Helena Kaiser (wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet Lebenslanges Lernen an der Fernuniversität in Hagen), Dr. Bernd Kaßebaum (Mitglied der Redaktionsgruppe von DENK-doch-MAL), Prof. Dr. Gabriele Molzberger (Professorin für Erziehungswissenschaft und auch Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Weiterbildung an der Universität Wuppertal) und Prof. Dr. em. Andrä Wolter (Professor für Hochschulforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin)
Erwerbsarbeit verändert sich. Aber auch das Verständnis und der Stellenwert von Arbeit im Leben der Menschen wandeln sich sowohl im gesellschaftlichen Prozess wie auch in den Lebensläufen der Individuen. Unterschiedliche Phänomene mögen dies veranschaulichen. Zu nennen sind die umfassende Digitalisierung der Arbeit und die weitreichenden Veränderungen durch Künstliche Intelligenz. Zudem stellen der Klimawandel und der damit verbundene ökologische Transformationsprozess neue Herausforderungen an Beschäftigung, Bildung und Gesellschaft. Die sog. Tertiarisierung von Arbeit und Gesellschaft schreitet voran. Im Jahr 2022 waren 13,7 % aller Erwerbstätigen im Gesundheits- und Sozialsektor tätig.
Es verfestigt sich einerseits die Prekarisierung von Arbeits- und damit Lebensverhältnissen, auch, weil konstant viele Jugendliche und junge Erwachsene ohne Schulabschluss und Ausbildung bleiben. Andererseits schreitet die Höherqualifizierung aufgrund der Akademisierung und aufgrund neuer Aufstiegsmöglichkeiten in der beruflichen Fort- und Weiterbildung fort. Berufe ändern sich, sind nicht mehr nachgefragt, neue Berufe entstehen. Der Lebensberuf verliert bis auf Ausnahmen für die meisten, insbesondere für die jüngeren Beschäftigten an Bedeutung; Erwerbsarbeit wird nicht allein am Einkommen, sondern auch an ihrer Sinnhaftigkeit bemessen; lebensweltliche Interessen bekommen ein anderes Gewicht.
Jugendliche verfügen heute an der Schwelle zwischen Schule und Ausbildung bzw. Studium über eine Vielzahl von individuell kaum noch überschaubaren Möglichkeiten und damit auch über vielfältige Chancen für die Gestaltung ihrer Zukunft. Zugleich resultieren aus der Vielzahl von Wahlmöglichkeiten Informations- und Orientierungsbedarfe, Unsicherheiten und Risiken. Berufswahlentscheidungen bekommen so einen hohen Stellenwert in der Biografie von Jugendlichen und Beschäftigten.
Der Übergang von der schulischen Bildung in eine berufliche Ausbildung oder ein Studium, die sogenannte erste Schwelle, ist oftmals und beharrlich mit der Erwartung verbunden, dass es sich hierbei um einen Übergang handelt, der den weiteren Lebensverlauf bestimmt. Auch mit der zweiten Schwelle, dem Übergang in die Erwerbsarbeit, ist der Prozess nicht abgeschlossen, sondern erstreckt sich über die Erwerbsarbeit selbst bis in die Nacherwerbsphase bis ins fortgeschrittene Alter.
Befördert durch Strukturwandel, ökonomische Krisen und neue Technologien sowie durch Veränderungen in der Arbeitsorganisation, durch den Wegfall von Arbeitsplätzen, durch Arbeitsplatzwechsel innerhalb der Betriebe, Aufstiege und Umsetzungen oder durch die individuelle Suche nach neuen Arbeitsplätzen werden Berufsorientierung und Berufsberatung Teil des Erwerbslebens.
Wir möchten mit dieser Ausgabe von DENK-doch-MAL diesen Prozessen und ihrer Erörterung Raum geben. Leiten lassen wir uns erstens von der These, dass sich die Konzepte, die der Berufsorientierung zugrunde liegen, erweitern müssen. Inhaltlich geht es darum, dem Stellenwert von berufsbiografischen Kompetenzen einen größeren Stellenwert zukommen zu lassen. Es geht um die Frage, wie Schüler*innen, Auszubildende und Beschäftigte dazu befähigt werden können, sich ihrem Lebensalter und ihrer Lebenssituation entsprechend, gestaltend mit diesen Themen auseinander zu setzen.
Zweitens sind wir der Meinung, dass Berufsorientierung auch einer strukturellen Erweiterung bedarf, nämlich der Erweiterung auf das gesamte Erwerbsleben, vielleicht sogar darüber hinaus, wenn man an die Chancen und Anforderungen denkt, die sich für Personen jenseits der Erwerbstätigkeit ergeben. Deshalb stehen „die berufs- und erwerbsbiografischen Orientierungen im Lebenslauf“, so der Titel dieser Ausgabe, beginnend im schulischen Bereich, in der Ausbildung und im Beschäftigungsprozess in Form von Weiterbildung und Berufsberatung im Vordergrund der folgenden Beiträge.
Die mit diesen Aufgaben verbundenen Prozesse werfen Fragen auf: etwa, wie die Gesellschaft dafür sorgen kann, dass alle Jugendlichen einen Schulabschluss und einen Ausbildungsplatz bekommen können? Wie werden daraus realistische Beschäftigungsperspektiven? Wie können Schule und Gesellschaft Jugendliche und Beschäftigte auf diese Herausforderungen vorbereiten? Welchen Stellenwert haben die Interessen und Bedürfnisse der Lernenden? In welchem Verhältnis stehen sie zu der übermächtigen Dominanz von ökonomisch und technologisch begründeten, scheinbar objektiven Anforderungen an berufliche Qualifizierung, d.h. es geht auch um die Frage, wie können Lernende mit den mit diesen Prozessen verbundenen Lernzumutungen umgehen?
Wir vertreten in dieser Ausgabe die Auffassung, dass es nicht reicht, Berufsorientierung für Jugendliche und Beschäftigte normativ zu propagieren. In der Praxis kommt es darauf an, die Rahmenbedingungen, z.B. in den Lebenswelten und Arbeitsbedingungen, sowie die Interessenunterschiede zwischen ökonomisch oder technologisch abgeleiteten Lernanforderungen und subjektiven Lerninteressen zu berücksichtigen.
Was können Leser*innen von den Beiträgen erwarten?
Daniela Ahrens befasst sich mit der Bedeutung der Lebenswelten der Jugendlichen. Zudem spricht sie sich dafür aus, schulische Berufsorientierung und nachschulische Beratungskonzepte nicht zu vermischen. Um die Lebenswelten zu verstehen, fasst sie bedeutende Jugendstudien zusammen und referiert die in diesen Studien erkennbaren unterschiedlichen Typen von Jugendlichen und ihre Erwartungen an ihr Leben, ihren Bildungsweg und Erwerbsarbeit. Sie plädiert neben einer stärkeren Subjektorientierung in der Berufsorientierung dafür, „nicht kognitive Aspekte wie Motivation und lebensweltliche Handlungsmuster stärker in die schulische Berufsorientierung zu integrieren.“
Die schulische Berufsorientierung steht auch im Zentrum des Beitrags von Claudia Kalisch. Sie hat diesen nicht nur vor dem Hintergrund ihrer wissenschaftlichen Kenntnisse und Erfahrungen geschrieben, sondern auch aus ihrer Erfahrung als Mutter zweier schulpflichtigen Kinder. Ihr Focus ist die Analyse eines Bundeslandes. Sie setzt sich sowohl wissenschaftlich wie auch durch ihre Lebenssituation geprägt mit den Rahmenbedingungen, Ansatzpunkten und Perspektiven der Berufsorientierung in Mecklenburg-Vorpommern auseinander. Die vorhandenen Strukturen zur schulischen Berufsorientierung werden gewürdigt. Für die weitere Zukunft macht Claudia Kalisch Vorschläge, z.B. die professionelle Unterstützung bei Schulentwicklungsmaßnahmen, die Anerkennung regionaler Disparitäten, mehr finanzielle Mittel für Schulen auf dem Land und den kontinuierlichen Austausch der beteiligten Akteure.
Uwe Elsholz und Helena Kaiser setzen an der zunehmenden Individualisierung von Arbeit und Gesellschaft an und befassen sich mit den Defiziten der traditionellen schulischen Berufsorientierung. „Heute“ – so eine zentrale Aussage – „erfordert die Berufsorientierung keine einmalige Entscheidung, sondern vielmehr eine ständige Reflexion der eigenen Fähigkeiten, Stärken und Interessen.“ Die schulische Berufsorientierung und der Berufseinstieg sind diesem Argument folgend der Anfang eines lebensbegleitenden Prozesses. Berufsorientierung wird zur individuellen Lebensaufgabe. „Berufsbiografische Gestaltungskompetenz“ sollte daher als wichtige „Future Skill“ verstanden werden, die sich in den Aktivitäten und Zielsetzungen der Institutionen der Arbeits- und Bildungswelt niederschlagen sollte. Damit schalten sie sich auch in die Debatte um die Deutungen von Future Skills ein und bieten neben den ökonomisch und technisch dominanten Angeboten eine sozial begründete Alternative.
Darf man sich auf ältere Texte beziehen? Wir denken, dass wir diese Frage bejahen können, wenn sie, wie in diesem Fall, nach wie vor von großer Aktualität sind. Aus unserer Sicht gehört zu den Themen, die im Rahmen von Berufsorientierung zu diskutieren sind, auch die Frage, warum Menschen lernen bzw., warum sie möglicherweise nicht lernen, zumindest so, wie das gesellschaftliche Institutionen von ihnen erwarten. Axel Bolder hat uns einen leicht geänderten Vortrag zur Verfügung gestellt, den er 2002 auf einer Tagung des Bundesinstituts für Berufsbildung gehalten hat. Dort ging es u.a. um die Frage, warum immer neue Appelle an die Bereitschaft, lebenslang zu lernen, Menschen, die in restriktiven Situationen leben und arbeiten sowie meist negative Bildungserfahrungen gemacht haben, nicht davon zu überzeugen können, dass unter den gegebenen Bedingungen zusätzliche Lernanstrengungen sinnvoll sein könnten. Der Text beschäftigt sich mit dem „Widerstand gegen Lernzumutungen“, der in einem doppelten Sinne als „subjektives Wissensmanagement“ verstanden werden kann. Zum einen als subjektiv rationaler Umgang mit den eigenen Ressourcen, indem die mit zusätzlichen Lernanstrengungen verbundenen Kosten und Risiken bilanziert werden. Zum anderen aber auch im Sinne alternativer Strategien des Erwerbs, des Nutzens und der Sicherung von Wissen.
Auch Jeanette Schnell fragt nach den Erfordernissen der Weiterentwicklung von Berufsorientierung an der ersten Schwelle zwischen Schule und Berufsbildung. Die strukturellen und aktuellen Rahmenbedingungen des Beschäftigungssystems machen eine Reihe von Kompetenzen notwendig. Schulen benötigten entsprechend ausgerichtete Konzepte sowie verlässliche Kooperationen mit außerschulischen Partnern wie z.B. den Betrieben. Die Lehrkräfte seien ausreichend zu qualifizieren und materiell auszustatten. Berufsorientierung sei an den Lebenswirklichkeiten der Schüler*innen auszurichten und dürfe nicht ausschließlich von den Anforderungen des Arbeitsmarktes bestimmt sein. Berufsorientierung benötigt Praxisbezug und entsprechende Erfahrungen; dazu dienen vorrangig Betriebserkundungen und betriebliche Schulpraktika. Deshalb seien auch wissenschaftlich fundierte Qualitätsstandards notwendig und die Kooperation mit den Betrieben stärker in die schulischen Curricula zu integrieren. Anstelle des missdeutigen und verschiedentlich politisch missbrauchten Begriffs der „Ausbildungsreife“ sollte dem Vorschlag aus der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ gefolgt werden. Diese sprach sich dafür aus, an Stelle der „Ausbildungsreife“ die „Berufswahlkompetenz“ ins Zentrum der Förderung zu rücken.
Seit 2020 bietet die Bundesagentur für Arbeit einen neuen Service an, die „Berufsberatung im Erwerbsleben“. Anne Heusler, Julia Lang, Christian Sprenger und Gesine Stephan stellen das Angebot vor und diskutieren wesentliche Ergebnisse einer ersten Evaluierungsphase. Als eigenständiges Angebot für Beschäftigte und Wiedereinsteigende grenzt sich die BBiE vom Angebot der Berufsberatung vor dem Erwerbsleben (BBvE) ab, welche sich an Berufseinsteigende, z.B. an Jugendliche in den Übergangsmaßnahmen oder an Schüler*innen, richtet. Mit beiden Angeboten verfügt die BA damit über ein umfassendes Angebot einer (erwerbs)lebensbegleitenden Berufsberatung, mit dem je nach Lebenslage unterschiedliche Anliegen (Berufswahl, Berufswechsel, berufliche Weiterbildung, usw.) aufgegriffen werden können. Aktuell führt das IAB eine qualitative Studie durch, die der Frage nachgeht, wie die BBiE in die Weiterbildungs- und Berufsberatungslandschaft in Deutschland eingebettet ist. Zweitens untersucht das IAB, wie sich die Arbeitsmarktergebnisse – also zum Beispiel die Art der Erwerbstätigkeit und die Entlohnung – der im Jahr 2021 beratenen Personen bis Ende des Jahres 2022 entwickelt haben.
Die Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung in der Schweiz geht in der heutigen Form auf einen Beschluss der Kantone vom Oktober 2021 zurück. Ziel ist es, Jugendliche und Erwachsene in den Berufswahl- und Studienwahlprozessen zu unterstützen und Anlaufstellen in allen Fragen der beruflichen Laufbahn zu etablieren. Anhand des aktuellen statistischen Jahresberichts werden von Gabriele Molzberger und Bernd Kaßebaum die Strukturen, Instrumente und Zielgruppen vorgestellt und berufsbildungspolitisch diskutiert. Ein besonderes Augenmerk wird am Beispiel von „viamia“, einem Beratungsangebot für ältere Erwachsene, auf das Verhältnis von privatwirtschaftlichen und öffentlich verankerten Angeboten gelegt. Zudem wird das einheitliche Qualifizierungskonzept für die sog. BSL-Berater*innen sowie neuere Überlegungen zum Kompetenzverständnis vorgestellt.
Einen ganz anderen, durch die langjährige Praxis erfahrungsgesättigten Blick auf Berufsorientierung und Berufsvorbereitung erhält man über die Arbeit eines renommierten regionalen Bildungsträgers. DENK-doch-MAL durfte ein intensives Gespräch mit Jovana Kartal und Gerd Specht führen, erstere aktuelle Geschäftsführerin und Gerd Specht ehemaliger langjähriger Geschäftsführer und jetzt für das angeschlossene Bildungswerk zuständig. Der Bildungsträger RE/init e. V. verfolgt das Ziel, in der Region Emscher-Lippe Menschen in „besonderen Lebenslagen“ zu unterstützen und mit ihnen eine persönliche sowie berufliche Perspektive zu entwickeln. Aktuell beschäftigt der Bildungsträger an verschiedenen Standorten 140 Menschen. Im Selbstverständnis spielen diejenigen Menschen eine große Rolle, die in unserer Gesellschaft eine besondere Unterstützung benötigen, sie aber oftmals nicht erhalten. Nachdenkenswerte Informationen und Anregungen gibt das Gespräch sehr viele. Um ein Beispiel zu nennen: Es zeigt sich, wie schwierig es in der gegebenen Förderpolitik ist, Menschen nachhaltig zu unterstützen. Der Bildungsträger hat deshalb ehemalige Teilnehmer*innen in einem Ehrenamtsprojekt zusammengeführt, die auch nach den Kursen bereitstehen, um sich um die aktuellen Kursteilnehmer*innen zu kümmern.
Wir schauen auf einen anderen, für die Bildungsberatung im Erwerbsleben nicht minder wichtigen Ansatz, nämlich auf den Betrieb und hier insbesondere auf die Weiterbildungsmentoren*innen. Dieses Konzept geht auf eine Initiative von ver.di und IG Metall zurück. DENK-doch-MAL hat 01/2022 dazu eine Ausgabe veröffentlicht: https://denk-doch-mal.de/ausgaben/01-22-foerderung-der-betrieblichen-weiterbildung-durch-weiterbildungsmentoren/. Michael Svoboda, Projektberater für das vom BMBF geförderte ver.di-Weiterbildungsmentoren-Projekt mendi.net, stellt in seinem Beitrag zunächst die Rahmenbedingungen vor. Zu unterscheiden sind organisations- und personenbezogene Weiterbildungskonzepte. Auf Basis der Projekterfahrungen schlägt er für das Selbstverständnis der Mentoren*innen vor, dass diese sich im Rahmen der personenbezogenen Weiterbildung als Bindeglied zwischen betrieblichem und außerbetrieblichem Bildungsangebot und den Beschäftigten verstehen. In seinem Verständnis sollen Weiterbildungsmentor*innen vorhandene Weiterbildungsstrukturen nicht ersetzen: gleichwohl setzen sie an Bedürfnissen der Beschäftigten an, indem sie Informationen bereitstellen, Impulse geben und Prozesse initiieren. Die mit diesem Ansatz verbundene Hoffnung ist, dass man insbesondere sog. bildungsbenachteiligte Personen anspricht, zumal die Bildungsmentoren*innen als „Experten*innen“ in eigener Sache besonders geeignet sind, vorhandene Hürden in die Weiterbildung abmildern zu können.
Wir hoffen, die Leser*innen dieser Ausgabe finden in diesen Beiträgen viele Anregungen, Informationen und Diskussionsanreize. Ein herzlicher Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die DENK-doch-MAL in vielen Stunden ehrenamtlicher Arbeit mit ihren interessanten Beiträgen, ihrem Wissen und ihren vielen Hinweisen unterstützt haben.