm zum Gebet und die Werkssirene zur Arbeit, haftet diesen öffentlichen „Mahnern“ durch gleitende Arbeitszeit und anderen Flexibilisierungsmodellen etwas Nostalgisches an. Die Uhr ist an unser Handgelenk und die permanent präsenten mobilen Geräte gewandert und wir haben ihre Anforderungen verinnerlicht – takten uns selbst ein um „unsere“ Ziele zu erreichen. Lediglich die hörbaren Pausenzeichen in den Schulen weisen darauf hin, dass, das sich „in vorgegeben Zeiten hineinzutakten“ noch gelernt werden muss. Die Befähigung und die Bereitschaft zur Pünktlichkeit und Synchronisation des individuellen Lebens mit der getakteten Gemeinschaft muss durch Lernen in die innere Steuerungsinstanz übertragen werden. Als Erwachsene synchronisieren wir unser Leben in unterschiedliche Systeme (Familienzeit, Arbeitszeit, Fahrplanzeit, Kulturzeit, …). Erziehung bewirkt im Belohnungs- und Bestrafungsmodus zunächst Anpassung an den Takt im Widerspruch zum eigenen Bedürfnis, der Eigenzeit (NOWOTNY 1995). Auch wenn unser spontanes Bedürfnis nach Bewegung drängt, bleiben wir sitzen, verzichten im Unterricht oder bei einer Unterweisung darauf etwas zu trinken oder zu essen. Erst im Übergang ins Erwachsenenalter erfolgt die Steuerung zunehmend individuell, orientiert an Anforderungen, herausgelöst aus tradierten, kulturell geprägten Strukturen kollektiven Seins. Aber sind das wirklich unsere Ziele, unser Rhythmen, denen wir folgen? Sind neue Zwänge entstanden, die wir unbewusst verinnerlicht haben und als vermeintlich unsere wahrnehmen?

Anforderungen der Facharbeit, Selbstoptimierung und der riskante Umgang mit „Employability“

Die Befreiung aus dem Takt der Sirenen und den fremden Vorgaben zur Anwesenheit erscheinen zunächst als hilfreiche Emanzipation im Sinne der Aufklärung. Die gewonnene Zeit kann sich als freies Spiel und Muße in die Nischen der „befreiten“ Zeit; als selbstbestimmte „Eigenzeit“ nach Helga Nowotny entfalten. Was aber aktuell zu zunehmender Belastung führt ist, dass die Steuerung des eigenen Verhaltens im Hinblick auf Abgabetermine für Teilleistungen oder Produkte erfolgt und noch darüber hinaus. Sie wird für das Training von Verhalten und die verbesserte Performanz der eigenen Persönlichkeit verwendet. Dieses Phänomen – von Richard Sennett in „The Corosion of Character – The Personal Consequences of Work in the New Capitalism“; in Deutsch „Der flexible Mensch“ behandelt – trifft in besonderer Weise auf Führungskräfte und das gehobene Management zu, verlagert sich aber gerade durch die Anforderungen der neuen Arbeitsgestaltung auch auf die Ebene der Facharbeit. Diese Erwartung zur Selbstoptimierung zeigt auch der 2011 ausgezeichnete Film „work hard play hard“, wenn er dokumentarisch die menschenverachtende Seite eines betriebswirtschaftlichen Personalmanagements freilegt, bei denen die Zielerreichung der Teams durch persönliche Anpassungsbereitschaft „erkauft“ wird.

Das sich reibungslose Einfügen in Teams geht weit über die Erwartung des Dauerlächelns als Teil professionellen Verhaltens zur Steigerung der Umsätze beim Servicepersonal bspw. im Friseurhandwerk hinaus (Klope/Hedlin 2023). Es reicht nunmehr nicht aus, eine sicht- und bezahlbare Arbeitsleistung zu erbringen, die entlohnt wird. Vielmehr wird erwartet, dass dies mit einer inneren Freude geschieht und die Gestaltung der eigenen Arbeitsumgebung, einschließlich der Beziehungsgestaltung zum Umfeld ohne Anweisung und Vorgabe erfolgt. Ecken und Kanten der eigenen Persönlichkeit, die dem im Wege stehen, sollten abgeschliffen werden. So beginnt eine Spirale der permanenten Optimierung, die bis zum Besuch von Meditations- und Yogakursen reicht, die der Regeneration der Arbeitskraft dienen. Denn „…Entspannungsseminare sind eingebunden in die Gesetzmäßigkeiten von Markt und Konsum und entsprechen nur dem Ziel der Gehetzten nach einer möglichst effektiven Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft“ (Ribolitis, 1997, S. 240).

So obliegt es den Einzelnen sich als Gewinn für Arbeitgeber oder Auftraggeber darzustellen. Ein Phänomen, das unter dem Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“ oder „Self-entrepeneurs“ bereits diskutiert wurde (Voß 2001). In diese Kerbe schlagen auch die Begriffe „new work“ und „Employability“ oder „Beschäftigungsfähigkeit“. Sie zielen auf einen idealisierten Menschen, als ein Produkt des Bildungs- und Berufsbildungssystems und der damit einhergehenden Selbsterziehung, der voll und jederzeit einsetzbar ist – beschäftigungsfähig. Wie Superheld:innen, warten sie nicht auf die Anforderung, sie ahnen die veränderte Situation voraus und rüsten sich für den Einsatz. Katrin Kraus skizziert diese Anforderung wie folgt: „Die Notwendigkeit ihrer Bewältigung richtet sich vielmehr nach individuellen Lebenssituationen und -stationen und sie müssen durch das Individuum aktiv gestaltet werden.“(Kraus 2008, S.23) Ähnlich auch in ihrer Schrift von 2006 „Mit der Kurzformel des “Unternehmers in eigener Sache” werden die neuen Anforderungen an das Verhältnis zur Erwerbsarbeit und zur eigenen Arbeitskraft zum Ausdruck gebracht: Flexibilität, Mobilität, vorausschauendes Denken, Selbstmanagement, ‘individuelle Wettbewerbsfähigkeit’ und Selbstverantwortung sind die Schlagworte, die hier im Vordergrund stehen.“ (Kraus 2006, S. 264). Sie begreift diese Tendenz als positiven Beitrag zur „Maximierung der Beschäftigungsoptionen“ für die einzelne Person, als Reaktion auf endstandardisierte Lebensläufe, aus denen heraus sich dann auch eine Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zu flexibilisieren hat um besser mit flexiblen Lebensläufen durch Kompetenzfeststellungen umgehen zu können. Nicht thematisiert wird aber in diesem Diskurs die katastrophale Wirkung für die lernende oder sich entwickelnde Persönlichkeit und die notwendigen institutionellen Voraussetzungen in einer Gesellschaft, ganz zu schweigen von den Wirkungen im Hinblick auf wachsende Ungleichheiten (Kaiser/Brötz 2015). In dieser Perspektive der bereits zuvor angesprochenen Überforderungen des Individuums in unserer Gesellschaft, sind standardisierte Qualifikationsprofile extrem hilfreich.

Ohne einen klaren Begriff der herzustellenden Beschäftigungsfähigkeit haben die nach Arbeit Suchenden bzw. die sich auf eine regelmäßige Erwerbsarbeit Vorbereitenden keine Aussicht, durch die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten zu einer Meisterschaft zu gelangen. Sicherheit oder Gewissheit darüber, ob sie tatsächlich über relevantes Wissen oder Kompetenz verfügen, stellt sich nicht ein, weil die zu erwerbenden Fähigkeiten nicht festgelegt sind. Die Auflösung der Bestimmtheit der Ziele beruflicher Bildung mit dem Diskurs um die sogenannten „Schlüsselqualifikationen“ in den 1970er Jahren begonnen, wird mit der „Beschäftigungsfähigkeit“ und „new work“ auf die Spitze getrieben. Vage Formulierungen von Qualifizierungszielen sind die Folge. Ein fixierter Inhaltskanon mit Mindestbestandteilen erscheint borniert und unmodern für den anzustrebenden flexiblen Menschen oder auch für ein Qualifizierungs- und Beschäftigungssystem, das für Transformationen offen sein will. Der Preis für diese Offenheit ist aber anhaltende Ungewissheit und weniger der heldenhafte, freiwillig gewählte Antrieb zur Flexibilität, wie von Kraus wahrgenommen (Kraus 2006).

Freiwillige Selbstausbeutung als paradoxe Antwort auf entfremdete neue „Freiheit“

Der intrinsische Antrieb sich trotz Ungewissheit in diese Vorbereitung auf Flexibilität zu investieren, basiert auf einer verschärften Entfremdung, wie sie Peter Bloom herausgearbeitet hat. Der Gefahr aus der Gesellschaft ausgestoßen zu werden, wenn man sich nicht ausreichend den Anforderungen des Marktes unterwirft, begegnen die Bedrohten (oder das kapitalistisch sozialisierte Subjekt) dadurch, dass sie sich dafür stark machen, noch mehr ausgebeutet werden zu können. „…the contempory subject of employability struggles for the eradication of exploitation, but rather for their right to ‚self-exploitation‘.“ (Bloom 2013, p. 787).

Der Entzug der Verfügung über die Produktionsmittel und die mangelnde Beteiligung an der Entscheidung über das „Was“ und „Warum“ hatte in der Industrialisierung Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Arbeit erzeugt. „Die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit entspricht einer Gesellschaftsform, worin die Individuen mit einer Leichtigkeit aus einer Arbeit in eine andere übergehen und die bestimmte Art der Arbeit ihnen zufällig und daher gleichgültig ist.“ (Axmacher 1974, S. 101f.). Arbeit wurde lediglich als Tauschwert zum Lohnerwerb empfunden und verlor ihren Vergegenständlichungs- und Integrationscharakter menschlichen Seins.

In der mit „new work“ einhergehenden Ideologie der Employability, die ja eigentlich wieder auf eine stärkere Beteiligung des Individuums an betrieblichen Entscheidungen setzt, wird aber diese Entfremdung auf die Spitze getrieben, denn sie erfordert Fremdheit gegenüber den eigenen Lebensbedürfnissen. Das Ziel der Beschäftigungsfähigkeit wird zum individuellen Credo in einer kapitalistischen Ökonomie, dem alles andere untergeordnet wird. „Discourses of employability reflect this emerging paradoxical relation between subjectivities of self-mastery and alienation. … they create a scenario in which the only way to secure self-hood is to embrace an identity in conformity with the employee desires“ (Bloom 2013, p. 793). Die eigenen Interessen nach Selbstentfaltung, sinngebender Tätigkeit, Entspannung, gutem Essen, persönliche Begegnung mit Freund:innen und Familie etc. werden negiert und den allzu unbestimmten Erfordernissen der bezahlten Beschäftigung durch eine betriebliche Unternehmung unterworfen. Nicht allein in der für Entlohnung zur Verfügung gestellten Arbeitszeit unterwirft sich die Persönlichkeit dem Diktat der Fremdbestimmung. Auch der gesamte Lebensentwurf dient der Kompetenzentwicklung, der Regeneration der Arbeitskraft, und zwar mit allen Aktivitäten in der Freizeit. Die Selbstvermarktung reicht hinein in die Repräsentanz in den sozialen Medien, die zum Teil der eigenen Marke werden. In der Freizeit erworbene Kompetenzen werden zum Gegenstand des Profils im EuroPass.

Die Unbestimmtheit der anzueignenden Fähigkeiten und Kompetenzen, die sich aus dem Konzept der Employability ergibt, verstärkt die Fremdheit und Überforderung. Sie lauten Kommunikations- und Teamfähigkeit sowie die Fähigkeit zur Selbststeuerung. Das Erreichte ist demzufolge immer nicht genug. Optimierung der eigenen Fähigkeiten und Steigerung der eigenen Aufopferungsbereitschaft sind immer denkbar. Und so zieht sich auch die Pädagogik als Orientierungsmarke für Werte und gesellschaftliche Ziele des Humanen zurück und versteckt sich hinter den modernen Phrasen der Reflexivität, des Lebenslangen Lernens und der Weiterbildung, die kein Ende findet, weil permanente Optimierung immer möglich ist.

Demgegenüber kann eine verbindende Berufsbildung stärkend wirken!

Persönlichkeitsentwicklung, sinnvolle Arbeit und Verbindung

Berufliche Bildung erschließt die, dem beruflichen Handeln zugrundliegenden Prozesse als gesellschaftlich und sozial ausgehandelte Wechselprozesse zwischen Mensch und Natur. Sie verbindet somit das Handeln des Einzelnen mit einem größeren Sinnkontext. Die Prozesse zielen darauf mit planmäßigem Vorgehen einen Mehrwert zu erzielen, der auf Nützlichkeit für die gesamte Menschheit ausgerichtet ist, wenn es um sinnvolle Arbeit und Tätigkeit gehen soll. Ein Ziel, das bereits John Dewey für Bildungsprozesse formuliert hat: „… a change in the industrial system to better human life for all.“ (Shermann 1974, p. 220). Erst dann ergibt Arbeit wieder Sinn und dient der menschlichen Entwicklung. Unter diesen Bedingungen ist Arbeit und berufliches Handeln nicht darauf ausgerichtet, Alimentierung des Lebens außerhalb der Arbeit zu ermöglichen, sondern sinnstiftende menschliche Tätigkeit zu sein.

Thomas Vogel macht für die Entsinnlichung der Arbeit die zunehmende Distanz des Menschen zur Natur und seinen eigenen Sinnen verantwortlich. Weil in der Arbeit auf technologischen Leitständen Knöpfe gedrückt und Daten analysiert oder Wertpapiere gehandelt und Geldströme in Abbildsystemen gesteuert werden, befördert dies die Entfremdung von sich selbst und der Natur. „Hingegen wird die Arbeit an Ganzheit durch Selbstveränderung eine wichtige Grundlage eines neuen Konzepts gesellschaftlicher Veränderung sein, in das Sinnlichkeit, Körperlichkeit, Natur und Gesellschaftlichkeit gleichberechtigt einbezogen werden.“ (Vogel 2011, S.362 f.) In einer solcherart verstandenen beruflichen Bildung verschieben sich die Aufmerksamkeitsschwerpunkte und Bildungsziele von den derzeit im Fokus stehenden vagen Fähigkeiten, hin zur Wahrnehmung des eigenen Erlebens, der Erschließung komplexer Tätigkeitssysteme. Ausgehend von der Perspektive der arbeitenden Individuen sind die Ziele und Logik der Tätigkeitsysteme zu erschließen, die als Sozialsysteme mit Kolleginnen und Kollegen, Kundinnen und Kunden oder ggf. Patientinnen und Patienten sowie mit Eigentümern oder „Chefs“ verknüpft sind und mit vor- und nachgelagerten Produktions- und Arbeitsprozessen, die ggf. gar nicht im eigenen Land stattfinden Beziehungen haben.

Praktischer Exkurs zu betriebswirtschaftlichen Entscheidungslogik in der Berufsausbildung

Im Rahmen eines betrieblichen Modellversuchs konnten so, bspw. die Spannungsfelder von internationaler Konkurrenz und Bildungsinvestition in einer Gruppe von Auszubildenden thematisiert werden. Es zeigte sich seinerzeit, dass ein ausländischer Anbieter die gefertigten Metallteile einer Lern- und Arbeitsinsel, die zu Ausbildungszwecken eingerichtet wurde, zu einem Preis anbot, die dem deutschen Materialpreis der Ware entsprach. Damit lag betriebswirtschaftlich die Einstellung der neuen Ausbildungsform nahe. Mit Betriebsrat, Auszubildendenvertretung und Geschäftsleitung wurde eine Entscheidung für den Erhalt der Fertigungstiefe, der Qualitätssicherung und Bildungsinvestition gefällt und die fertigungsnahe Ausbildungsform erhalten. Der politische Zusammenhang von Materialketten, Transportkosten und Mitbestimmungsstrukturen konnte durch diesen Diskurs in der Ausbildung erschlossen werden (Rützel/Schapfel 1997). Damit erfolgte eine betriebliche Entscheidung, die unterstrich, was Wolfgang Lempert einst betonte. „Den Ausbildungsstand der Arbeiter und Angestellten verbessern, heißt darum auch: den Weg bereiten für die Demokratie. Wer die Mündigkeit des Menschen in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat erstrebt, wird sich nicht begnügen mit dem Minimum an Berufsausbildung, das die fortgeschrittene Technik ohnehin verlangt. Er wird die Steigerung der Berufsqualifikation bis an den Rand des wirtschaftlich zweckmäßigen unterstützen.“ (Lempert 1974, 41)

Beruf als funktionales Arbeitsmarktelement, potentieller Sinngeber, und Zugang zu einer „community of practice“

Der Beruf bietet noch immer „…eine entscheidende Ressource der Stabilisierung von Erwerbsmustern auf dem Arbeitsmarkt“ (Konietzka 1999, S. 397) mit Wirkungen auf die Persönlichkeitsbildung und hinsichtlich der Matchingfunktion auch für die betriebliche Seite. Hinsichtlich der Innovationsfähigkeit des deutschen Wirtschaftssystems hebt Gerhard Bosch hervor: „Die Diffusion von Innovation kann daher nur über die Köpfe und somit über Aus- und Weiterbildung erfolgen. …. Die Stärke der deutschen Industrie liegt also nicht in wenigen nationalen Champions, sondern vor allem auch in den mittleren und kleinen Unternehmen (KMU) der Produktion und des Handwerks und deren an Berufen orientierten Ausbildung.“ (Bosch 2016, S. 3)

Damit schaffen Beruf und Beruflichkeit nach wie vor eine Einbettung in größere Zusammenhänge als nur die der unmittelbaren Lohnerwerbsfunktion und verbindet mit einem betrieblichen und gesellschaftlichen Sinnkontext. Diese Funktion, die in älteren Schriften als „innerer Beruf“ oder Beitrag zur Identitätsbildung gefasst wurde, begründet sich in der Übernahme von gesellschaftlichen Aufgaben, die auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung zurückgeht und in die sich bis heute Berufe zuordnen lassen. So lassen sich Bäcker:innen, Milchtechnolog:innen und Landwirte in den Kontext der Lebensmittelversorgung stellen, wie Hebammen, Ergotherapeut:innen und Pflegefachpersonal in den Kontext der Gesundheitsversorgung. So ließe sich die Reihe beliebig fortsetzen über die Warenproduktion, den Handel, die Logistik, Verwaltung, Versicherung, soziale Versorgung, Bildung etc. Diese gemeinsamen Sinnkontexte und der Vollzug ähnlicher Tätigkeiten bewirkt die Ausbildung ähnlicher Verhaltens- und Denkweisen – beruflicher Mentalitäten, die zu einem identitätsstiftenden Verständnis des Berufsstandes führen im gemeinsam geteilten Wissen um: „Wir sorgen für …(warme Brötchen/eingeräumte Einkaufsregale)“ oder „Wir sind die, die ….(das Dach decken/die Buchhaltung übernehmen)“ bis hin zu dem „Wir sind …(Kaufleute/Energieversorgende)“. Dass dies so ist hat auch wesentlich mit der Gestalt des Berufsbildungssystems zu tun und ist bei weitem nicht in allen Ländern gleich (Kaiser 2020). Die skandinavischen Länder setzen so auf breite berufliche Grundbildung im Rahmen beruflicher Bildungsprogramme in der integrierten Sekundarstufe II, die in berufliche Handlungsfelder unterteilt sind, die sich den oben genannten gesellschaftlichen Funktionen zuordnen lassen. Die Befähigung unter Einbeziehung des Lernorts Arbeitsplatz erfolgt dann erst zunehmend im Ausbildungsverlauf und der damit einhergehenden Spezialisierung auf Berufsprofile (Kaiser 2023a)

In einer Zeit der zunehmenden Auflösung von gesellschaftlichen Traditionen und Mustern, sowie kulturellen Übereinkünften schaffen Berufe eine nicht zu vernachlässigende Identitätsfolie für die Einzelnen, die Fortbestand hat, wenn die betriebliche Bindung durch eine regionale oder karrierebedingte Veränderung oder aufgrund von betriebsbedingter Kündigung aufgelöst wird. „So bildet der Beruf immer noch einen, wenn nicht den Kristallisationspunkt sozialer Identität“ (Kaiser & Brötz 2015, S. 233). Denn der Beruf schafft auch Orientierungspunkte für die berufliche Weiterentwicklung hin zu Gesell:innen und Facharbeiter:innen oder Berufschullehrkräften mit denen Auszubildende in Kontakt kommen. Der Beruf bietet durch geregelte Aufstiegsfortbildungen weitere Lern- und Entwicklungsperspektiven und stellt erreichbare und erweiternde Handlungs- und Gestaltungsspielräume dar. Vor allem aber schafft er aber auch die frühe Entwicklung von spezifischem Expertenwissen und spezalisierten Fähigkeiten, die jungen Menschen dabei unterstützen ein fundiertes Selbstbewusstsein zu entwickeln, weil aus einer fachlich begründeten Basis heraus Handlungsalternativen formuliert werden können (Kaiser 2023b).

Welche Bedingungen gegeben sein müssen um diesen verbindenden Kontexten zugleich auch ein emanzipatives Potential umfassender Persönlichkeitsentwicklung zuzusprechen, arbeitet der folgende Abschnitt heraus.

Berufliche Bildung als Ertüchtigung für ein sinnvolles Leben und Glück- Ein theoretisch fundiertes Orientierungsmodell

Damit berufliche Ausbildung als Zugang zu einer kritisch emanzipativen Lebensgestaltung und damit umfassenden Persönlichkeitsentwicklung beiträgt, muss sie sich aus dem ökonomischen Verwertungsdiktat befreien. Sie muss den Horizont über die Anforderungen des Dienstherrn oder Lehrmeisters hinaus erweitern. Dann kann sie die Entwicklung einer selbstbestimmten, emanzipativen Persönlichkeit ermöglichen, die zugleich berufsfachlich qualifiziert ist. Darum werden kritische Reflexions- und Gestaltungsfähigkeit auch zu Zielkategorien der beruflichen Bildung. Denn die heranwachsenden Arbeitskräfte können nicht aus den Spannungsfeldern widerstreitender Interessen und Ziele entlassen werden, wenn sie doch zu mündigen Bürgern werden sollen, die ihre Mitbestimmungsrechte nicht bei Arbeitsbeginn zur Seite legen sollen (Kaiser & Ketschau 2019). Sie können nicht aus der Verantwortung entlassen werden. „Klugheit entsteht durch Einübung der charakterlichen und der intellektuellen Tugend, mit dem Ziel, das Gute mit dem Glück zu verbinden. Der Ansatz der Strukturganzheit einer Handlung zielt also auf die Gesamtheit und damit auf die Besonderheit jeder Situation. Es geht darum, das eigene Glück mit dem Glück der Gemeinschaft zu verbinden…“ (Tafner 2015, S. 286).

Das Recht auf die Gestaltung des eigenen Glücks ist unteilbar und damit kann auch das Recht auf eine emanzipative Berufsbildung nicht verwehrt werden. Lernende sind demzufolge mit den Widersprüchen unserer Gesellschaft zu konfrontieren, die von den Ungleichheiten der Chancenverteilung bis in den eigenen, kleinen Verantwortungsbereich hineinreichen, wenn es um Lieferketten im kaufmännischen Handeln geht oder die Verwendung ökologischer Farben und Lacke im Handwerk (Kaiser 2023a) oder die Widersprüchlichkeiten, die mit Kundenorientierung und Gewinnmaximierung einhergehen. „Die Herausforderung besteht darin, im Bewusstsein der großdimensionierten gesellschaftlichen Probleme selber glücklich zu sein und entlang von humanen und ökologischen Werten ‚gegen den Strom zu schwimmen‘. Die gelungene Reaktion auf den Anpassungsdruck, in der man umfassend verantwortungsvoll und gleichzeitig glücklich ist, könnte auch intrinsischer Widerstand genannt werden.“ (Hanf 2021 , S. 61f.). Dieser von Anna Hanf als „intrinsischer Widerstand“ gefasste Zustand bedarf der Gleichzeitigkeit von Kompetenzerleben, Verbundenheit und Autonomie, die nur dann auftreten kann, wenn Arbeits- und Bildungsprozesse gestaltende Partizipation ermöglichen.

Aus all diesen Überlegungen ergibt sich ein Orientierungsmodell für eine kritisch-emanzipative Berufsbildung, das Berufsbildung als humanen und erweiternden Prozess begreift (Kaiser 2019). Es lehnt sich in seiner Struktur an das geläufige Verständnis beruflicher Handlungsfähigkeit an (s. Abb. 1), dass uns sowohl im Text des Berufsbildungsgesetzes wie auch in den Strukturen des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) begegnet. Demnach bedarf berufliche Handlungskompetenz des Verfügens über fachliches Wissen und Können, der Kompetenz zur Interaktion und Kommunikation im sozialen Miteinander sowie der selbstständigen Steuerung der eigenen Persönlichkeit, bis hin zur Berücksichtigung eigener Bedürfnisse. So heißt es auch bei der KMK. „Handlungskompetenz wird verstanden als die Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen, sich in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten.“ (KMK 2021, S. 15)

Abbildung 1: Berufliche Handlungsfähigkeit mit Kompetenzbereichen

Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an KMK 2021

Das Beschreibungsmodell der KMK, wie auch das Kompetenzraster des DQR fokussieren die anzueignende Kompetenzen und den damit verbundenen Lernprozess. Wir nutzen hingegen ein Modell, dass sich an die Themenzentrierten Interaktion anlehnt (Cohn 1983) mit den Dimensionen für die Beschreibung der Ziele des Berufsbildungsprozesses. Es umfasst ähnliche Kategorien, die aber dort kurz als Ich (Selbstkompetenz), Wir (Sozialkompetenz) und Thema (Fachkompetenz) gefasst werden und noch ergänzt werden um die Dimension des Globe (Umgebung/Natur).

Im nachfolgenden wird ein erweiterter Berufsbildungsprozess beschrieben, der den Zielen der KMK nicht unähnlich ist, aber stärker auf die Perspektive des Subjekts und der Gemeinschaft/Gesellschaft sowie die Berücksichtigung der Rahmenbedingungen bzw. der globalen Welt fokussiert (Abb 2).

Abbildung 2: Berufsbildung als verbindender Prozess

Für einen arbeitnehmerorientierten Berufsbildungsprozess müssen die Aus- und Weiterbildungen angehender Fachkräfte die Freiräume zur Verfügung stellen, die systematische und erfahrungsbasierte, reflektierte Einblicke in die Prozesse des beruflichen Handelns ermöglichen, damit sie sich mit den Gegenständen und den in den Arbeitsprozessen eingelassenen Mechanismen verbinden können, diese Begreifen und entschlüsseln und zum geübten Umgang damit gelangen können (s. Abb. Oben „sich mit den Gegenständen und Mechanismen verbinden“). Analysiert man Handlungssituationen des beruflichen Alltags aus unterschiedlichen Branchen, so weisen sie auf der Ebene der Tätigkeiten qualifizierter Fachkräfte Handlungsspielräume auf, die individuelle Entscheidungen erfordern (Kaiser 2017). Diese Handlungsspielräume z.B. moralisch zu bewerten um zu verantwortlichen Entscheidungen zu kommen, setzt Reflexionsprozesse voraus und ggf. auch den Austausch mit anderen in einer offenen und vertrauensvollen Kommunikation.

Zugleich erfordern Arbeitsanforderungen auch soziale Interaktionen (s. Abb. Rechts: „sich mit den anderen verbinden“). Wie gehen Auszubildende mit einer rassistischen Äußerung im Ausbildungsbetrieb um, insbesondere, wenn diese von einem Vorgesetzten stammt? Welche Möglichkeiten ergeben sich aus einer Handlungssituation einer überbelegten Pflegestation, in der eine vernachlässigte Patientin erneut nach der Pflegekraft klingelt? Lässt sich eine solche Situation mit ihren Bedingungen im Unterricht oder der betrieblichen Ausbildung analysieren und Handlungsmöglichkeiten entwickeln, die auch mittelfristige Veränderungen ermöglichen?

Hier lassen sich dann konkrete Situationen in den Arbeitsprozessen auf ihre Wirkungen im Umfeld hin betrachten und das eigene Handeln wird in seinem Zusammenhang zur unmittelbaren oder auch weiteren Umwelt begriffen (S. Abb. Mitte links: „sich mit Gesellschaft, Natur und der Welt verbinden“).

Berufliche Entscheidungen von Auszubildenden bewegen sich häufig in dem Spannungsfeld zwischen dem eigenen Anspruch und den realen Arbeitsbedingungen. Der eigene Anspruch an die Qualität der Arbeit und des Produktes als Objekt der eigenen Vergegenständlichung und des eigenen Vermögens steht oft im Widerspruch zu den zeitlichen Vorgaben, die sich auf die Kosten der Arbeit auswirken und zu der Frage führen, wie umfassend Mitarbeitende und Kund:innen über diese Zusammenhänge zu informieren sind.

In der beruflichen Bildung sind demzufolge immer wieder diejenigen Prozesse zugänglich zu machen, welche dem beruflichen Handeln zugrunde liegen und die als Wechselprozesse zwischen Mensch und Natur zu verstehen sind, welche gesellschaftlich und sozial ausgehandelt werden (s. Abb. Mitte links: „sich mit Gesellschaft verbinden“).

Die Dualität der Lernorte Schule und Betrieb sowie eine gewerkschaftliche Organisation kann helfen die eigenen Erfahrungen im Arbeitsalltag in der beruflichen Ausbildung mit anderen zu teilen und die wissenschaftlichen, fachrichtungsbezogenen Kenntnisse zu durchdringen und auch die technischen Grundlagenmechanismen zu begreifen. Nicht zuletzt müssen auch die eigene individuelle Genese und die damit verbundenen sozialen Verhaltensweisen und Werthaltungen (Mentalitäten) einer Reflektion zugänglich gemacht werden, was in wertschätzendem kollegialen Umgang möglich ist. Nur so kann die Tradition der Knechtschaftserziehung der Berufsbildung überwunden werden, wie Heydorn diese beruflichen Lernprozesse einmal nannte: „Die Bildung des Begriffs, Bewußtseinsbildung im strikten Sinne, fällt dem Herrn zu, (und) damit die Möglichkeit der Verfügung über das empirisch Gegebene, der freieren Bewegung in Zeit und Raum; die Bildung des Knechts bleibt an das Materiale gebunden, er ist Arbeitskraft.“ (Heydorn 1970, S. 270)

Die zum Teil unangenehme Auseinandersetzung und Irritation beim unverstellten Blick auf sich selbst und die Welt sollte ein Teil der Ausbildung werden, um biografische Gestaltungskompetenz und Resilienz zu entwickeln (Schapfel-Kaiser 1998). Damit wird berufliche Bildung auch zum Ort intensiver biografischer Selbstreflexion im Hinblick auf die eigenen sozialen Zusammenhänge und bewusste sowie unbewusste Vorbilder. Emanzipation von Vorgegebenem muss möglich und explizites Ziel für Auszubildende als mündige Bürger:innen werden, um bestehende Unterschiede zu überwinden. „So, in the context of social reproduction the results from this study in many ways echo findings of many previous studies that individuals from subordinated class positions are trained to occupy subordinate positions in the future too.” (Nylund et.al. 2019, S. 14). Dieser von Nylund et.al. als ungleicher Zustand der Klassen ist zu überwinden. Schon gar nicht ist die Ausrede zu akzeptieren, dass junge Menschen, die in eine Berufsausbildung münden, mit komplexen Überlegungen nicht überfordert werden sollten. In dem Moment wo es gelingt die Widersprüche in ihren unmittelbaren Wirkungen auf die Alltagswelt der Auszubildenden zu beziehen, erhalten sie Lebensnähe, berühren die Persönlichkeit und bekommen eine emotionale Dimension, die Lernprozesse auf dem Weg zum „intrinsischen Widerstand“ befördern.

Damit wird deutlich, dass politische, gesellschaftliche Bildung in die berufliche Bildung integriert werden muss und zwar nicht als Lernen von Daten und Fakten zum bestehenden politischen System, sondern als ein von den Lernenden selbst aus gedachter Lernprozess, der ihre politischen Gestaltungsmöglichkeiten fokussiert. Dieser erfolgt dann unter Bezugnahme auf die Lernenden und ihre jeweilige Verbundenheit zu sich und ihren Beruf. Die aktuelle Gestalt des zu erwerbenden Berufs ist auch als eine historisch gewachsene zu begreifen, wodurch Veränderbarkeit sichtbar wird, die auch durch die Berufsausübenden selbst erfolgen kann, wenn sie sich organisieren um ihre Bedürfnisse in den Veränderungsprozess einbringen. Dann kann sichtbar werden, dass es gewerkschaftliche Bewegungen waren, die Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz errungen haben und nicht die nun bestehenden Berufsgenossenschaften, die den Auszubildenden ggf. als fremde Institutionen begegnen. Gleiches gilt für das Erkämpfen reduzierter Arbeitszeiten und steigender Löhne oder auch dem Recht auf Bildungsurlaub etc. (Ten Dam & Volman 2007). So sprechen auch Uwe Elsholz und Rita Meyer von einer inhaltlichen und methodischen Konvergenz der beruflichen und der politischen Bildung im Zusammenhang mit der Arbeit von Gewerkschaften: „Auffällig ist, dass sich mit dem Wandel zu einem subjektorientierten Bildungsverständnis auch das Verständnis des ‚Politischen‘ verändert hat. Neben der Betonung der Bewahrung traditioneller politischer Inhalte – wie z.B. gesellschaftliche Gegenentwürfe, Entwicklung von Utopien, Auseinandersetzung mit konkreten Politikfeldern – treten neue Inhalte und Formen der Bildungsarbeit hinzu. Das alltägliche und das berufliche Handeln werden auch als politisches Handeln begriffen und damit wird auch die konkrete Verbesserung der individuellen Handlungsfähigkeit als politischer Auftrag der Gewerkschaften angenommen.“ (Elsholz & Meyer 2003, S. 99). Die Erfahrung der Teilnahme an einer Streikdemonstration mit mehreren tausenden Gleichgesinnten kann ein gestärktes Selbstbewusstsein durch erlebte Solidarität mit den Angehörigen im eigenen Beruf hinaus ggf. zu allen anderen abhängig Beschäftigten und deren Interessen erzeugen.

Die Antagonismen beruflicher Bildung sollten also nicht verborgen bleiben, sondern zugänglich werden, wenn von Berufsbildung gesprochen wird. „Es geht darum, gegen das bewußtlose Funktionieren im Sinne der Vernutzung in Arbeit und Freizeit eine Kultur der Muße zu setzen, jene distanzierte Gelassenheit, die die unverzichtbare Grundlage für ein Besinnen in allem Tun darstellt. Dazu bedarf es vor allen Dingen des Widerstands gegen das der kapitalistischen Ökonomie innewohnende Diktat der Beschleunigung.“ (Ribolitis 1997, S. 240). In diesen Momenten der Muße, die in beruflichen Lernsituationen zu schaffen sind, kann ein Sinnieren über „echte“ Bedürfnisse stattfinden, ebenso können Übungen der Achtsamkeit stattfinden, wie kreative, künstlerische Entwürfe einer anderen Wirklichkeit, die gemeinsam angestrebt wird. Dann kann eine, so geschaffene Realität zur gemeinsam geteilten Fluchtburg der Vernunft werden, die als konkretisierte Aussicht Anknüpfungspunkte für die Transformation des erlebten Alltags bietet. So entsteht Motivation für die Wege der Mitbestimmung, Freude an der Einmischung und Veränderung, wenn die geteilten Erfahrungen aus dem Arbeitsalltag, die von illegitimer Herrschaft zeugen auf authentische Begegnung und Zuhören treffen. Kollektive solidarische Bildung im Ausbildungs- und Arbeitsleben weist über die bestehenden, fremdbestimmten Curricula hinaus und trägt zur Stärkung der Selbstsetzung der Auszubildenden bei. „Erst in der Einheit von qualifizierender Arbeitsgestaltung und in der Stärkung beruflicher und gesellschaftlicher Handlungskompetenzen wird hieraus ein den umfassenden Anforderungen gerechter und sinnvoller Ansatz.“ (Kassebaum 2023)

Axmacher, Dirk: Erwachsenenbildung im Kapitalismus. Ein Beitrag zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors in der BRD. Frankfurt 1974

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Autor

  • Prof. Dr. Franz Kaiser

    Prof. Dr. Franz Kaiser, Direktor des Instituts für Berufspädagogik an der Universität Rostock, Schreinerausbildung, Studium für das Lehramt an beruflichen Schulen, Master Pädagogik, Promotion zu Zeit und Beruf, Ordnungsarbeit am BIBB, Benachteiligtenprojekte und Forschung zu kaufmännischen Berufen, internationalen Vergleichen, Geschichte, kritischer Berufsbildung und Lernen in Gruppen. Mitglied im Wiss. Beraterkreis von IGM und ver.di.