Dr. phil. habil. Hans-Jürgen Urban (Vorstandsmitglied IG Metall)
1. Die Rahmenbedingungen: die Poly-Krise des globalen Kapitalismus
Die Welt des entwickelten Kapitalismus befindet sich in einer turbulenten Umbruchphase. Das Aufeinandertreffen von säkularen Umbrüchen (Globalisierung, Digitalisierung, De-Karbonisierung und Klimakrise usw.) und einer Serie von externen Schocks („Corona-Pandemie“, „Lieferketten-Risse“, Ukraine-Krieg und Krieg in Nahost, europaweites Vordringen rechtsextremer Parteien usw.) markieren einen Krisenzustand, der als Poly-Krise gefasst wurde: „Eine Polykrise lässt sich definieren als eine Situation, in der das Ganze gefährlicher ist als die Summe seiner Teile. Oder anders gesagt: Die einzelnen Kristen existieren nicht einfach nebeneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Sie sind über vielfältige Wirkungskanäle miteinander verbunden.“[2]
Offensichtlich ist, dass eine Krisenpolitik, die die diversen Krisenwirkungen erfolgreich managen und bewältigen will, einen integrierten Strategieansatz wählen muss, der Transformations- und Krisenpolitik zusammendenkt. Doch bisher bleibt eine solche Politik hinter den Anforderungen zurück. Längst scheint die wirtschaftliche Krise auf die Politik übergesprungen zu sein. Nicht nur das Scheitern der Ampel-Koalition aus SPD, BÜNNIS 90/Die Grünen und FDP kann als Beleg für diese Einschätzung herangezogen werden. Die Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg lenken den Blick auf das Wahlverhalten insbesondere der jungen Wählerinnen und Wähler sowie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Selbst unter den Gewerkschaftsmitgliedern, insbesondere den männlichen, hat die AfD überdurchschnittlich gute Ergebnisse erzielen können. Bemerkenswert sind auch die Wahlergebnisse des Bündnis Sarah Wagenknecht, deren Erfolg wohl auch vor dem Hintergrund von Wut und Enttäuschung über die Ampel-Politik gewertete werden muss. Protest gegen eine weitgehend kopflose Sozial- und Wirtschaftspolitik, der Zorn gegenüber Unternehmensentscheidungen, die Standorte und Arbeitsplätze infrage stellen und eine fatale Sympathie für populistische und autoritäre Politikinhalte vermengen sich auf eine gefährliche Art und Weise. Nicht nur in Deutschland, Europaweit ist ein Ende des Rechtsrucks nicht abzusehen. In Ungarn, Italien, den Niederlande, Frankreich und anderen Staaten ist die politische Rechte auf dem Vormarsch oder bereits in Regierungsfunktion.
2. Die Poly-Krise macht ein Umdenken in Produktion, Arbeit und Gesellschaft notwendig
Viel wird davon abhängen, ob es gelingt, eine überzeugende Alternative auf Seiten der linken Parteien und der Gewerkschaften zu entwickeln. Aus gewerkschaftlicher Sicht müssten die integrierten Aspekte der gegenwärtigen Krisen auf ihre ökonomischen, sozialen und ökologischen Kerne fokussiert und politisch strategisch integriert werden.
Einen sinnvollen analytischen Zugang hat der Soziologe Klaus Dörre vorgeschlagen. Er spricht von der „ökonomisch-ökologische(n) Zangenkrise“. [3] Damit will er auf ein fatales Problem des auf Wachstum beruhenden Kapitalismus aufmerksam machen.
„Der Begriff besagt, dass das wichtigste Mittel zur Überwindung von Stagnation, Arbeitslosigkeit und Armut sowie zur Pazifizierung von Klassenkonflikten im Kapitalismus, die Generierung von Wirtschaftswachstum, unter Status-quo-Bedingungen (hoher Emissionsausstoß, ressourcen- und energieintensiv sowie auf fossiler Grundlage) ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb gesellschaftszerstörend wirkt.“ [4]
Ökonomisches Wachstum auf der Basis fossiler Energien und neoliberale Politik geraten mit nachhaltigem Wirtschaften zunehmend in Widerspruch. Noch ist nicht erkennbar, ob die beschrittenen politischen Handlungsstrategien Auswege aus dieser Krise aufzeigen. Wichtige Dokumente lassen das Gegenteil befürchten.[5] Für Michael Müller, den Vorsitzenden der Naturfreunde und ehemaligen Bundestagsabgeordneten, ist klar: Die Alternative, die auch der jüngste Weltklimabericht beschreibt, heißt: „Weitermachen und die Erde zerstören – oder aber den Klimawandel gestalten: sozial und ökologisch.“[6]
3. „Nachhaltigkeit“ als ökologischer und sozialer Oberbegriff
Doch wenn eine zielführend Politik am Ziel der Nachhaltigkeit ausgerichtet werden soll, stellt sich die Frage: Was bedeutet „Nachhaltigkeit“? Festzustellen ist, dass der Begriff in der gegenwärtigen politischen Diskussion auf eine Vielfalt von Sachverhalten bezogen wird, er aber genau dadurch auch unpräzise und willkürlich wird. Die heutige Bedeutung des Nachhaltigkeitsbegriffs geht auf den sog. Brundtland-Bericht[7] zurück, der 1987 publiziert wurde und die Basis für die 1989 von der UN beschlossene Konferenz für Umwelt und Entwicklung bildete. Der Brundtland-Bericht stellt fest, dass kritische, globale Umweltprobleme hauptsächlich das Resultat der großen Armut im Süden und der nicht nachhaltigen Konsum- und Produktionsmuster im Norden sind.[8] Zugleich entwickelte die Kommission eine Definition von Nachhaltigkeit: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“[9] Dabei umfasst Nachhaltigkeit ökonomische, ökologische und soziale Aspekte.
Die große Themenvielfalt, die auch in den von der UN 2017 verabschiedeten Agenda 2030 und den darin formulierten 17 globalen Nachhaltigkeitszielen zum Ausdruck kommt, verschärft das Problem, zumal diese Ziele augenscheinlich von der Staatengemeinschaft mit zu geringen Durchsetzungsmöglichkeiten verbunden wurden und von vielen Einzelstaaten nicht wirklich ernst genommen und in verbindliches Handeln überführt werden. Zu den Einzelzielen gehören neben der weltweiten Bekämpfung der Armut das Ziel einer inklusiven, chancengerechten und hochwertigen Bildung für Alle sowie die Realisierung von menschenwürdiger Arbeit und nachhaltigen Wirtschaftswachstums. Diese wurden von der Bundesregierung mit einer Reihe von Einzelzielen und Einzelmaßnahmen unterlegt. Zu diesen gehören, differenziert nach inländischen und globalen Maßnahmen, u.a. das Lieferkettengesetz, die Abschaffung von Zwangsarbeit und Menschenhandel, die Beendung der Kinderarbeit, die Herstellung menschenwürdiger Arbeit und Vollbeschäftigung für Alle, eine nachhaltige Finanzwirtschaft u.a.m.[10]
Im Nachhaltigkeits-Diskurs hat sich auch ein Strang entwickelt, der sich mit dem „nachhaltigen Unternehmen“ befasst und der die Aufmerksamkeit der Gewerkschaften erwecken sollte. Ein Unternehmen handelt demnach nachhaltig, wenn es auf gleicher Stufe wirtschaftliche, umweltbezogene und gemeinnützige Ziele verfolgt. Für die Führungskräfte und die gewerkschaftliche Interessenvertretung bedeutet dies, dass die betrieblichen Aktivitäten so zu koordinieren sind, dass ökonomische (u.a. Liquidität, Gewinn), ökologische (u.a. Ressourcenschonung) und soziale (u.a. Partizipation, Arbeits- und Gesundheitsschutz) Ziele gleichzeitig realisiert werden sollten. Ein Anspruch, von dem wir wissen, dass er ohne Konflikte und aktive Betriebs-/ Personalräte und Belegschaften nicht durchzusetzen ist.
4. Die Klimakrise erfordert konsequentes staatliches und betriebliches Handeln
Dabei ist offensichtlich, dass sich die Klimakrise zuspitzt. Das ist unstrittiges Faktum z.B. des Weltklimaberichts. Wesentliche Gefährdungen werden von den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit zusammengefasst. Zu lesen ist:
„Der Klimawandel hat erhebliche Schäden und zunehmend irreversible Verluste in Land-, Süßwasser- und Meeresökosystemen an der Küste und im offenen Ozean verursacht (hohes Vertrauen). Hunderte von lokalen Artenverlusten sind darauf zurückzuführen, dass Hitzeextreme in ihrem Ausmaß zugenommen haben (hohes Vertrauen), wobei an Land und im Meer Massensterben verzeichnet wurden (sehr hohes Vertrauen). Die Folgen für einige Ökosysteme nähern sich der Unumkehrbarkeit, wie zum Beispiel die Folgen hydrologischer Veränderungen infolge des Gletscherrückgangs oder die Veränderungen in einigen Gebirgsökosystemen (mittleres Vertrauen) und arktischen Ökosystemen infolge des Tauens von Permafrost.“[11]
Die sog. Pariser Klimaziele sind kaum noch einzuhalten. Dabei ist nicht zu leugnen: Die Wirkungen auf die Staaten des globalen Südens sind deutlich größer als für die entwickelten Gesellschaften des Nordens und die Folgen für die Armen tiefgreifender als für die Reichen. Die Vorschläge der Wissenschaftler*innen zeigen die Reichweite der notwendigen Veränderungen. Allein für den Bereich „Industrie und Verkehr“ lesen sie sich wie ein umfassendes Pflichtenheft für Politik und Geschäftsleitungen. Die wichtigsten Hinweise sind:
- koordiniertes Vorgehen entlang der gesamten globalen Wertschöpfungskette;
- Nachfragemanagement, Energie- und Materialeffizienz;
- Materialkreisläufe;
- Neugestaltung der Produktionsprozesse;
- Elektrofahrzeuge mit Antrieben, die mit treibhausarm erzeugtem Strom gefahren werden können;
- effiziente Herstellung der Batterien mit reduziertem ökologischem Fußabdruck;
- integrierte Verkehrssysteme u.a.m.[12]
Die Wirkungen in der chemischen Industrie, im Stahlbereich und der Automobilindustrie einschließlich der Zuliefererbetriebe sind für die deutsche Wirtschaft besonders eklatant. Hier ist der umfassende Ersatz fossiler Brennstoffe und ein breiter Einsatz „grünen“ Wasserstoffes notwendig (Dekarbonisierung). Deutlich wird, wie dramatisch die strukturellen Veränderungen in den Branchen durchschlagen. Obwohl es Hinweise gibt, die insgesamt von der optimistischen Annahme geprägt sind, dass der Verlust von Arbeitsplätzen in der einen Branche durch Zugewinne in anderen Branchen kompensiert werden können, zeigen doch die aktuellen Auseinandersetzungen etwa in den Automobil-, Zulieferer- oder Stahlindustrien, wie dramatisch die Risiken des Beschäftigungsabbaus und von Werkschließungen sind und welche Befürchtungen in den Belegschaften damit verbunden sind. Zu betonen ist, dass es um Arbeitsplätze geht, die aufgrund gewerkschaftlicher Stärke und durchsetzungserfahrener Belegschaften zu den besser bezahlten gehören und nicht selten über ihre Tarifverträge durch ein überdurchschnittliches Maß an sozialer Sicherheit verfügen.
5. Klimagefährdung und soziale Ungleichheit
Die Erkenntnis, dass die ökologische Krise nur erfolgreich bekämpft werden kann, wenn zugleich auch die soziale Krise thematisiert wird, ist noch immer nicht politisches Allgemeingut und kann als ein zentrales Problem der aktuellen Politik gelten. Positiv ist festzustellen, dass sie sich in der Umweltbewegung zunehmend verbreitet und damit die Voraussetzungen für gemeinsames Handeln spürbar verbessert. „Die Klimakrise ist eine gigantische Ungerechtigkeitskrise“, formuliert etwa Carla Reemtsma am Vorabend einer neuerlichen Demonstration der „Fridays for Future“ – Bewegung.[13] Wir sprechen hier über einen Zusammenhang, der sowohl global zwischen den entwickelten Ländern des Nordens und den armen Ländern des Südens gilt wie auch innergesellschaftlich zwischen den Vermögenden und Menschen mit unterdurchschnittlichem Einkommen. Das ist historisch wie für die Gegenwart der Fall. Beispielsweise entfallen 49 Prozent der globalen Treibhausemmissionen seit 1850 auf Nordamerika und Europa.
Oder zitieren wir eine andere Zahl: „Die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung verursachten 2019 die Hälfte aller weltweiten CO²-Emissionen. (…) Über den Zeitraum 1990 – 2019 hatte das reichste Prozent doppelt so viele CO²-Emissionen zu verantworten wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.“ [14]
Was für den globalen Maßstab gilt, hat auch im nationalen Kontext ein ähnliches Muster. Auch für Deutschland gilt die einfache Gleichung: je vermögender ein Bürger bzw. eine Bürgerin, desto höher der Anteil an den CO²-Emissionen.
„Das reichste Prozent in Deutschland war 2019 für durchschnittlich 83,3 Tonnen CO² -Emissionen pro Kopf und Jahr verantwortlich – mehr als fünfzehnmal so viel wie ein Mensch aus der ärmeren Hälfte der Deutschen (5,4 Tonnen CO² pro Kopf und Jahr) und immer noch siebenmal so viel wie ein Mensch aus der verhältnismäßig begüterten Mittelschicht der mittleren 40 Prozent (11,4 Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr).“[15]
Zwar seien in Deutschland die Pro-Kopf-Emissionen in den letzten Jahren in allen Einkommensgruppen gesunken, allerdings gebe es auch hier deutliche Unterschiede:
„Während die ärmere Hälfte der Deutschen ihre Emissionen um 37 Prozent und die mittleren 40 Prozent um 36 Prozent reduzieren konnten, schafften die reichsten zehn Prozent nur 24 Prozent Reduktionen und das reichste Prozent nur 12 Prozent.“[16]
Das unübersehbare Fazit dieser Ausführungen lautet: Umwelt- und Klassenfragen verschränken sich in der Klimakrise. Die soziale Schieflage ist evident. Während „die Reichen“ (Staaten oder Vermögende) überdurchschnittlich auf der Verursacherseite zu finden sind, sind es „die Armen“ (Staaten und Bürger/innen), welche überdurchschnittlich die Folgen tragen müssen.
Konfliktachsen der sozialen Transformation
In diesem Zusammenhang möchte ich auf vier zentrale Konfliktachsen hinweisen, die zugleich auf zentrale Interessengegensätze verweisen. Die Konflikte, die entlang dieser Achsen und innerhalb der benannten Antipoden geführt werden, prägen die Entwicklungspfade in Ökonomie, Gesellschaft und Politik; und gegenwärtig blockieren sie sich wechselseitig und stehen einer erfolgreichen Transformationspolitik im Wege:
- Konfliktachse Beschäftigung: zukunftssichere Beschäftigung für alle oder weitere Prekarisierung und Spaltung der Beschäftigten in Gewinner und Verlierer der Transformation;
- Konfliktachse Gute Arbeit: entweder lernförderliche, inklusive und selbstbestimmte Arbeit oder arbeitskraftverzehrende, entgrenzte und fremdbestimmte Arbeit;
- Konfliktachse soziale Sicherheit: entweder umfassende soziale Sicherung bei Krankheit, im Alter und bei Erwerbslosigkeit und zukunftsfähiger Ausbau des Sozialstaats oder weitere Prekarisierung der Lebensverhältnisse und Privatisierung der sozialen Risiken;
- Konfliktachse Verteilung: Stärkung der Verteilungsposition der Beschäftigten und von Armut Bedrohten oder weitere Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich.
Politische Vorschläge für eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gibt es in hinreichendem Maße. Aber Blockaden eben auch. Die sog. „Schuldenbremse“ und ein Mangel an öffentlichen Investitionen wird selbst vom Sachverständigenrat kritisch hinterfragt.[17] Der langjährige Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, spricht angesichts der Entwicklung von Armut und dem Mangel von Investitionen in Deutschland von einem „Versagen einer Republik“.[18]
7. Die Ökologie der Arbeit als strategischer Ansatz für nachhaltige Arbeitsgestaltung
Dabei werden die Probleme immer dringlicher. Eine in März und April 2024 durchgeführte Betriebsrätebefragung der IG Metall, an der sich bundesweit rund 2.600 Betriebsräte vorwiegend aus der Metallwirtschaft beteiligten, die wiederum insgesamt ca. 1,48 Mio. Beschäftigte repräsentierten, zeigt auf, dass 36 Prozent von einer vollständigen oder teilweisen „Transformationsbetroffenheit“ für den von ihnen repräsentierten Betriebe ausgehen. Allerdings können lediglich knapp die Hälfte der Befragten eine betriebliche Strategie der Transformationsbewältigung erkennen.[19] Das zeigt: Betriebliches Handeln der Interessenvertretungen und gesellschaftliche Aktivitäten der Gewerkschaften sind dringlicher denn je. Um das arbeitspolitische Feld einer sozialen und ökologischen Transformation zu beschreiben, habe ich den Begriff der Arbeitsökologie zur Diskussion gestellt. Mit dem Konzept der Arbeitsökologie lassen sich drei elementare Reproduktionszusammenhänge verbinden, die es strategisch zu integrieren gilt: die Reproduktion der Arbeitskraft, der Gesellschaft und der Natur.[20]
Alle drei Zusammenhänge sind für ein ökonomisches Entwicklungsmodell relevant, das sich einerseits den Wachstumszwängen der neoliberalen Ökonomie widersetzt, das gleichwohl von der Notwendigkeit eines selektiven, qualitativen Wachstumstyps überzeugt ist. Sie sind ebenfalls für eine arbeitskraftzentrierte Arbeitspolitik unverzichtbar, die sich nicht auf Handlungsspielräume zurückzieht, die ihr durch gegenwärtige betriebliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen vorgegeben sind, sondern die sich durch eine offensivere Schutz- und Gestaltungspolitik auszeichnet.
Auf der Makroebene ist Arbeitsökologiepolitik ein Thema der Gestaltung von Ökonomie, Arbeit und Gesellschaft. Auf der Mesoebene des Betriebes bildet es den Handlungsrahmen einer der sozialen und ökologischen Transformation verpflichteten Betriebspolitik für Interessenvertretungen und Gewerkschaften. Auf der Mikroebene des einzelnen Subjekts, seiner Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie seiner Handlungsressourcen gibt es Orientierung für individuelle Handlungsperspektiven. Und, und darauf kommt es hier an, es gibt Hinweise für ein an Nachhaltigkeit orientiertes Verständnis von allgemeiner und beruflicher Bildung.
8. Berufliche Bildung und Arbeitsökologie
Nachhaltigkeit ist ein Querschnittsthema der allgemeinen wie der beruflichen Bildung, für Aus- und Weiterbildung, Schulen, Betriebe und Hochschulen. Die Thematik hat sowohl quantitative wie qualitative Dimensionen. Es geht um Zahl der Ausbildungsplätze und um den Inhalt nachhaltiger Ausbildung.
Trotz der Verfestigung der Arbeitslosigkeit aufgrund der konjunkturellen Schwäche, was dazu führte, dass die Langzeitarbeitslosigkeit sich wieder deutlich auf das Vor-Corona-Niveau bewegt hat und insbesondere Niedrigqualifizierte betrifft, ist nach wie vor in wichtigen Bereichen der Ökonomie von einem Mangel an Fachkräften auszugehen. Dieser Mangel ist sowohl in den Ausbildungsberufen wie in den akademischen Berufen festzustellen und betrifft mit wenigen Ausnahmen die meisten Wirtschaftsbereiche und damit auch Berufe, die für die ökologische Transformation von großer Bedeutung sind.[21] Fällt der Blick auf die Ausbildungsquote der Metallwirtschaft, ist offensichtlich, dass die Aktivitäten der Wirtschaft nicht ausreichen, dem Mangel an Fachkräften erfolgreich entgegenzuwirken. Seit mehreren Jahren ist dort die Ausbildungsquote rückläufig. Sie liegt nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 2022 nur noch bei 4,34 Prozent. Zeitgleich ist die Zahl der ausbildenden Betriebe rückläufig und – was die soziale Dimension des Problems verdeutlicht – die Zahl der unversorgten Jugendlichen weiterhin sehr hoch.
Insgesamt sind neben zusätzlichen Anstrengungen der Unternehmen mit Blick auf die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätzen auch Verbesserungen in der frühen Berufsorientierung, in der Ausstattung der Jugendberufsagenturen und bezüglich des Rechts auf einen Ausbildungsplatz unverzichtbar. Für Ingenieurinnen und Ingenieure ist der Arbeitsmarkt insgesamt ausgeglichen. Insbesondere in den Bereichen, die sich mit Künstlicher Intelligenz (KI) oder Industrie 4.0-Konzepten auseinandersetzen, sind, so Aussagen des Verbandes Deutscher Ingenieure (VDI), die Berufsaussichten relativ gut. Ein noch vor wenigen Jahren eklatanter Mangel an Ingenieurinnen und Ingenieuren ist durch ausländische Arbeitnehmer*innen zu einem großen Teil ausgeglichen worden. Dennoch geht der VDI gemeinsam mit dem Institut der Deutschen Wirtschaft (DIW) davon aus, dass der bestehende Mangel an Ingenieurinnen und Ingenieuren mit einem Verlust an Wertschöpfung in Höhe von 14 Mrd. Euro verbunden ist.[22]
Dass auch in der Weiterbildung noch viel zu verbessern wäre, belegt ein Blick in die aktuelle Statistik. Im Adult Education Survey werden drei Segmente unterschieden: betriebliche Weiterbildung; individuelle Weiterbildung; nicht berufliche Weiterbildung. Erfasst werden formelle und informelle Lernangebote. Ein Vergleich der sozialen Gruppen nach Qualifikationsniveau zeigt, dass die Gruppe der Führungskräfte von 77 Prozent in 2012 auf 82 Prozent in 2022 in den letzten Jahren auf hohem Niveau weiter gewachsen ist; die Gruppe der Fachkräfte von 62 Prozent auf 71 Prozent sowie die Geringqualifizierten von 37 Prozent auf 50 Prozent bleiben deutlich dahinter zurück. Schaut man auf die Teilgruppe der betrieblichen Weiterbildung, so bildet sich dieses Verhältnis in gleicher Weise ab.[23] Mit anderen Worten: Beschäftigungssicherung als ein Indikator für nachhaltige Arbeitsmarktentwicklung bedarf weiterer Anstrengungen in Ausbildung, Studium und Weiterbildung. Reformvorschläge liegen vor.
Nachhaltige Bildung ist über die Plattformen für den schulischen Bereich (BNE) und für die Berufsbildung (BBNE)[24] durch die Bundesregierung relativ klar umrissen und durch eine Vielzahl von Handlungshilfen und Netzwerkangeboten unterlegt. Schaut man insbesondere in die berufliche Bildung, so sticht die Vielzahl der Aktivitäten des Bundesinstitutes für Berufsbildung (BIBB) ins Auge. Zu nennen sind die Modellprojekte, die seit einigen Jahren den Schwerpunkt Nachhaltigkeit aufweisen und selbst über einen Mehrebenansatz betriebliche Hilfestellungen und Hinweise für die Wissenschaft vereinen. Zu nennen sind hier Anstrengungen im Bereich der Ausbilderweiterbildung. In der Ordnungsarbeit ist an die im November 2020 vom Hauptausschuss des BIBB beschlossenen modernisierten „Standardberufsbildpositionen“ und ihnen folgenden Umsetzungsschritte in den zwischenzeitlichen neu geschaffenen Ausbildungsordnungen zu erinnern.[25] Waren Ausbildungsinhalte bisher an ein eher konservatives Verständnis betrieblichen Umweltschutzes gebunden, erweitern sie diesen Bereich um wesentliche Elemente der Nachhaltigkeitsdiskussion. Dazu kommen neue Formulierungen im Bereich Digitalisierung. Bemerkenswert sind diese Positionen, weil sie neue Schwerpunkte auf die Persönlichkeitsentwicklung und auf die Entwicklung von Gestaltungskompetenzen legen. So gehört der Lerninhalt „Zielkonflikte und Zusammenhänge zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Anforderungen“ zu den zu erlernenden Inhalten im Bereich „Umweltschutz und Nachhaltigkeit“ unter dem Stichwort „Vorschläge für nachhaltiges Handeln für den eigenen Arbeitsbereich entwickeln.[26] Zudem wurden eine Vielzahl von Modellprojekten durchgeführt und hinsichtlich ihrer Transfermöglichkeiten ausgewertet, erste Ausbildungsordnungen erneuert und eine Vielzahl von Handlungshilfen erstellt. Aktuell werden Projekte zur Ausbilderqualifizierung durchgeführt, die eine Verbreitung einer an Nachhaltigkeit orientierten Ausbildung erleichtern sollen.
Nachhaltige berufliche Ausbildung orientiert sich an einer Idee beruflicher Arbeit „als ein Schlüssel für die Entwicklung und Umsetzung notwendiger Transformation. BBNE wird als lebensbegleitender Prozess und zentrales Element einer Bildung verstanden, die das Individuum befähigt, sich mit aktuellen und künftigen Herausforderungen in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen verantwortlich auseinander zu setzen.“[27] Dieses normative, auch in die Berufsbildung wirkende Verständnis von Nachhaltigkeit bewegt sich in einem Widerspruchsfeld. Es bezieht die verschiedenen Dimensionen gesellschaftlichen, betrieblichen und individuellen Handelns aufeinander und schafft dabei einen arbeitspolitisch anspruchsvollen Horizont; zugleich besteht die Gefahr, die man als Versubjektivierung nachhaltigen Handelns begreifen kann. Denn vieles bleibt auf der individuellen Handlungsebene haften, ohne den Auszubildenden oder den Beschäftigten ausreichend Sicherheit für intervenierendes und gestaltendes Handels zu geben. Doch ohne die Gestaltung der Rahmenbedingungen und damit ohne die Festschreibung der individuellen und kollektiven Mitgestaltungsrechte verfügt an Nachhaltigkeit orientierte Ausbildung und Arbeit nur so weit an Wirkungsmöglichkeiten, wie man bereit ist, bestehende Besitz-, Macht- und Anweisungsstrukturen zu hinterfragen und zugunsten individueller und kollektiver Mitwirkungsmöglichkeiten auszuweiten.
9. Ausblick
An Nachhaltigkeit orientierte berufliche Bildung und gute, ökologische und humane Arbeit sind untrennbar und aufeinander angewiesen. Für die berufliche Ausbildung ist die Frage zentral, wie sich in der Ausbildung erworbene Gestaltungskompetenzen in berufliches, arbeitsgestaltendes Handeln transferieren lassen. Spielräume für arbeitsgestaltende Interventionen sowohl am Arbeitsplatz wie im Betrieb müssen dabei rechtlich abgesichert und organisatorisch umgesetzt werden können, etwa durch die Organisation von in den Abteilungen organisierten Beteiligungsgruppen wie sie Bestandteil der HdA-Projekte in den siebziger und achtziger Jahren waren.[28] Mit anderen Worten: soll die Umsetzung der Ausbildungsziele die Spannweite ökonomischer, ökologischer und sozialer Themen umfassen, soll eine nachhaltig ausgerichtete Ausbildung auch Auswirkungen auf die verwandten Stoffe, auf das Abfall- und Ressourcenmanagement des Betriebes, auf die Arbeitsorganisation, auf Prozesse und Produkte, auf die Wertschöpfungskette haben und sind schließlich auch positive Auswirkungen auf Arbeitsinhalte und Arbeitsbedingungen nicht ausgespart, so bedarf es einer Erweiterung der Mitwirkungsrechte und der Mitgestaltungsmöglichkeiten. Und dies auf allen fachlichen und politischen Ebenen.
Ökologie der Arbeit bedarf somit des Ausbaus industrieller Demokratie. Diese muss von der Erweiterung individueller und kollektiver betrieblichen Mitbestimmungsrechte, etwa zum Umweltschutz, in Berufsbildung und Weiterbildung bis hin zu der Ausweitung der Mitbestimmungsrechte auf der Unternehmensebene und in der Gesellschaft reichen. Unverzichtbar ist, über die engere ökologische Diskussion hinauszuschauen. Nicht nur aus klimapolitischen Gründen stehen die Gesellschaften – und mit ihnen die Gewerkschaften – am Scheideweg. Dem Betrieb kommt als Raum der materiellen Transformation, aber auch als Ort der täglichen Begegnung und der sozialen Interessenkämpfe eine besondere Bedeutung zu. Deshalb ist es unverzichtbar, den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und ein Mehr an Beteiligung auch zu einem zentralen Gegenstand der ökologischen Transformation zu machen.
[1] Der Beitrag geht auf einen Vortrag auf der zentralen IG Metall – „Ausbildungstagung“ am 11. Juni 2024 in Berlin zurück. Inhaltich orientiere ich mich überdies an einem Vortag zu einem ähnlichen Thema, den in ich in der Vorlesungsreihe der Gemeinsamen Arbeitsstelle Ruhr-Universität/IG Metall am 21. Mai 2024 gehalten habe. Überdies sind auch Gedanken zur „Demokratiepolitik im Betrieb“ eingeflossen, siehe: Urban, Hans-Jürgen (Hrsg.): Gute Arbeit gegen rechts, Hamburg (VSA) 2024. Der Vortragscharakter wurde weitgehend beibehalten.
[2] Tooze, Adam: Kawumm!, aus Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Juli 2022.
[3] Klaus Dörre 2020: Die Corona-Pandemie – eine Katastrophe mit Sprengkraft. in: Berliner Journal für Soziologie. Onlinefassung, Abschnitt 2.
[4] Ebd.
[5] Im Folgenden beziehe ich mich auf: Gerhardt Bosch: Arbeitspolitik in der Transformation. Soziale Härten vermeiden. Eine Studie im Rahmen des Projekts „Sozial-ökologische Transformation der deutschen Industrie“ (Rosa-Luxemburg-Stiftung; Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik), Berlin 2022; Studie_Industriepolitik-Arbeitspolitik.pdf (letzter Zugriff 10/2024)
[6] Michael Müller: Weltklimabericht: Der ökologische Kolonialismus spitzt sich zu. Online, https://www.naturfreunde.de/tag/michael-mueller (letzter Zugriff 09/2024)
[7] United Nations (Hrsg.): Report of the World Commission on Environment and Development. https://www.are.admin.ch/are/de/home/medien-und-publikationen/publikationen/nachhaltige-entwicklung/brundtland-report.html (letzter Zugriff 10/2024)
#Our Common Future, New York 1987#
[8] Kernschreibteam/ Hoesung Lee/ Jose`Romero (Hrsg.): Klimawandel 2023, Synthesebericht. Zusammenfassung für die politische Entscheidungsfindung (Deutsche Übersetzung): www.de-ipcc-de (letzter Zugriff 09/2024);
[9] Übersetzung von https://www.are.admin.ch/are/de/home/medien-und-publikationen/publikationen/nachhaltige-entwicklung/brundtland-report.html (letzter Zugriff 09/2024)
[10] Vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik (letzter Zugriff 09/2024)
[11] Weltklimabericht, online unter: www.umweltbundesamt.de/themen/klima-energie/grundlagen-des-klimawandels/weltklimarat-ipcc/sechster-sachstandsbericht-des-weltklimarates-ipcc#physische-grundlagen-und-beobachtete-veranderungen-im-klimasystem (letzter Zugriff 10/2024)
[12] Ebd.
[13] FR vom 20. September 2024, S. 9
[14] Oxfam Deutschland (Hrsg.): Klima der Ungleichheit. Wie extremer Reichtum weltweit die Klimakrise, Armut und Ungleichheit verschärft. Berlin, November 2023, S. a
[15] Ebd., S. 6.
[16] Ebd.
[17] SVR (Sachverständigen Rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage): Pressemitteilung, Schuldenbremse pragmatisch anpassen: Flexibilität erhöhen, Stabilität wahren, 30. Januar 2024, https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/presse/details/policy-brief-schuldenbremse-pressemitteilung.html (letzter Zugriff 09/2024)
[18] Ulrich Schneider: Krise. Das Versagen einer Republik. Westend. Ffm. 2024
[19] IG Metall: Betriebsrätebefragung zur Wirtschaftlichen Lage. Ffm April 2024 (Präsentation)
[20] Vgl. Hans-Jürgen Urban (2019): Gute Arbeit in der Transformation. Über eingreifende Politik im digitalisierten Kapitalismus. Hamburg, VSA, S. 185; Hans Jürgen Urban: Ökologie der Arbeit als Kooperationsfeld von Wissenschaft und Gewerkschaften, DENK-doch-MAL 2/21 (https://denk-doch-mal.de/hans-juergen-urban-oekologie-der-arbeit-als-kooperationsfeld-von-wissenschaft-und-gewerkschaften/ (letzter Zugriff 09/2024)
[21] Vgl. Interview mit Enzo Weber, in: iab-forum vom 23. Sept. 2024, https://www.iab-forum.de/wirtschaftsabschwung-daempft-arbeitsmarktentwicklung/ (letzter Zugriff 10/2024);
Vgl. IAB-Monitor Arbeitskräftebedarf 1/2024, https://www.iab-forum.de/iab-monitor-arbeitskraeftebedarf-4-2024-die-zahl-der-offenen-stellen-ist-im-vergleich-zum-vorjahres-quartal-um-rund-ein-zehntel-gesunken/ (letzter Zugriff 10/2024)
[22] Vgl. VDI-Nachrichten https://www.vdi-nachrichten.com/karriere/arbeitsmarkt/vdi-auslaendische-ingenieure-staerken-den-deutschen-arbeitsmarkt/ (letzter Zugriff 10/2024)
[23] Zahlen aus Adult Education Survey: BMBF (Hrsg.): Weiterbildungsverhalten in Deutschland, Berlin März 2024; https://www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/1/26667_AES-Trendbericht_2022.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (letzter Zugriff 10/2024)
[24] Vgl. hierzu https://www.bmbf.de/bmbf/de/bildung/berufliche-bildung/foerderinitiativen-und-programme/nachhaltigkeit-in-der-beruflichen-bildung/nachhaltigkeit-in-der-beruflichen-bildung_node.html (letzter Zugriff 10/2024)
[25] Vgl. BIBB Standardberufsbildpositionen https://www.bibb.de/dokumente/pdf/HA172.pdf (letzter Zugriff 10/2024)
[26] BIBB (Hrsg.), Ausbildung gestalten. Die modernisierten Standardberufsbildpositionen anerkannter Ausbildungsberufe, Bonn 2021, S. 12 https://www.bibb.de/dokumente/pdf/HA_Erlaeuterungen-der-integrativ-zu-vermittelnden-Fertigkeiten-Kenntnisse-und-Faehigkeiten.pdf (letzter Zugriff 10/2024)
[27] Deutsche UNESCO-Kommission: Strategiepapier der Arbeitsgruppe „Berufliche Aus- und Weiterbildung“, Bonn 2014
[28] Vgl. Else Fricke, Werner Fricke, Manfred Schönwälder, Barbara Stiegler: Qualifikation und Beteiligung. Das „Peiner Modell“, Campus, Frankfurt/New York 1981