Martina Kübler (Bundeslandkoordinatorin in Bayern für die gemeinnützige Organisation ArbeiterKind.de)

Die Geschichte von ArbeiterKind.de beginnt mit der persönlichen Erfahrung von Katja Urbatsch. Sie war die Erste in ihrer Familie, die einen Hochschulabschluss erreichte – und das war alles andere als einfach, vor allem zu Beginn des Studiums. In ihrer ersten Zeit an der Hochschule fehlten ihr Informationen, Vorbilder und das Gefühl, in der akademischen Welt dazuzugehören. Was bedeutet eigentlich „c.t.“ oder „Audimax“? Was hat es mit den begehrten Stipendien auf sich und wie bekommt man sie? Und wie schreibt man eine wissenschaftliche Arbeit? Auf all diese Fragen fand sie erst nach und nach Antworten – und oft auf Umwegen.

Aus diesem Gefühl der Orientierungslosigkeit heraus entstand die Idee für eine Website, die genau dort hilft, wo viele unsicher sind: Unter www.arbeiterkind.de sind Studientipps für all diejenigen zu finden, die als Erste in ihrer Familie studieren. Gemeinsam mit ihrem Partner Wolf Dermann, ihrem Bruder Marc Urbatsch und zwei Kolleginnen von der Justus-Liebig-Universität Gießen setzte sie die Idee 2008 im Rahmen des startsocial-Wettbewerbs um. Am 5. Mai 2008 ging die Seite mit ersten Tipps online – und traf sofort einen Nerv. Medien in ganz Deutschland berichteten, und viele Studierende und Akademiker:innen, die selbst einen ähnlichen Weg gegangen waren, meldeten sich und wollten mithelfen.

So wurde aus einer Website schnell mehr: eine echte Bewegung. Schon 2009 gründete sich ArbeiterKind.de als gemeinnützige Organisation. Heute engagieren sich Tausende Ehrenamtliche in rund 80 lokalen Gruppen in ganz Deutschland. Sie unterstützen Schüler:innen, Studierende und junge Berufseinsteiger:innen aus nichtakademischen Familien – mit Erfahrung, Motivation und praktischen Tipps für alle Phasen des Bildungswegs. Damit ist ArbeiterKind.de heute viel mehr als ein Infoportal. Es ist ein großes Netzwerk von Bildungsaufsteiger:innen, die sich gegenseitig unterstützen – damit jeder den eigenen Bildungsweg gehen kann, unabhängig von der sozialen Herkunft.

Hürde Hochschule: Herausforderungen für Studierende der ersten Generation

Seit 2008 hat sich nicht nur die Reichweite von ArbeiterKind.de verändert, sondern auch die Bedeutung und die Verwendung des Wortes „Arbeiterkind“. Der Begriff, der früher oft mit Scham, Unsicherheit oder dem Gefühl des Nicht-Dazugehörens verbunden war oder gar gänzlich verschwiegen wurde, wird heute von vielen mit Stolz und Selbstbewusstsein verwendet. Immer mehr Menschen bezeichnen sich bewusst als Arbeiterkinder, um ihre soziale Herkunft sichtbar zu machen und um zu zeigen, dass ein Bildungsaufstieg möglich ist. ArbeiterKind.de hat dazu beigetragen, dass aus einem stigmatisierten Begriff eine starke und zunehmend positiv konnotierte gemeinsame Identität geworden ist. Daneben sind auch Bezeichnungen wie „Studierende aus nichtakademischen Familien“, „first-generation students“ oder „Bildungsaufsteiger:innen“ geläufig.

Trotz des wachsenden Selbstbewusstseins der Bildungsaufsteiger:innen ist dieser Weg bis heute alles andere als selbstverständlich, denn noch immer hängt der Bildungserfolg junger Menschen in Deutschland in hohem Maße davon ab, ob ihre Eltern studiert haben oder nicht. Im Juli 2024 veröffentlichte das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) aktuelle Zahlen zum sogenannten Bildungstrichter – einer Statistik, die zeigt, wie stark der Hochschulzugang in Deutschland von der sozialen Herkunft abhängt. Trotz der verbreiteten Annahme, dass inzwischen „alle studieren“, bleibt der Unterschied groß: Während 78 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien ein Studium beginnen, sind es bei Kindern aus nicht-akademischen Haushalten nur 25 Prozent[1]. Der Schritt von der Schule an die Hochschule bleibt also für viele ein Hürde.

Warum studieren junge Menschen aus nichtakademischen Familien seltener als ihre Altersgenossen aus Akademikerhaushalten, auch dann, wenn sie über eine Studienberechtigung verfügen? Die Erfahrung von ArbeiterKind.de hat gezeigt, dass sich der Unterschied kaum durch Noten erklären lässt. Vielmehr spielen familiäre, bildungsbiografische und systemische Faktoren eine große Rolle. Oft fehlen finanzielle Ressourcen in den nichtakademischen Familien, sodass viele Studierende der ersten Generation auf Finanzierungsmöglichkeiten wie BAföG oder Stipendien angewiesen sind. Doch gerade die Informationen dazu und die Unterstützung bei der Bewerbung oder Antragstellung sind für viele junge Menschen, deren Eltern nicht studiert haben, unbekannt oder schwer zugänglich. Viele Studierende aus nichtakademischen Familien schätzen zudem ihre Chancen, ein prestigeträchtiges Stipendium zu bekommen, als gering ein, da Erfahrungswerte im näheren Umfeld fehlen und Begriffe wie „Begabtenförderwerk“ abschrecken. Manchmal bestehen außerdem familiäre Glaubenssätze, die von Unabhängigkeit geprägt sind, was die Inanspruchnahme staatlicher Hilfe erschwert. Studierende aus nichtakademischen Familien sehen sich während des Studiums damit häufig mit prekären finanziellen Verhältnissen konfrontiert, die ihre Lebensentscheidungen und ihr Finanzverhalten – zum Teil bis ins spätere Berufsleben hinein – maßgeblich beeinflussen, wie die von ArbeiterKind.de veranstaltete Online-Werkstatt zum Thema „Über Geld spricht man nicht… Wir schon! Herkunft – Finanzen – Studium“ gezeigt hat.[2] Die jüngste BAföG-Reform, insbesondere die Einführung der einmaligen Studienstarthilfe von 1.000 Euro für bedürftige Studierende, stellt zwar einen ersten Schritt zur Entlastung dar, reicht jedoch nicht aus, um die finanzielle Situation bedürftiger Studierender nachhaltig zu verbessern. Nur eine realistische Erhöhung der Bedarfssätze sowie eine verlässliche Begrenzung der Rückzahlungssummen würden es den Studierenden ermöglichen, sich ohne Existenzängste auf ihr Studium zu konzentrieren und das BAföG-Darlehen ohne Sorge vor einer allzu großen Schuldenlast aufzunehmen.

Neben finanziellen Schwierigkeiten erleben viele Studierende der ersten Generation ein Fremdheitsgefühl an der Hochschule. Der akademische Habitus, also die oft unbewussten Verhaltensweisen, Sprachmuster und kulturellen Codes von Menschen in der akademischen Welt, ist vielen unbekannt. Sie haben kaum Vorbilder in ihrem Umfeld, die sie bei der Orientierung im Unialltag unterstützen können. Dadurch fühlen sich viele nicht zugehörig und kämpfen mit dem Gefühl, nicht dazuzugehören oder den Studienplatz nicht verdient zu haben. Um sich der akademischen Umgebung anzupassen und nicht als „anders“ aufzufallen, verschweigen manche Arbeiterkinder ihre soziale Herkunft, was in bestimmten Fällen zu inneren Konflikten und Entfremdung von der Herkunftsfamilie führen kann.

Nicht zuletzt fehlen oft wichtige soziale Netzwerke, die den Studien- und Berufseinstieg erleichtern. Kontakte zu erfahrenen Personen, die bei der Suche nach Praktika, Jobs oder Karrierechancen helfen, sind für viele Studierende der ersten Generation rar. Das erschwert nicht nur den Einstieg ins Berufsleben, sondern kann sich auch auf Gehaltsverhandlungen und langfristige Karrierechancen auswirken, wie eine Studie der Boston Consulting Group gezeigt hat.[3]

Mut zum Studium: Gemeinsam mit ArbeiterKind.de das Studium meistern

Insgesamt sind junge Menschen, die als Erste in ihrer Familie studieren, mit einer Vielzahl zusätzlicher Herausforderungen konfrontiert: finanziell, kulturell und sozial. Diese Hürden zu überwinden, erfordert viel Eigeninitiative, Ausdauer – und die Unterstützung durch andere Menschen, denen es genauso erging. Genau hier setzt ArbeiterKind.de an, um Chancengleichheit zu fördern und den Bildungsaufstieg zu ermöglichen. ArbeiterKind.de ist bundesweit mit einer Gemeinschaft von mehreren Tausenden Ehrenamtlichen aktiv, die meist selbst die Ersten in ihrer Familie sind, die studieren oder studiert haben. Sie geben ihre Erfahrungen weiter, machen Mut zum Studium und unterstützen Schüler:innen und Studierende auf ihrem Bildungsweg – vom ersten Interesse am Studium über die Studienbewältigung bis zum erfolgreichen Abschluss und dem Einstieg ins Berufsleben.

Die Unterstützungsangebote von ArbeiterKind.de sind vielfältig und reichen von persönlicher Ermutigung bei Vorträgen an Schulen über Vernetzung bei offenen Treffen vor Ort bis hin zu Webseminaren und der individuellen Begleitung durch Mentor:innen für den Berufseinstieg.

Die Angebote von ArbeiterKind.de im Überblick:

  • Lokale Gruppen: In rund 80 Städten in ganz Deutschland engagieren sich Ehrenamtliche vor Ort. Sie treffen sich einmal monatlich zu einem offenen Treffen, organisieren Informationsveranstaltungen an Schulen, bieten Sprechstunden für Studieninteressierte und Studierende an und stehen für persönliche Gespräche und zur gegenseitigen Vernetzung zur Verfügung.
  • Online-Unterstützung: Wer keine Gruppe in der Nähe hat oder lieber digital Kontakt aufnimmt, kann seine Fragen über das ArbeiterKind.de-Online-Netzwerk (netzwerk.arbeiterkind.de) stellen oder die lokalen Gruppen per E-Mail oder Instagram-Nachricht kontaktieren.
  • Telefonische Unterstützung: Unter der kostenlosen Hotline 030 679 672 750 erhalten Ratsuchende von Montag bis Donnerstag Unterstützung zu Themen wie Studienwahl, Finanzierung, BAföG oder Stipendien. Wer lieber schreibt, kann das Infotelefon unter der gleichen Nummer auch per WhatsApp erreichen.
  • Kostenlose Workshops und Vorträge: ArbeiterKind.de bietet regelmäßig Veranstaltungen an Hochschulen, Schulen und im digitalen Raum an zu Themen wie Möglichkeiten der Studienfinanzierung, Stipendienbewerbung oder Berufsorientierung.
  • Berufseinstiegsprogramm: Engagierte Mentor:innen aus verschiedenen Branchen begleiten die Mentees (Studierende und Absolvent:innen der ersten Generation) beim Übergang in den Beruf, unterstützen bei Bewerbungen und teilen ihr Erfahrungswissen.
  • Netzwerk und Community: Durch regelmäßige Vernetzungstreffen, virtuelle Workshops und Austauschformate stärkt ArbeiterKind.de die Community der Bildungsaufsteiger:innen mit dem Ziel, die soziale Herkunft nicht länger über den Bildungsweg entscheiden zu lassen.

Worin besteht der Mehrwert einer solchen Community?

Wer als Erste:r in der Familie studiert, bringt nicht nur Mut und Neugier mit, sondern steht oft auch vor Herausforderungen, die viele Kommiliton:innen aus akademischen Familien gar nicht kennen. Ohne familiäre Hochschulerfahrung, ohne informelle Tipps zum Studienalltag und ohne ein Netzwerk aus Kontakten fühlt sich der Weg bis zum Studienabschluss schnell befremdlich an. Genau deshalb ist eine starke Gemeinschaft so entscheidend. Die ArbeiterKind.de-Community bietet einen Raum, in dem sich Studierende der ersten Generation auf Augenhöhe begegnen. Hier trifft man auf Menschen, die dieselben Fragen hatten, ähnliche Zweifel kannten – und die den Weg trotzdem gegangen sind oder gerade gehen. Dieses Gemeinschaftsgefühl wirkt stärkend: Zu wissen, dass man nicht allein ist, gibt Sicherheit und Motivation. Ein starkes Netzwerk öffnet Türen zu Wissen, das sonst im Verborgenen bleibt – ob es um Stipendien, die Studienorganisation, Nebenjobs, Praktika oder den Berufseinstieg geht.

Empowerment heißt für ArbeiterKind.de, junge Menschen aus nichtakademischen Familien zu ermutigen, ihren Weg mit Selbstbewusstsein zu gehen. Denn es ist ein großer Schritt, als Erste:r in der Familie zu studieren und dieser verdient Anerkennung, Unterstützung und Sichtbarkeit. In der Community von ArbeiterKind.de geht es deshalb nicht nur um Wissenstransfer, sondern auch um gegenseitige Ermutigung: Wir teilen unsere Geschichten und Erfahrungen, feiern unsere Erfolge und stehen uns bei, wenn es schwierig wird. Gemeinsam macht ArbeiterKind.de sichtbar, dass der Bildungsaufstieg möglich ist – und dass niemand diesen Weg allein gehen muss.

Katja Urbatsch hat ihr Studium trotz anfänglicher Anlaufschwierigkeiten erfolgreich abgeschlossen und ist bis heute Geschäftsführerin von ArbeiterKind.de. Sie erfuhr zwar erst spät von der Möglichkeit, sich für ein Stipendium zu bewerben – erhielt dann aber ein Promotionsstipendium der Hans-Böckler-Stiftung. Aktuell engagiert sie sich als Alumna der Stiftung und bringt sich seit Jahren aktiv in deren ideelles Förderprogramm ein, etwa in Form von Workshops und Seminaren. Mit ArbeiterKind.de wirbt sie aus voller Überzeugung gezielt für die Stipendienangebote aller Begabtenförderungswerke.

[1] Kracke, Nancy et al. 2024: Neuer Bildungstrichter: Trotz Akademisierungsschub immer noch ungleicher Zugang zur Hochschule (DZHW Brief 02|2024), Hannover, https://doi.org/10.34878/2024.02.dzhw_brief.

[2] ArbeiterKind.de 2024: Ergebnisbroschüre der Online-Werkstatt „‚Über Geld spricht man nicht…‘ – Wir schon! Herkunft – Finanzen – Studium“, Berlin, https://www.arbeiterkind.de/sites/default/files/ergebnisbroschuere_online-werkstatt_herkunft_und_finanzen.pdf.

[3] Ullrich, Sebastian et al. 2023: Das schlummernde Potenzial der „First-Generation Professionals“: Herausforderungen von FirstGen-Professionals und Wege, ihr volles Potenzial auszuschöpfen, München, https://web-assets.bcg.com/57/20/86ed7fb549fb95792dc494b67767/das-schlummernde-potenzial-der-first-gen-professionals-bcg-studie.pdf.

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