Editorial
Roman Jaich (ver.di), Martina Schmerr (GEW), Mario Patuzzi (DGB)
Die Corona-Pandemie hat die Bildungslandschaft verändert. Die zum Teil monatelangen Kontaktbeschränkungen haben den Einsatz digitaler Bildungsformate in nahezu allen Bereichen deutlich beschleunigt. Relativ schnell haben Bildungseinrichtungen (Schulen, Hochschulen und Einrichtungen der beruflichen Aus- und Weiterbildung) auf diese Situation reagiert und – zunächst noch relativ naiv und hilflos wirkende, mit der Zeit aber in vielen Fällen professionellere – webbasierte Bildungsformate entwickelt. In der Post-Corona-Zeit werden klassische Präsenzveranstaltungen im Bildungssystem zwar wieder dominieren, die digitalen Angebote werden aber voraussichtlich nicht wieder auf ihr vorheriges niedriges Niveau zurückfallen.
Nach dem Motto ‚na bitte, geht doch‘ wird die Umstellung auf Online-Formate perspektivisch vorangetrieben. Hinzu kommt, viele Bildungsverantwortliche halten die Digitalisierung von Bildung per se für einen Weg, Chancengleichheit, Inklusion und individuelles Lernen zu befördern. Zu charmant sind die Möglichkeiten, unabhängig von Raum und Zeit lernen und teilhaben zu können. Webbasiertes Lernen via Internet-Technologie und über Lernplattformen wird, so mehren sich daher die Einschätzungen in vielen Bildungsbereichen, klassische analoge Konzepte zunehmend ergänzen.
Gewerkschaften standen digitalen Bildungsformaten in der Vergangenheit häufig eher verhalten gegenüber, weil diese Lehr- und Lernformen – anders als ganzheitliche Bildungsprozesse im Präsenzlernen – nicht alle Sinne ansprechen, mitunter weniger kollaborativ sind und die Lernerfahrungen somit reduzieren.
Digitales Lernen kann dazu führen, dass gemeinsamer Unterricht – also auch in Präsenz (!) – stattfindet, allerdings in der Regel ohne die physische Anwesenheit (aller) Teilnehmer*innen. Das gleichzeitige webbasierte Lernen schafft in mehrfacher Hinsicht neue Herausforderungen. Es entstehen neue Anforderungen an Didaktik und Methodik sowie an die Kompetenzen der Lehrenden. Teilhabechancen und Mitbestimmungsmöglichkeiten verändern sich und Oligopoltendenzen bei Anbieter*innen von Lernumgebungen sind zudem nicht unwahrscheinlich. Schließlich müssen Themen wie Datenschutz erneut aufgegriffen und Antworten auf die drängenden Finanzierungsfragen gefunden werden. Sind die Rahmung und die Finanzierung nicht geklärt, kann webbasiertes Lernen die gesellschaftliche Spaltung verstärken. Auch hier muss wie bei allen anderen Lernformaten gelten: Wir müssen alle mitnehmen!
Grund genug, sich dem Thema näher zu widmen. Die Schwierigkeit fängt aber bereits damit an, zu bestimmen, was hier in den Fokus rücken soll: „Digitales Lernen“, „webbasiertes Lernen“, „Distance-Learning“, „E-Learning“ oder „Blended-Learning“ sind nur einige der bekanntesten Begriffe, die zum Teil inhaltlich dicht beieinanderliegen, sich aber auch überschneiden oder synonym verwendet werden.
Wir starten die Ausgabe mit einer Annäherung an das Thema digitale Bildungsprozesse. Bernd Käpplinger von der Universität Gießen wirft Grundsatzfragen auf. Ihm geht es darum, einen differenzierten Blick auf das Thema zu werfen und nicht in einem entweder/oder (bzw. bei ihm Himmel/Hölle) zu verharren. Die Digitalisierung von Bildungsprozessen ist nach seiner Auffassung nicht per se gut oder schlecht. Vielmehr kommt es darauf an, was man damit macht bzw. auch mahnend, was wir mit uns machen lassen. Sein Beitrag ist demnach eine Aufforderung sich einzulassen, aber nicht alles mitzumachen. Insbesondere wenn das Kostenargument angeführt wird, rät er dazu, vorsichtig zu sein.
Volker Freudenberger, Bildungsexperte der IG BCE, rückt in seinem Beitrag die berufliche Bildung in den Blick. Er konzentriert sich hier auf die betriebliche Ausbildung und stellt fest, dass „in den letzten zwei Jahren häufig ein Konglomerat aus der Nutzung von digitalen Kommunikationsmedien, dem Einsatz von Präsentationen für die Unterweisungen usw. entstanden“ ist. Ein pädagogisch-didaktisches Konzept ist meistens nicht erarbeitet worden. Gefordert sind daher Kenntnisse über die unterschiedlichen digitalen Techniken und Lehrmittel sowie mediendidaktische Kompetenzen beim Bildungspersonal. Daraus ist ein gestiegener Anspruch an das ausbildende Personal entstanden der einen Qualifizierungsbedarf für diese Gruppe zur Folge hat. Insbesondere für die große Zahl ausbildender Fachkräfte sind hierfür niederschwellige Qualifizierungsangebote zu schaffen.
Viele Bildungsverantwortliche halten die Digitalisierung von Bildung per se für einen Weg, Chancengleichheit, Inklusion und individuelles Lernen zu befördern. Allerdings führt sie – wenn nicht von Beginn an inklusiv konzipiert – häufig sogar zu Exklusion und zur Verstärkung sozialer Spaltung. Katharina Walgenbach von der Fernuniversität Hagen sieht im Universal Design einen Ansatz, die Digitalisierung von Hochschulen strukturell und von Anfang an inklusiv zu gestalten. Während bisher Barrierefreiheit überwiegend nachträglich und auf das Drängen Einzelner hin umgesetzt wurde, steht das Konzept des Universal Design für die Perspektive, digitale Bildungsangebote so zu konzipieren, dass vielfältige Bedürfnisse und Bedarfe umfassend einbezogen werden und die Verantwortung für die Bildungsteilhabe bei den Institutionen liegt, anstatt bei den individuellen Studierenden.
Jeanette Klauza und Mario Patuzzi, beide in der Abteilung Bildungspolitik & Bildungsarbeit beim DGB-Bundesvorstand beheimatet, widmen sich der Frage, was an dem Hype um eine Nationale Bildungsplattform (NBP) dran ist. Ausgehend von der steigenden Relevanz von Plattformökonomie und digitalen Ökosystemen bis hin zur Europass-Plattform zeichnen Klauza und Patuzzi in ihrem Beitrag die Entstehung und den aktuellen Entwicklungsstand der NBP nach und verweisen auf eine fehlende Setzung und schwierige Umsetzung von Standards. Vor diesem Hintergrund entwickeln die beiden Leitplanken zur Einschätzung für die Bewertung der NBP aus gewerkschaftlicher Perspektive.
Worüber reden wir eigentlich, wenn wir von „digitalisierten Bildungsprozessen“ sprechen? Wo sehen wir Potenziale für die Bildung und wo zeigen sich Grenzen und Gefahren? Jörg Ferrando von der IG Metall, Roman Jaich von der ver.di, Mario Patuzzi vom DGB sowie Martina Schmerr von der GEW, haben sich diesen Fragen in einem Gespräch gewidmet. Heraus gekommen sind offene Fragen, aber auch gewerkschaftliche Perspektiven und „Leitplanken“.
Auch im Bildungsbereich erschöpft sich die Diskussion über Digitalisierung häufig im technisch Mach- und Umsetzbaren. Für die Bildung im gewerkschaftlichen Sinne geht es jedoch um die Frage einer gerechten, nachhaltigen und vor allem pädagogisch sinnvollen Digitalisierung, sprich: um das Primat der Pädagogik über die Technologie. Vor allem im Lernen über Distanzen hinweg, lassen sich Bildungspotenziale erschließen. Als Gewerkschafter*innen gilt unser Augenmerk jedoch auch der (mitunter fehlenden) Qualität, ungeklärten Datenschutzfragen sowie den Risiken von Exklusion und Kommerzialisierung im Bildungswesen. Besonders die Algorithmisierung von Lernprozessen und -kontrollen erweist sich als problematisch und stellt uns vor große Herausforderungen, zum Beispiel mit Blick auf pädagogische Vielfalt und Freiheit, auf demokratische und solidarische Lernerfahrungen oder auf selbstbestimmtes Arbeiten.[1] Die Digitalisierung von Bildung ist also janusköpfig und muss gewerkschaftlich wie auch pädagogisch und didaktisch gestaltet werden. Der Beitrag, der unsere heterogene und „mäandernde“ Diskussion zusammenfasst, schließt mit Handlungsvorschlägen an Gewerkschaften, Betriebs- und Personalrät*innen, Arbeitgeber, Bund und Länder sowie Wissenschaft und Forschung.
[1] Siehe hierzu auch: https://denk-doch-mal.de/sigrid-hartong-algorithmisierung-von-bildung-ueber-schrumpfende-spielraeume-fuer-demokratisches-ver-handeln-und-warum-die-edtech-industrie-nicht-das-einzige-problem-ist/