Matthias Anbuhl (Vorstandsvorsitzender des Deutschen Studierendenwerks (DSW). Dieser Artikel spiegelt seine persönliche Meinung wieder.)

Angela Merkel hätte kaum einen größeren Anspruch wählen können, als sie im Oktober 2008 zum 60. Jahrestag der Sozialen Marktwirtschaft kurzerhand die Bildungsrepublik Deutschland ausrief. Wohlstand für alle heiße heute Bildung für alle, verkündete die Bundeskanzlerin – und lud die Ministerpräsidenten nach Dresden zu einem Bildungsgipfel ein[1].

Der Vorstoß der Kanzlerin überraschte, hatte die Große Koalition zuvor doch den Bund mit der Föderalismus-Reform des Jahres 2006 unter der Überschrift des „Wettbewerbsföderalismus“ bildungspolitisch weitgehend entmachtet. Entsprechend barsch reagierten die Bundesländer. „Ich erwarte, dass der Bildungsgipfel nach drei Stunden vorbei ist. Ich habe ihn nicht erfunden. Bildung ist Ländersache“, sagte Sachsen-Anhalts damaliger Regierungschef Wolfgang Böhmer[2].

Ging es bei den Vorstößen der 1970er Jahre noch um eine tatsächliche gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Ländern, waren der Bundeskanzlerin bei dem vermeintlichen Bildungsaufbruch machtpolitisch die Hände gebunden. Angela Merkel konnte nur eine Methode nutzen, die stark an die offene Koordinierung der Europäischen Union erinnert. Die Länder ließen sich in Dresden auf wenige Ziele ein, ohne deren konkrete Umsetzung zu fixieren. Die Ausgaben für Bildung und Forschung sollten auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen, die Zahl der Schulabbrecher/innen und der jungen Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung halbiert werden. Mehr Menschen sollen ein Studium aufnehmen und sich weiterbilden. Für ein Drittel der Kinder, die jünger als drei Jahre sind, müsse ein Krippenplatz bereitstehen. Zwar waren die meisten Ziele konkret messbar, sie blieben aber weitgehend unverbindlich, eine echte Evaluation gab es nie.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) füllte die Lücke und hat mit Hilfe von Expertisen des Essener Bildungsforschers Klaus Klemm die Einhaltung der Bildungsgipfel-Ziele regelmäßig überprüft[3]. Die Bilanz fiel ernüchternd aus: Es sind durchaus Fortschritte in der Bildungspolitik zu verzeichnen. Die Zahl der Krippenplätze ist gestiegen, mehr Menschen beginnen ein Studium oder bilden sich weiter. Doch ein genauerer Blick auf die Zahlen zeigt: Die soziale Schieflage bleibt die Achillesferse unseres Bildungssystems. Die Zahl der jungen Menschen ohne Schul- und Berufsabschluss bleibt bedrückend hoch. Auch bei der Weiterbildung und im Studium öffnet sich die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern. Es gibt zudem Anlass zur Sorge, dass gerade seit 2015 wieder Verschlechterungen bei den Zahlen der jungen Menschen ohne Schulabschluss, bei der Versorgung mit Krippenplätzen und bei der Bildungsfinanzierung zu verzeichnen sind. Die vermeintliche „Bildungsrepublik Deutschland“ bleibt ein sozial gespaltenes Land.

Nimmt man den Anspruch der „Bildungsrepublik“ ernst, hätten Bund und Länder noch alle Hände voll zu tun. Noch immer leben in Deutschland 6,2 Millionen Menschen im Alter von 18 bis 64 Jahren[4], die nicht richtig lesen und schreiben können. Rund 15 Prozent der Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren haben keine abgeschlossene Ausbildung[5]. Rund 45.000 Jugendliche verlassen Jahr für Jahr die Schule ohne einen Abschluss[6]. Selbst bei gleicher Leistung hat das Kind eines Akademikers bzw. einer Akademikerin gegenüber einem Arbeiterkind eine drei Mal so große Chance, das Gymnasium zu besuchen. Der Weg in die Bildungsrepublik Deutschland ist weit.

Mehr noch: Die Lage hat sich in den jüngsten Jahren verschärft. Es mangelt an Erzieher/innen und Lehrkräften, die Corona-Folgen zementieren fehlende Bildungsgerechtigkeit, in nationalen und internationalen Vergleichsstudien stürzt die Leistung der deutschen Schüler/innen ab. Die Bilanz des Wettbewerbsföderalismus ist verheerend. Der Rückhalt des Bildungsföderalismus in der Bevölkerung schwindet. Im sämtlichen Umfragen geben 60 bis 90 Prozent der Befragten an, dass sie sich eine länderübergreifende Bildungspolitik wünschen.

An diesem Ziel einer länderübergreifenden Bildungspolitik scheiterten die Kultusminister/innen jedoch allzu oft. Der Lehrkräftemangel droht eine der zentralen Bildungsbremsen des kommenden Jahrzehnts zu werden. Ob der qualitative Ganztagsausbau, eine bessere Ausstattung für Schulen gerade in armen Stadtvierteln – viele Reformen fallen wegen fehlender Fachkräfte aus.

Eine konzertierte Aktion zur Behebung des Lehrer/-innen-Mangels hat die Kultusministerkonferenz (KMK) nicht auf den Weg gebracht, wie auch der ehemalige Berliner Schulstaatssekretär Mark Rackles kritisiert. Zwar habe man sich schon in der Stralsunder Erklärung 2009 eine gemeinsame Strategie zum Lehrkräftebedarf auf die Fahne geschrieben, doch nicht einmal auf die seinerzeit anvisierten „qualitativen Standards“ für den Quereinstieg konnte man sich einigen, schreibt Rackles im Berliner Tagesspiegel[7].

Derweil flüchten sich mehr und mehr Bundesländer in einzelstaatliche Sonderreglungen. Jüngst hat Brandenburg beschlossen, die Qualitätsanforderungen für die Quereinsteiger drastisch abzusenken und auch Bachelor-Absolventen und -absolventinnen zu verbeamten und in den Schuldienst zu übernehmen. Bayern indes kündigt ganz ungeniert an, von nun an Lehrkräfte anderer Länder aktiv abzuwerben. „Der Wettbewerbsföderalismus frisst seine Kinder“, bilanziert Rackles. Und weiter: „Wenn die Länder ernsthaft am langfristigen Erhalt des Föderalismus interessiert sind, dann kommen sie nicht umhin, den Wettbewerbsföderalismus im Bildungsbereich zu beerdigen und im Sinne eines kooperativen Föderalismus zu entscheiden.“

Auf dem Weg vom Bildungsflickenteppich zur Bildungsrepublik wird unsere Gesellschaft nur vorankommen, wenn wir die gröbsten Fehler der Föderalismus-Reform des Jahres 2006 korrigieren. Die große Staatsreform war Ergebnis eines Machtkompromisses: Die hohe Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze im Bundesrat sollte reduziert werden. Im Gegenzug erhielten die Länder zusätzliche Kompetenzen, vor allem in der Bildung. Nicht die Qualität unseres Bildungswesens stand im Mittelpunkt, sondern die Entschädigung der Länder für ihren Machtverzicht im Bundesrat. Die eng begrenzten bildungspolitischen Kompetenzen des Bundes wurden weiter ausgehöhlt.

Woher die Länder allerdings das Selbstbewusstsein nahmen, unser Bildungswesen in Eigenregie zu verwalten, blieb rätselhaft. Zwar fühlen sich vor allem die süddeutschen Länder im nationalen Vergleich als Pisa-Sieger, international aber spielen auch sie nur in der Zweiten Liga. 16 verschiedene Lehrpläne, 16 Versetzungsordnungen, 16 unterschiedliche Wege zum Lehrerberuf – längst ist die Kleinstaaterei zu einem handfesten Problem für Schulen und Hochschulen geworden. Was viele Ministerpräsidenten als „föderalen Wettbewerb“ preisen, ist ein Flickenteppich, unter dem Schüler/innen, Eltern und Lehrer/innen leiden. Schon heute kann der Wechsel von der Isar an die Weser einen Schüler bis zu anderthalb Schuljahre kosten. Von den Menschen in unserem Land wird ein hohes Maß an Mobilität verlangt, ein Umzug von einem Bundesland ins andere ist aber für Eltern und Kinder in der zerklüfteten Bildungslandschaft ein echtes Risiko. Vater und Mutter versetzt, Kind sitzengeblieben.

Doch die Lebenswirklichkeit der Menschen ignorieren die selbsternannten Staatsreformer/innen des Jahres 2006 geflissentlich. Der Bund darf zwar in Indonesien den Aufbau von Schulen finanzieren, in der Lausitz oder Lüneburger Heide aber nicht. Die Bertelsmann-Stiftung hat 14 Staaten weltweit untersucht[8], die ihr Bildungswesen föderal strukturiert haben. Das Ergebnis: In allen Ländern sind sämtliche Ebenen an den Aufgaben im Bildungswesen, zumindest aber an deren Finanzierung, beteiligt. Die weitgehende Ausgrenzung des Bundes aus der Schulpolitik war ein deutscher Sonder-, ein deutscher Holzweg.

Soll der Bildungsföderalismus nicht vollends abgeschafft werden, brauchen wir einen kooperativen Föderalismus, der die Länderegoismen im Interesse der gesamtstaatlichen Verantwortung für das Bildungssystem zurückstellt. Der Bildungsföderalismus hat nur eine Zukunft, wenn er Kontinuität bietet, Mobilität und gleichwertige Lebenschancen bundesweit sichert, aber auch Handlungsspielraum in den Regionen ermöglicht.

Mittlerweile erkennen auch mehr und mehr Kultusminister/innen, dass Kooperation statt Konkurrenz das Gebot der Stunde ist. „Wenn jedes Land sich bei jedem Problem erstmal allein auf den Weg macht, ist das nicht nur total ineffizient, es wird auch nicht wirklich zu guten Lösungen führen“, erklärte die damalige KMK-Präsidentin Karin Prien (Schleswig-Holstein) im Oktober 2022 im Interview mit dem Bildungsjournalisten Jan-Martin Wiarda[9].

Sie wünsche sich deshalb bei den Ländern die Einsicht, dass man viele Probleme im Bildungssystem nur lösen könne mit einer KMK, „die mehr ist als ein Koordinierungsgremium“. Bei einer Reform des Grundgesetzes – und damit des Bildungsföderalismus –  ließe sich nicht nur das Verhältnis zwischen Bund und Ländern ändern. „Aber natürlich könnte man über eine Reform auch das Verhältnis der Länder untereinander in der Bildungspolitik anders gestalten. Dann bräuchten sie auch keinen Staatsvertrag mehr, wenn es um Fragen von Mehrheiten, Entscheidungsabläufen und Zuständigkeiten der KMK geht.“

Auch der Bund hat den kooperativen Bildungsföderalismus auf der Agenda. So schreiben die Parteien der Ampel-Koalition in ihrem Koalitionsvertrag 2021: „Wir werden eine Arbeitsgruppe von Bund, Ländern und Kommunen einsetzen, die die Zusammenarbeit strukturiert und verbessert und das Erreichen der Ziele sichert. Gemeinsam mit den Ländern wollen wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, gemeinsam gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen und Qualität, Leistungsfähigkeit und Weiterentwicklung des Bildungswesens zu stärken. Soweit erforderlich, bieten wir Gespräche über eine Grundgesetzänderung an.“[10] Doch mittlerweile hat Bundesbildungsbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger Angst vor der eigenen Courage. Ob es wirklich zu diesen Gesprächen kommt, ist zurzeit fraglich.

Wie ein moderner kooperativer Bildungsföderalismus aussehen kann, zeigt dabei ein Blick in die Schweiz. Die Eidgenossen haben frei nach dem Motto „Wider den Kantönligeist“[11] einen Bildungsrahmenartikel in ihre Verfassung eingeführt, in dem das Land erstmals als einheitlicher Bildungsraum definiert wird.

Bund und Kantone sind gemeinsam verpflichtet, für Mobilität und Vergleichbarkeit im Bildungssystem zu sorgen. Können sich die Kantone nicht einigen, hat der Bund die notwendige Entscheidungskompetenz und kann allein die notwendigen Vorschriften erlassen. Der Schweizer Weg lässt den Kantonen viele Freiheiten, unterstreicht aber die Notwendigkeit zur Kooperation. Mit dem Schweizer Weg könnte auch die Bundesrepublik vom bildungspolitischen Flickenteppich zu einer Bildungsrepublik werden.

[1] Anbuhl, Matthias & Habeck, Robert: Auf dem Holzweg, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Oktober 2011.

[2] Anbuhl, Matthias & Habeck, Robert: Auf dem Holzweg, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Oktober 2011.

[3] Klemm, Klaus: Bildungsgipfel-Bilanz 2014: Die Umsetzung der Ziele des Dresdner Bildungsgipfels vom 22. Oktober 2008, DGB Bundesvorstand, Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit, Dezember 2014.

[4] Grotlüschen, Anke & Buddeberg, Klaus (Hrsg.): LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität, Bielefeld 2018.

[5] Bundesministerium für Bildung und Forschung: Berufsbildungsbericht 2022, Bonn 2022.

[6] Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2022, Bielefeld 2022.

[7] Rackles, Martin: Kultusministerkonkurs – Der Föderalismus frisst seine Kinder, Berliner Tagesspiegel vom 23. Januar 2023.

[8] Schneider, Hans-Peter: Struktur und Organisation des Bildungswesens in Bundesstaaten – Ein internationaler Vergleich” im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Berlin/Gütersloh, Mai 2005.

[9] Prien, Karin: Es ist nichts verloren, und nichts ist hoffnungslos, Interview mit dem Bildungsjournalisten Jan-Martin Wiarda, Dezember 2022

[10] SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP: Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag 2021- 2025, Berlin, Dezember 2021.

[11] Anbuhl, Matthias & Habeck, Robert: Auf dem Holzweg, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Oktober 2011.

Autor

  • Matthias Anbuhl

    Seit dem 1. Oktober 2021 Vorstandsvorsitzender des Deutschen Studierendenwerks (DSW). Dieser Artikel spiegelt seine persönliche Meinung wieder. Anbuhl wuchs in Eckernförde auf und absolvierte ein Lehramtsstudium an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. In den Jahren von 2003 bis 2008 leitete Anbuhl das Parlamentarische Verbindungsbüro der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Berlin, von 2009 bis 2021 war er Leiter der Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).