Beruflichkeit in den Gesundheits- und Pflegeberufen

Prof. Dr. Rita Meyer (Universität Hannover) und Prof. Dr. Stefanie Hiestand (Pädagogische Hochschule Freiburg)

Die Professionalisierung der Pflegeberufe braucht mehr als Akademisierung – Möglichkeiten und Grenzen des Konzepts der Beruflichkeit in der Pflege

In der Betrachtung der fachwissenschaftlichen und öffentlichen Diskurse kann der Eindruck entstehen, dass zur Professionalisierung der Gesundheitsberufe bereits alles gesagt sei. Dies gilt, zumal mit der Neuordnung der Gesundheitsberufe inzwischen ein Progress angestoßen ist. Trotzdem unterliegt das Berufsfeld Gesundheit und Pflege nach wie vor spezifischen Problemlagen, die auch im Zuge der fortschreitenden Akademisierung nicht gelöst wurden. Im Folgenden wird am Beispiel der Pflegeberufe die These entfaltet, dass dies unter anderem daran liegt, dass sowohl mit der Neuordnung der Berufsausbildung als auch mit der Akademisierung dieser Berufe bildungspolitisch zwar versucht wird, formal einen Prozess der Steigerung von Beruflichkeit im Sinne einer Professionalisierung zu erzeugen, ohne dass dabei jedoch die spezifischen Merkmale des Konzeptes der Beruflichkeit hinreichend Beachtung finden.

Mit Blick auf die Reform der Pflegeausbildung, die Akademisierung und die Herausforderungen, vor denen die Branche steht, stellt sich die Frage, inwiefern das Konzept der Beruflichkeit auf die Pflege übertragbar ist und wo die Möglichkeiten und Grenzen einer Professionalisierung der Pflegeberufe liegen.

1. Professionalisierung als Konzept der Steigerung von Beruflichkeit

Zunächst geht es hier in berufspädagogischer Perspektive um eine inhaltliche Annäherung der Begriffe Beruf und Profession sowie Professionalisierung und Professionalität (vgl. Meyer 2018).

Der Ausbildungsberuf bezeichnet in Deutschland eine in der Regel dreijährige Ausbildung in Schule und Betrieb. Der Begriff „Ausbildungsberuf“ ist in Deutschland rechtlich geschützt. Im Berufsbildungsgesetz (BBiG) in § 28 ist festgelegt, dass in einem anerkannten Ausbildungsberuf nur nach einer Ausbildungsordnung ausgebildet werden darf. Besonders deutlich wird der rechtliche Schutz des Berufes darin, dass in anderen als anerkannten Ausbildungsberufen Jugendliche unter 18 Jahren nicht ausgebildet werden dürfen. Damit wird in Deutschland über die Gesetze und Verordnungen im Rahmen des Berufsbildungsrechts der Einstieg in den Erwerbsberuf über den Ausbildungsberuf festgelegt. Auch das Zustandekommen der Berufe ist klar geregelt: Bevor Berufe im „Verzeichnis der ankerkannten Ausbildungsberufe“, das am Bundesinstitut für Berufsbildung (kurz: BiBB) geführt wird, auftauchen, werden Berufe „geordnet“ und in Ausbildungsordnungen und Berufsprofilen standardisiert. Wenn diese absolviert und mit einem Zertifikat abgeschlossen sind, dann können die Absolvent*innen auf der Basis der Zertifikate, die sie erworben haben, eine gewisse Einkommenserwartung geltend machen. Gleichzeitig können aber die Arbeitgeber*innen dafür bestimmte Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten voraussetzen und erwarten, dass die Beschäftigten diese auch in die Organisation einbringen.

Das Zustandekommen von Berufsbildern ist im BBiG geregelt und folgt einem klaren Prozess an dem die Sozialpartner (Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter*innen) sowie Bund und Länder beteiligt sind.

Für die Gesundheits- und Pflegeberufe ist festzustellen, dass sie nicht dem BBiG unterliegen und damit neben diesem in Deutschland tradierten und konsensuell verfassten Prozess der Verberuflichung einen Sonderstatus einnehmen. Dies liegt in der historischen Genese begründet. Die Pflege von Kranken war kirchlich bzw. seit dem Mittelalter durch Spitalorden geregelt. Erst 1902 wurde die Entscheidung getroffen, dass der Pflegeberuf auch ohne religiösen Hintergrund ausgeübt werden kann. Der Anstieg an Krankenhauseinrichtungen und Bettenanzahlen führte dazu, dass die Zahl an Krankenschwestern ohne Bindung an ein Mutterhaus stetig wuchs (vgl. u. a. Kuhn 2016).

Die bislang geltenden Ausbildungsregelungen der Berufe der Alten-, Kinder- und Krankenpflege wurden durch das Pflegeberufegesetz (PflBG) im generalistischen Berufsbild „Pflegefachfrau/Pflegefachmann“ zusammengeführt und abgelöst. Ziel ist neben einer erhofften Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs (Stichwort: Fachkräftemangel) die Ausbildungsqualität durch neue Standards zu erhöhen. Die Qualität der Berufsbildung kann allerdings so kaum nachhaltig gesichert werden, denn die Verantwortung für die praktische Ausbildung liegt nicht, wie für andere Berufe im BBiG geregelt, bei den Industrie- und Handelskammern oder Handwerkskammern, sondern bei den Trägern der praktischen Ausbildung. Die neue Ausbildungsordnung weist zwar Ähnlichkeiten zum dualen Berufsbildungssystem auf, z. B. Dualität der Lernorte, Stellenwert der praktischen Ausbildung sowie Rechtsstatus der Auszubildenden, allerdings gibt es auch deutliche strukturelle Unterschiede: Beispielsweise bezogen auf gesetzliche Rahmung, Ordnungsverfahren und Akteure sowie Umsetzung der Ausbildung (vgl. zusammenfassend zu den Unterschieden des PflBG und BBiG/HwO Hofrath/Zöller 2020).

Professionen sind gehobene Berufe. Als Vorbild für eine gelungene Professionalisierung werden in der Professionsforschung die klassischen Professionen genannt, das heißt gehobene Berufe, die sich sozialhistorisch in den so genannten ‚freien‘ Berufen konkretisieren (z. B. Ärzte*innen und Juristen*innen). Kennzeichnend für den Prozess der Professionalisierung dieser Gruppen ist die Veränderung von einer „einigermaßen ausgeprägten zu einer besonders starken Systematik des Wissens und die Ausweitung der sozialen Orientierung vom Mittelmaß zur ausgesprochenen Kollektivitätsorientierung.“ (Hartmann 1968, S. 201)

Berufen bzw. Professionen kommt damit eine unterschiedliche Wertigkeit zu: Professionen sind in der Regel akademische Berufe und zeichnen sich somit durch ein höheres Maß an systematisiertem Wissen aus. Darüber hinaus sind sie dadurch gekennzeichnet, dass die Mitglieder der Professionen ihre Interessen massiv kollektiv, d. h. gemeinsam, vertreten. Sie verfügen über starke Berufsverbände und sind sehr durchsetzungsstark – gegenüber anderen Berufsgruppen und auch gegenüber dem Staat.

Der Begriff der Professionalität kennzeichnet im Sinne einer „gekonnten Beruflichkeit“ eine subjektbezogene individuelle Handlungskategorie: Professionalität ist gerade im pädagogischen Handeln eng an die einzelnen Personen gebunden und lässt sich kaum inhaltlich beschreiben, geschweige denn an objektiven Kriterien messen. Insofern ist auch für die Pflegeberufe festzuhalten, dass professionelles Handeln durchaus auch ohne die explizite Zugehörigkeit zu einer Profession möglich ist.

In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion werden als bedeutendste Merkmale von Professionalität das spezifische Wissen, der Klient*innenbezug und die Autonomie hervorgehoben. Diese drei Aspekte stehen in einem engen Bezug zueinander und bedingen sich zum Teil auch gegenseitig. Für die Pflegekräfte bedeutet dies, dass sie zum einen über Fachwissen ihrer Domäne und zum anderen über eine ausgeprägte interaktive Kompetenz verfügen müssen. Sie haben zudem einen engen Bezug zu ihren Patient*innen bzw. zu den zu Pflegenden und sie sind relativ frei in ihrem pflegerischen Handeln.

Professionelles Wissen als ein Expertenwissen setzt sich immer aus mehreren Komponenten zusammen: Es besteht zum einen aus theoretischem Wissen und zum anderen aus klassischem Berufswissen im Sinne von Erfahrungs- und Alltagswissen, das im Verlauf der Berufstätigkeit angeeignet wird. Diese Wissensarten bilden die Basis für eine dritte Komponente – das Problemlösungs- und Deutungswissen. Die Notwendigkeit dieser spezifischen Wissenskombination ergibt sich aus der besonderen Aufgabe der Handelnden: Ihre Tätigkeit wird als eine Dienstleistung verstanden, die auf komplexe Problemsituationen bezogen ist und immer fallspezifisch eingesetzt wird. Das wiederum liegt daran, dass hier Menschen in einer direkten „face-to-face“ Interaktion und Kommunikation stehen (vgl. Kurtz 1998). Treten in diesem zwischenmenschlichen Prozess Probleme auf, dann müssen diese fallbezogen gelöst werden. Es gibt dafür kaum technokratische Lösungen im Sinne von Handlungsanleitungen, sondern es geht immer darum, den gerade vorliegenden Fall zu verstehen und die Probleme angemessen zu deuten. Neben ihrem Expertenwissen benötigen die Pflegekräfte dafür eine hohe Sensibilität, Empathie und Erfahrungswissen.

Aber fundiertes Wissen allein reicht nicht aus, um Professionalität zu erlangen: Es muss auch zu einer erfolgreichen Anwendung des Wissens kommen. Das bedeutet, dass ein*e Professionelle*r die Fakten und Gesetzmäßigkeiten seines*ihres Gebietes kennt, und dass er*sie weiß, wie sie einzusetzen sind – er*sie kennt also auch die (gesellschaftlichen und organisationalen) Rahmenbedingungen in die das Handeln eingebettet ist. Das gilt insbesondere in schwierigen Situationen im Rahmen von Problembewältigung.

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass der Grad der Professionalität einer Berufsgruppe sich zum einen an formalen Kriterien bestimmen lässt, wie z. B. der Akademisierung und einer erfolgreichen, auf Autonomie zielenden Interessenorganisation. Zum anderen kommt aber gerade im Feld der Pflege der Frage nach der Professionalität im Handeln ein ebenso hoher Stellenwert zu. Im Folgenden wird diskutiert, wie die Reorganisation der Ausbildungsberufe im Bereich der Pflege mit Blick auf die Ermöglichung professionellen Handelns zu bewerten ist (vgl. 2) und inwiefern trotz einer zunehmenden Akademisierung die Professionalisierung der Berufsgruppe an ihre Grenzen stößt (vgl. 3).

2. Herausforderungen an die professionelle Handlungsfähigkeit des Pflegepersonals

Zunächst einmal sind die Rahmenbedingungen in den Blick zu nehmen: Eine der größten Herausforderungen in der Pflege ist die Kombination von steigendem Pflegebedarf bei gleichzeitiger Alterung der Belegschaften und demografisch bedingten Rekrutierungsproblemen des Berufsnachwuchses. Im Bereich der Pflege besteht ein bundesweiter Fachkräftemangel (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2018; Bonin 2020) und atypische Beschäftigung ist weit verbreitet. So liegt beispielsweise der Anteil der Teilzeitjobs in der Altenpflege in Deutschland bei über 70 % (vgl. Theobald 2018). In der Pflegearbeit sind einerseits überdurchschnittliche krankheitsbedingte Fehlzeiten (Absentismus) zu verzeichnen und anderseits auch hohe Kosten durch Präsentismus (Arbeiten trotz Krankheit). Hohe Fluktuationsquoten, Vakanzen sowie geringe Arbeitszufriedenheit sind weitere Branchenmerkmale.

Eine Herausforderung ergibt sich zunehmend im Kontext einer kultursensiblen Pflege: 2014 hatten 16,4 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund und damit etwa 20,3 Prozent der Gesamtbevölkerung – Tendenz steigend. Einerseits müssen sich ambulante Pflegedienste und Einrichtungen im stationären Bereich auf eine sprachliche und (sozio-)kulturelle Heterogenität ihrer Klient*innen einstellen. Andererseits müssen sich auch die Pflegebedürftigen auf die zunehmende Heterogenität des Pflegepersonals einlassen (vgl. u. a. Zanier 2015; Volkert/Risch 2017).

Pflegekräfte sind vor diesem Hintergrund berufsspezifischen Belastungen ausgesetzt, die sich durch Arbeitsverdichtung und strikte Zeitvorgaben intensivieren (vgl. u. a. Jöllenbeck 2019; Schmucker 2020). Regelmäßiger Zeitdruck und wöchentliche Überstunden sind vor allem im stationären Bereich vorherrschend. Auch körperliche Belastungen entstehen, beispielsweise durch die Notwendigkeit, täglich schwere Dinge und Personen bewegen zu müssen (vgl. Theobald 2018). Zudem bestehen hinsichtlich der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie in den Gesundheitsberufen immer noch große Herausforderungen (vgl. u. a. Rothermund et al. 2019).

Die Arbeit der Pflegekräfte unterliegt zudem einer permanenten Dokumentationsaufgabe: Ihre interaktiven und pflegefachlichen Interventionen müssen die Pflegekräfte bewohnerbezogen so erfassen und beschreiben, dass sie mit den Prüfinhalten kompatibel sind und die fallbezogene Qualität bei der Vorortprüfung mit der digitalen Pflegedokumentation übereinstimmt. Da eine umfassende Pflegearbeit in der Regel im Rahmen qualifikationsheterogener Teamarbeit erfolgt, sind dementsprechend auch soziale Kompetenzen erforderlich, um beispielsweise in der Altenpflege dem Anspruch von (digitaler) Standardisierung einerseits und fall- und individualorientierter Teilhabeförderung andererseits gerecht zu werden und die Qualitätsstandards erfüllen zu können.

Insgesamt wird die Pflegearbeit stetig komplexer: Neben den umfangreichen Dokumentationspflichten und dem zunehmenden Einsatz digitaler Arbeitsmittel, wird die Gruppe der Pflegebedürftigen hinsichtlich ihrer Pflegebedürftigkeit immer heterogener, was sich vor allem auf die Emotions- und Gefühlsarbeit im Pflegeprozess auswirkt (vgl. Hiestand et al. 2021). Fachwissen und Qualifikationen allein reichen für die Bewältigung dieser vielfältigen Anforderungen nicht mehr aus. Die Kompetenzorientierung in der Ausbildungs- und Prüfungsordnung des Pflegeberufereformgesetzes (PflBG) greift diese Herausforderungen auf: Zahlreiche Kompetenzen der neuen Ausbildungs- und Prüfungsordnung zielen nicht auf einzelne Handlungen oder bestimmte Tätigkeitskomplexe ab, sondern definieren vielmehr professionelle Haltungen für die berufliche Handlungskompetenz. Neben den kommunikativen Kompetenzen sind insbesondere die Fähigkeiten zur Perspektiveinnahme und zum Perspektivwechsel, zur Rollenübernahme und zum reflexiven Handeln zentral.

Um diese Kompetenzen in der Ausbildung fördern zu können, bedarf es wiederum entsprechenden beruflichen Bildungspersonals – sowohl in den Pflegeinrichtungen als auch in den Pflegeschulen. Dieses ist jedoch nicht bundeseinheitlich qualifiziert. Beispielsweise ist die Weiterbildung zur Praxisanleiter*in, welche die praktische Ausbildung und das Lehrangebot in den Pflegeinrichtungen konzipiert und koordiniert, länderspezifisch geregelt. Ähnlich verhält es sich mit dem schulischen Bildungspersonal: Zwar findet die Ausbildung zur Pflegefachmann bzw. frau auch an berufsbildenden Schulen mit entsprechend qualifizierten Lehrkräften statt (nach den Standards der KMK zum Lehramtstyp 5), jedoch werden in Deutschland überwiegend Pflegekräfte an Pflegeschulen in privater Trägerschaft ausgebildet. Diesbezüglich gibt es keine einheitlichen Standards hinsichtlich der pädagogischen/didaktischen Eignung des Bildungspersonals. Auch bezüglich der curricularen Neuausrichtung ist dies kritisch zu sehen: Durch die Neuordnung der Pflegeberufe entstand eine kompetenzorientiere Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe. Die konkrete Umsetzung dieser Vorgaben wird schulspezifisch geleistet, d. h., dass das Curriculum je Pflegeschule unterschiedlich ausgestaltet ist. Nach welchen Kriterien dies erfolgt, ist bisher nicht ersichtlich.

Es wird versucht, den oben beschrieben Herausforderungen mit diversen Professionalisierungsstrategien zu begegnen: Beispielsweise sind Praxisanleiter*innen, im Vergleich zum Ausbildungspersonal mit einem Ausbildungseignungsschein, verpflichtet, jährlich 24 Stunden Weiterbildung zu absolvieren – in welcher Form und welche Inhalte dabei zu fokussieren sind, ist nicht standardisiert, sondern vom jeweiligen Bildungsanbieter abhängig.

Im Prozess der Professionalisierung werden auch Paradoxien erzeugt: Einerseits zielt eine Reihe von Maßnahmen auf eine „Akademisierung“ der Ausbildung ab (vgl. u. a. Krampe 2015), andererseits entstehen verstärkt neue, verkürzte Bildungsgänge wie Assistenz- bzw. Helferberufe. Aiken et al. (2017) machen jedoch deutlich, dass nicht alleine die Anzahl, sondern die Art und Weise, wie graduierte Pflegende eingesetzt werden und in den Institutionen des Gesundheitswesens verortet sind, einen positiven oder negativen Einfluss auf Versorgungsqualität ausübt. Bisher bestehen nur ansatzweise Strategien, wo und wie graduiertes Pflegepersonal eingesetzt werden kann und soll (vgl. Ewer/Lehmann 2020).

Festzuhalten bleibt also, dass vor diesem Hintergrund das spezifische Wissen, welches für professionelles Handeln im Feld der Pflege benötigt wird, inhaltlich nicht eindeutig zu bestimmen ist. Eine strategische Berufsbildungspolitik, die zugleich arbeitsmarkt- und professionspolitische Herausforderungen aufnimmt, ist derzeit nicht erkennbar.

3. Möglichkeiten und Grenzen der Organisation im Konzept der Beruflichkeit

Für den Bereich der beruflichen Erstausbildung ist zu konstatieren, dass die Maßnahmen zur Professionalisierung der Pflegeberufe auf der Ebene der Entwicklung und Steigerung individueller Handlungsfähigkeit der Beschäftigten dieser Berufsgruppe durchaus das Potenzial haben, den aktuellen Problemlagen zu begegnen. Allerdings bleibt die Frage nach dem Transfer von Theorie und Praxis ebenso problematisch, wie die Frage nach der Einmündung der akademisch ausgebildeten Fachkräfte in entsprechende Tätigkeitsfelder.

Mit Blick auf die Professionalisierung als Ausdruck einer nachhaltig erfolgreichen Interessenorganisation der Betroffenen stellt sich die Situation etwas anders dar. Legt man die oben genannten Bedingungen einer gelungenen Professionalisierung zugrunde, dann ist mit Blick auf das Pflegepersonal festzustellen, dass diese sich bezogen auf eine kollektive Durchsetzung ihrer Interessen deutlich zurückhalten und eher individualisiert agieren. In Niedersachsen ist z. B. die Etablierung einer Pflegekammer im Jahr 2020 gescheitert. Die Landesregierung hat die Entscheidung zur Auflösung der Kammer getroffen, nachdem bei einer Onlinebefragung (mit schwachen Rücklaufquoten) 70,6 Prozent der Pflegekräfte gegen den Fortbestand der Kammer stimmten.[1] Das ist mit Blick auf die Professionalisierungsstrategie bzw. den sozialen Prozess bemerkenswert: Der Staat – hier das Land Niedersachsen – hat stellvertretend die Interessen einer Berufsgruppe organisieren wollen. In der Gruppe der Berufsangehörigen gab es keinen Rückhalt. Diese haben sich zwar in Online-Foren zu Wort gemeldet und dabei vor allem die Zwangsmitgliedschaft und Zwangsbeiträge kritisch diskutiert. Angesichts der staatlichen Intervention, der Zwangsmitgliedschaft und auch der fehlenden Mitgliedschaft der Institutionen des Gesundheitswesens ist es nachvollziehbar, dass das Konzept der Pflegekammer auch bei Gewerkschaften und ihren Mitgliedern auf Widerstand gestoßen ist. Ggf. hätte eine andere institutionelle Ausrichtung – angelehnt an das Konzept der Industrie- und Handelskammern oder Handwerkskammern – eine Alternative dargestellt. Zumal auch die Arbeitgeber*innenverbände teils ehrenamtlich organisiert sind.

Im Vergleich dazu kann der Professionalisierungsgrad der Ärzt*innen geradezu vorbildhaft bezeichnet werden. Diese sind berufsständisch qualitativ und auch quantitativ sehr gut repräsentiert und in diversen Gremien vertreten. Sie verfolgen erfolgreich die Strategie, ihre Interessen sowie ihre Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereiche zu sichern, da sie ihrerseits Deprofessionalisierungstendenzen entgegenwirken wollen.

Vor dem Hintergrund, dass die Mitglieder der Berufsgruppe der Pflegekräfte keine Autonomiespielräume in der Zuständigkeit für den Prozess ihrer Professionalisierung reklamieren bzw. durchsetzen, verbleibt die Zuständigkeit für alle Fragen rund um Qualifikation und Erwerb (z. B. Ausbildungsziele, -inhalte, -dauer sowie Ausbildungswege und Vergütung) im Bereich der Pflege nach wie vor in den Händen des Staates und die Regelung erfolgt im föderalistischen Wettstreit von Bund und Ländern. Insbesondere die Fort- und Weiterbildungen werden auf Landesebene geregelt, es gibt keine bundesweit einheitlichen Regelungen, sondern lediglich Empfehlungen, was die disparate Qualität der Abschlüsse auf Dauer stellt.

Anders als im Konzept der Beruflichkeit, das in Deutschland grundlegend für die Ordnung der Berufe ist, erfolgt keine verbindliche Einbindung von Sozialpartner*innen (Arbeitgeber*innenverbänden und Gewerkschaften). Es ist davon auszugehen, dass dadurch, dass die Pflegeberufe nicht nach dem BBiG geregelt sind, auch perspektivisch notwendige Ausbildungsreformen durch den allgemeinen Politikbetrieb erschwert und verlangsamt werden. Schon vor der Einführung des neuen Gesetzes wurde prognostiziert, dass eine Regulierung der Pflegeberufe im Konzept der Beruflichkeit (also nach dem BBiG) unwahrscheinlich sei, weil die Akteur*innen – insbesondere Bund- und Länderministerien – „nur widerstrebend Regelungszuständigkeiten abgeben würden“ (Hilbert et al. 2014, S. 43).

4. Fazit und Ausblick

Der Prozess einer Professionalisierung der Pflegekräfte gestaltet sich in Deutschland schwierig. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Pflegekräfte keine homogene Berufsgruppe darstellen, sondern sich in einem Qualifikationsmix konstituieren. Die Interessen dieser verschiedenen Berufsgruppen sind ihrerseits heterogen. Und anders als in anderen Branchen, wie z. B. der Metall- und Elektroindustrie, können die divergierenden Interessenlagen offensichtlich nicht ohne weiteres zusammengeführt werden, wie das bei den Berufsgruppen der Fall ist, die im Dualen System ausgebildet werden.

Perspektivisch ist davon auszugehen, dass zukünftig besondere Anforderungen an die Professionalität und die professionelle Handlungskompetenz des Pflegepersonals gestellt werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Digitalisierung, der Akademisierung und angesichts der Herausforderung der gesellschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Integration junger Geflüchteter. Diese Anforderungen könnten Ausgangspunkt und Anlass dafür sein, die Professionalisierung dieser Gruppe weiter voranzutreiben, auch um eine weitere Polarisierung der Qualifikationen in diesem Feld zu verhindern. Reformbedarf zur Regulierung der beruflichen Bildung im Gesundheitswesen und insbesondere im Bereich der Pflege besteht also nach wie vor. Konkrete Handlungsvorschläge dazu hat u. a. die Friedrich-Ebert-Stiftung (vgl. Dielmann et al. 2020) vorgelegt.

Ob der Prozess der Professionalisierung, der durch die Reorganisation der Ausbildungsberufe und die Akademisierung ohne Zweifel angestoßen ist, erfolgreich sein kann, wird sich darin erweisen, ob und inwiefern die Berufsgruppe selbst bereit und in der Lage ist, sich als solche zu verstehen, sich kollektiv zu organisieren und ihre Interessen mit Blick auf Fragen von Arbeit, Erwerb und Qualifikation zum Ausdruck zu bringen. Darin liegt noch ein erhebliches Professionalisierungspotenzial. Die Berufsgruppen selbst sind gefordert, ihre Ansprüche an die und Interessen in der Arbeit auch politisch durchzusetzen. Dieser Prozess kann einerseits durch kompetenzförderliche, strategieumsetzende Personalarbeit und andererseits durch gewerkschaftliche Mitbestimmungsstrukturen auf betrieblicher und gesellschaftlicher Ebene flankiert und unterstützt werden.

Positiv zu bewerten ist in diesem Zusammenhang die Einrichtung einer Geschäftsstelle der Fachkommission nach dem Pflegeberufegesetz im Bundesinstitut für Berufsbildung[2]. Sie sichert eine systematische Erfassung und wissenschaftliche Forschung zur Lage und Entwicklung in den Pflegeberufen und kann damit für die Berufsbildung im Feld der Pflegeberufe einen Beitrag dazu leisten, auf der bildungspolitischen, der organisationalen und auf der individuellen Ebene die gesellschaftlichen und die organisationalen Anforderungen mit den individuellen Bildungsansprüchen der Menschen in der Arbeitswelt zu vermitteln.

[1]https://www.ms.niedersachsen.de/startseite/soziales_inklusion/soziales/pflege_in_niedersachsen/pflegekammer/pflegekammer-niedersachsen-110014.html

[2] https://www.bibb.de/de/82221.php (Zugriff 15.02.2021)

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Autoren

  • Rita Meyer wurde 1966 in Hannover geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie zunächst eine kaufmännische Berufsausbildung bei der Continental AG in Hannover und war in diesem Beruf mehrere Jahre tätig. Während dieser Zeit war sie in der gewerkschaftlichen Jugendbildungsarbeit aktiv, was letztlich den Ausschlag zur Aufnahme eines Universitätsstudiums gab. Von 1991 bis 1996 studierte sie die Fächer Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Soziologie und Philosophie an der Universität Hannover und der Universität Lyon (F) als Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung. Sie arbeitete dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Wirtschaftspädagogik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main und am Institut für Berufspädagogik an der Universität Hannover, wo sie im Jahr 2000 zum Thema „Moderne Beruflichkeit“ promovierte. Von 2001 bis 2006 war sie wissenschaftliche Assistentin an der Professur für Berufs- und Arbeitspädagogik der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg. Dort habilitierte sie im Jahr 2006 mit einer Arbeit zur beruflichen und betrieblichen Weiterbildung Kontext des IT-Sektors. Nach einem Jahr als Gastprofessorin an der TU in Berlin war sie seit 2007 für fünf Jahre als Professorin für Berufliche und Betriebliche Weiterbildung an der Universität Trier tätig. Seit 2012 lehrt sie am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung an der Leibniz Universität Hannover das Fach Berufspädagogik. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören: Berufs-, Qualifikations- und Kompetenzforschun; Interdependenz von Kompetenz- und Organisationsentwicklung; Kompetenzentwicklung im Prozess der Arbeit; Professionalisierung des Personals in der Berufsbildung; Wissenschaftliche Weiterbildung an Hochschulen

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  • Stefanie Hiestand wurde 1982 in Überlingen geboren. Nach der mittleren Reife absolvierte sie zunächst eine Ausbildung als Bio-Kosmetikerin und anschließend das Abitur in Berlin. Dann begann sie einen integrierten Diplomstudiengang der Fächer Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre und Soziologie mit dem Schwerpunkt Service Administration Management und dem Hauptwahlfach betriebliche und berufliche Weiterbildung an der Universität Trier zu studieren, den sie 2010 als Dipl.-Volkswirtin abschloss. Sie arbeitete anschließend als wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen Forschungsprojekten an der Universität Trier und war zudem Promotions-Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung sowie Mitglied der Hans-Böckler-Nachwuchsforschergruppe „Kompetenz- und Organisationsentwicklung in innovationsintensiven Branchen“. Im Jahr 2015 wechselte sie an das Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung der Leibniz Universität Hannover. Seit 2020 hat Frau Hiestand eine Professur für Pflege-/Gesundheitswissenschaft und ihre Didaktiken am Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Pädagogischen Hochschule Freiburg inne. Zu ihren Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören: Berufs-, Qualifikations- und Kompetenzforschung; Didaktik der Gesundheitswissenschaften; Lernen im Prozess der Arbeit; Verknüpfung von Personal- und Organisationsentwicklung; Selbstwirksamkeit und Lernwiderstände in Lehr-/Lernsettings der beruflichen Bildung; multiprofessionelle/qualifikationsheterogene Zusammenarbeit; diversity-gerechtes Handeln in Institutionen des Gesundheitswesens

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