Uta Kupfer (Leiterin des Bereichs Bildungspolitik der vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di)

Im dualen System der Berufsausbildung spielt der Betrieb nach wie vor eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Persönlichkeit von Auszubildenden. Er ist der zentrale Lernort, geprägt durch umfassende Anforderungen an die Entwicklung von Fach-, Sozial- und Humankompetenz. Die Berufsinhalte werden nicht isoliert als Fertigkeiten und Kenntnisse vermittelt, sondern in den betrieblichen Arbeits- und Geschäftsprozessen erlernt. Hier lernen Auszubildende den Herausforderungen der Arbeitswelt zu begegnen und eigenständig im Berufsfeld zu agieren. Das Lernen im Betrieb sorgt aber auch dafür, dass sie hineinwachsen in die community of practice.

Unter den Bedingungen der Transformation, verbunden mit einer gewissen Unsicherheit darüber welche Arbeitsprozesse zukünftig wie ablaufen werden und damit auch die Unsicherheit welche Qualifikationen zukünftig genau gebraucht werden, kommt dem Lernen im Betrieb noch einmal mehr Bedeutung zu. Betriebliches Lernen ist immer auch soziales und informelles Lernen. Mit Kolleginnen und Kollegen nach Lösungen für anstehende Probleme suchen, Konfliktlösestrategien gemeinsam entwickeln, ist ein Teil davon.

Kooperationsbereitschaft, Resilienz und die Fähigkeit zu kollaborativem Arbeiten sind Kompetenzen, die Fachkräfte bereits jetzt und vor allem künftig auszeichnen werden.

Das erfordert, den Lernort Betrieb als Ausbilder*in bewusst zu nutzen.

Im nachfolgenden Interview mit Sibylle Tollkötter, einer langjährigen Ausbilderin am Amtsgericht in Frankfurt am Main soll es darum gehen, einen Blick aus Sicht der Praxis auf Entwicklungswege junger Menschen zu werfen und Veränderungen in den letzten Jahren zu betrachten.

Sibylle, du bist seit fast 30 Jahren Ausbilderin im Amtsgericht in Frankfurt am Main. Ihr bildet vor allem Justizfachangestellte aus.

Ich würde gern wissen, wie du die Persönlichkeitsentwicklung deiner Auszubildenden während der Berufsausbildung wahrgenommen hast.

Kannst du aus deiner langjährigen Erfahrung heraus schildern, welche Entwicklungen du bei deinen Auszubildenden beobachtet hast?

Sibylle: Wenn die Auszubildenden zu uns kommen, müssen sie lernen sich zu organisieren, miteinander zu kooperieren und Eigenverantwortung zu übernehmen. Auch den Umgang miteinander müssen sie lernen. Dazu gehört auch, Kompromisse einzugehen, in der Zusammenarbeit mit anderen Azubis, den Kolleg*innen, Ausbildern und Vorgesetzen. Das sind soziale Kompetenzen, die sie nicht automatisch aus der Schule mitbringen, sondern im Arbeitsleben erlernen.

Wieviel Einfluss hast du als Ausbilderin auf die Persönlichkeitsentwicklung?

Sibylle: Ich persönlich lege großen Wert darauf Vorbild zu sein. Ich will das vor-leben, was ich von den Auszubildenden dann auch erwarte.

Ich beobachte, dass die Auszubildenden, die jetzt zu uns kommen viel reifer in ihrer Entwicklung sind, weil sie oft schon älter sind, weswegen die Ansprache auch eine Andere sein muss.

Ich werde nicht automatisch als Respektsperson anerkannt, nur, weil ich die Ausbilderin bin.

Akzeptanz und Respekt bekomme ich nur, wenn ich authentische bin. Wenn die Bereitschaft seitens der Auszubildenden da ist, hat man großen Einfluss auf sie, wenn man authentisch ist.

Die Gesprächsebene mit den Auszubildenden hat sich verändert. Ich spreche mit ihnen so, wie ich auch mit meinen Kolleg*innen spreche.

Wie verändern sich die Auszubildenden in der Ausbildung?

Sibylle: Ich erkenne einige Veränderungen im Verlaufe der Ausbildung.

Die Auszubildenden lernen, sich auf Menschen einzulassen. Ihre Kommunikation verändert sich.

In unserem Beruf, Justizfachangestellte, müssen sie sich auf Menschen einstellen, die z.T. mit sehr sensiblen Anliegen zu uns kommen. Es gehört schon viel Einfühlungsvermögen und Professionalität dazu wenn eine Betreuung eines Angehörigen geregelt werden muss oder Anliegen im Todesfall und des Nachlasses besprochen werden müssen. Das ist kein Gespräch, dass sie am Anfang der Ausbildung führen können. Das müssen sie in der Ausbildung lernen.

Ist dir ein/e Auszubildende/-r besonders in Erinnerung geblieben?

Sibylle: Ja, es gab da einen Auszubildenden, der es mit den Leistungen gerade immer so geschafft hat aber von seiner Art her ist er sehr nett. Er hat sich zu einem richtigen Stimmungsaufheller in seiner Abteilung entwickelt. Es ist eine große Freude, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Ich erinnere mich auch an junge Frauen mit Kind, die eine Teilzeitausbildung absolviert haben. Sie haben es trotz dieser zusätzlichen Aufgabe gut hinbekommen, brauchten aber auch das besondere Augenmerk der Ausbilder.

Wir haben natürlich auch Auszubildende, die die Prüfung nicht im ersten Anlauf schaffen. Da muss man sich viel Mühe geben, damit sie die Ausbildung doch noch schaffen. Sie bekommen dann besondere Förderung bei uns und erkennen unsere Mühe aber auch an.

Kommen Auszubildende mit anderen Anforderungen in die Ausbildung als früher?

Sibylle: Wir haben in Hessen 5 Ausbildungsgerichte und dadurch einen großen Einzugsbereich mit langen Fahrzeiten. Die Auszubildenden kommen nur zu uns, wenn sie die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit erkennen. Dieser Anspruch ist sehr viel stärker geworden. Sie wollen genau wissen: Was mache ich da eigentlich am Gericht und wem nützt meine Arbeit? Lohnt sich der finanzielle und zeitliche Aufwand den ich für den Weg zur Arbeit habe?

Wir haben ein Landesticket für den ÖPNV für alle Landesbeschäftigten, damit hält sich der finanzielle Aufwand im Rahmen. Aber viele der Auszubildenden kommen nur zu uns, wenn sie die Frage, ob sie in ihrem späteren Job nützlich sind, mit ja beantworten können.

Wie hat sich Ausbildung während der Corona-Pandemie verändert und was ist da von erhalten geblieben?

Sibylle: Corona war ein Digitalisierungs- Booster. Wir haben gute Vorgesetzte, der schnell gehandelt haben und die Azubis mit allen notwendigen Dingen im Homeoffice versorgt hat. Wir haben es gut hinbekommen.

Es gab Skype Konferenzen zum Kennenlernen, der Unterrichtsstoff wurde vermittelt und die Prüfungen haben in Anbetracht der Umstände auch gut geklappt.

Jetzt gibt es eine Dienstvereinbarung, dass 25% Homeoffice für Azubis ist möglich ist. Das bedeutet, dass Projektaufträge und Arbeitsaufgaben zu Hause erledigt werden können. Der Unterricht findet weiterhin in Präsenz statt. Eine elektronische Akte, die zu Hause bearbeitet werden könnte, gibt es noch nicht. Dafür ist der Start erst am 01.01.2026.

Hat es Auswirkungen auf die Entwicklung der Auszubildenden, wenn Anteile der Ausbildung im Homeoffice absolviert werden?

Sibylle: Eigentlich nicht, es sind ja auch im Höchstfall nur 25%. Was ich aber merke ist, dass den Auszubildenden der persönliche Austausch fehlt und die Reflexion. Es ist besser vor Ort zu sein, um mal direkt nachfragen zu können- das ist auch online möglich aber es ist eine Hürde. Sie fühlen sich im Homeoffice ein bisschen isoliert.

Auszubildende sind heute reifer wenn sie in die Ausbildung gehen, stellen hohe Ansprüche an den zu erlernenden Beruf und fordern dich als Ausbilderin.

Würdest du sagen, dass die Ausbildung im Betrieb eine Persönlichkeitsentwicklung mit sich bringt?

Sibylle: Ja, das ist ja unser Auftrag auch die Persönlichkeit unserer Auszubildenden zu entwickeln. Das unterscheidet die Berufsbildung auch vom Studium. Auszubildende im Gericht haben tagtäglich mit Kollegen, Bürger, die gleichzeitig Kunden sind und uns den Ausbilder*innen zu tun. Mit all diesen Menschen müssen umgehen. Ich würde sagen, sie lernen bei uns das Leben.

Kannst du da mal ein Beispiel geben, was du meinst?

Sibylle: Beim Umgang mit rechtssuchenden Bürgern z.B. müssen sie zuhören, müssen erkennen und verstehen, was das Anliegen ist, empathisch auf den Menschen eingehen, der da vor ihnen am Schreibtisch sitzt und vielleicht gerade einen nahen Angehörigen verloren hat. Sie brauchen interkulturelle Kompetenzen um angemessen reagieren zu können und sie müssen erklären können, wie mit dem Anliegen umgegangen werden muss, auf Nachfragen reagieren…

Ich sehe meine Arbeit als Ausbilderin auch ein bisschen als Erziehende. Wir vermitteln Werte und soziale Kompetenzen, erklären, wie man Menschen begegnet und dass unsere Arbeit eine Dienstleistung ist.

Würde es die Ausbildung im Betrieb nicht geben, würde viel fehlen.

Autor

  • Uta Kupfer

    Leiterin des Bereichs Bildungspolitik der vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Studium der Geschichte an der Universität Leipzig, 1988 Abschluss als Diplomhistorikerin, Lehrerin in der Erwachsenenbildung, Jugendsekretärin in der Gewerkschaft HBV, 1995-1999 Bundesjugendsekretärin der HBV, 2001 Referentin im Bereich Berufsbildungspolitik bei ver.di, 2008 -2022 Leiterin des Bereichs Bildungspolitik der ver.di, Mitglied des BiBB Hauptausschusses, des ständigen Unterausschusses des Hauptausschusses, der Arbeitsgruppe DQR/EQVET, des DQR Arbeitskreises, des Arbeitsausschusses der Allianz für Aus- und Weiterbildung und div. anderer Arbeitsgruppen und Gremien, Federführung in über 20 Neuordnungsverfahren der Aus- und Fortbildung, Sachverständige der Enquete Kommission für Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt für Bündnis90/Grüne 2019-21