Editorial

Dr. Bernd Kaßebaum (Mitglied der Redaktionsgruppe von DENK-doch-MAL) und Martina Schmerr (Referentin im Vorstandsbereich Schule der GEW)

Der Anspruch dieser Ausgabe ist es Akzente zu setzen, Akzente in einer komplexen und notwendigen Debatte. Nicht mehr und nicht weniger.

Unsere Fragen dabei sind:

  1. Welche Rolle spielt Bildung bei der Vermittlung eines demokratischen Wertefundaments?
  2. Welche Kontroversen ranken um dieses Thema?
  3. Welche gesellschaftlichen Entwicklungen behindern die Möglichkeit von Bildung für eine demokratische Gesellschaft?
  4. Wie stellt sich die Praxis in ausgewählten Feldern der schulischen, gewerkschaftlichen und beruflichen Bildung dar?

Wir möchten explizit nicht von Werteerziehung sprechen, sondern von einer Werteorientierung in Bildung. Wir knüpfen damit an einen Diskurs an, der sich kritisch mit Werteerziehung auseinandersetzt.[1] Bezugnehmend auf Oskar Negt, bildet die Auseinandersetzung mit den demokratischen Werten der bürgerlichen Gesellschaft einen nicht unwichtigen Teil einer emanzipativen politischen Bildung. Es geht um Menschenwürde, Demokratie und soziale Gerechtigkeit.

Demnach wären die universalen Menschenrechte und die im Grundgesetz niedergelegten Grundrechte Bezugspunkt und Gegenstand eines kritischen Bildungsprozesses, in dem die in diesen Rechten zum Ausdruck kommenden Werthaltungen in ihrer historischen Genese beschrieben, ihre Umsetzung in gesellschaftliche Wirklichkeit überprüft und ihre Orientierung für individuelles und kollektives soziales und politisches Handeln diskutiert werden. Das Spannungsverhältnis zwischen politischen und sozialen Grundrechten ist Ausgangspunkt der kritischen Reflexion. Mit den Worten Oskar Negts: „Ohne Wirtschaftsdemokratie gibt es keine haltbare Zivilgesellschaft“.[2]

Der unreflektierte und allenfalls mit Hinweis auf die Modellbildung begründbare Bezug auf den „Homo oeconomicus“ in wesentlichen Bereichen der ökonomischen Bildung transportiert eine Werthaltung, die soziale Beziehungen auf ein Gegeneinander reduziert und den eigenen ökonomischen Nutzen zum Maßstab individuellen und sozialen Verhaltens macht. Solcherart verkürzte ökonomische Bildung unterstützt den Trend zur Ökonomisierung des Sozialen, die ethischen Werte müssen sich den ökonomischen, meist betriebswirtschaftlichen Prämissen unterordnen. Ökonomische Bildung in der genannten Verkürzung gerät in Widerspruch zu politischer Bildung.[3] Implizit begünstigt sie eine Wertorientierung des Egoismus.

Im beginnenden Zeitalter von Corona scheint das über soziale Medien vermittelte E-Learning das Non-Plus-Ultra angemessener Pädagogik zu sein. Fragen nach den wirtschaftlichen Interessen der Anbieter, meist die der großen Internetkonzerne, werden ebenso als randständig gesehen wie die nach Datenschutz und informationeller Selbstbestimmung. Entscheidend ist jedoch, dass die Algorithmisierung von Bildung zu einer Vorbestimmung pädagogischer Prozesse führen kann, die in Widerspruch zu der im kritischen und oft auch kontroversen Diskurs gewonnenen Urteilsfindung geraten kann. „Das Neue an Learning Analytics ist,“– so schreibt Ilka Hoffmann, für Schulpolitik verantwortliches Vorstandsmitglied der GEW – „dass die Tools nicht allein von Pädagog*innen entwickelt und kontrolliert werden, sondern durch von Informatiker*innen programmierte Algorithmen.“[4] Diese Konzepte werden – so ihre Befürchtung – weniger von Lerntheorie und Entwicklungspsychologie bestimmt, als von den materiellen Interessen und technischen „Sachzwängen“ der Anbieter.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung führt seit Jahren die sogenannten „Mittestudien“ durch, in denen danach gefragt wird, wie weit rechtsextreme und demokratiefeindliche Einstellungen in die „Mitte der Gesellschaft“ vorgedrungen sind. Einerseits zeigen die Ergebnisse, dass nach wie vor ein Großteil der Gesellschaft von den Vorteilen einer pluralen Demokratie überzeugt ist. Andererseits – so konstatieren die Herausgeber*innen – sei von einer „Gleichzeitigkeit von demokratischen und antidemokratischen Orientierungen“ auszugehen, was darauf verweist, „dass bestimmte Werte zum Teil eher auf abstrakter Ebene verbleiben als in die eigene Lebensrealität und beispielsweise auf die tatsächlichen Beziehungen zu anderen Menschen übertragen zu werden.“ Ihre Schlussfolgerung daher ist: „Bildung müsste Demokratie (…) erfahrbar machen, und nicht nur abstraktes Wissen über das politische System vermitteln.“[5]

Als ein heute wieder populärer Theoretiker und Praktiker für Demokratiebildung gilt John Dewey. Auf ihn wird interessanterweise gegenwärtig nicht nur in der politischen, sondern auch in der beruflichen Bildung Bezug genommen. So hebt Hubert Ertl hervor, dass Deweys Bildungsbegriff und sein umfassendes Verständnis von Beruf hervorragend dafür tauge, „in einem marktorientierten ökonomischen Umfeld werteorientiert zu agieren.“[6] Abgesehen von der Frage, ob und in welchem Kontext dieses ambivalente Verhältnis gelten kann, gilt Dewey als herausragender Pädagoge der Praxis, in deren Zentrum sich Demokratie als der Profitorientierung widerstrebende Lebensform entfalten kann.[7] Insofern hat Dewey nicht nur großen Einfluss auch auf die gewerkschaftliche Bildung in den US-Gewerkschaften gehabt; er gilt ebenso als Vertreter einer Pädagogik, die innerhalb des fremdbestimmten Kapitalismus für eine demokratische Praxis der Selbstorganisation wirbt.

Dass die beste Bildung die sei, die Demokratie erfahrbar mache, ist eine Position, die auch die Kultusministerkonferenz teilt. Die Kultusministerkonferenz betont in Bezug auf die Institution Schule, dass sie „kein wertneutraler Ort“ sei. „Das pädagogische Handeln in Schulen“, so wird anschließend ausgeführt, „ist von demokratischen Werten und Haltungen getragen, die sich aus den Grundrechten des Grundgesetzes und aus den Menschenrechten ableiten lassen.“[8] Die Landesgesetze enthalten entsprechende Formulierungen. Bildung und Erziehung habe sich an den Werten des Grundgesetzes zu orientieren. Doch wie erleben Lehrende und Lernende in den Institutionen der allgemeinen und beruflichen Bildung ihre Praxis in Bezug auf Menschenrechte, Partizipation und demokratische Mitsprache? Wie demokratisch sind Schule, Hochschule und Betrieb? Wie kann Berufsbildung, die zu einem erheblichen Teil am Lernort Betrieb in einem privatwirtschaftlich bestimmten Umfeld organisiert ist, dazu beitragen?

Noch grundsätzlicher ist zu fragen, welche individuelle und soziale Kraft Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Solidarität und Gerechtigkeit in einer an Widersprüchen reichen, nach wie vor vom Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit bestimmten Welt entfalten können. Die Realität sozialer Unsicherheit, die Gleichzeitigkeit von materieller und sozialer Armut bei Vielen und die Bündelung von ungeheurem Reichtum und politischer Macht bei Wenigen machen auch den Widerspruch zwischen dem Wertegerüst dieser Gesellschaft und der Verwirklichung dieser Werte immer greifbarer und tragen damit auch zur Erosion demokratischer Werte bei. Empirische Studien belegen, dass viele Legitimitätsprobleme der Politik mit einer Verletzung des Gleichheitsversprechens der Demokratie einhergehen und von sozialer und politischer Ungleichheit nicht zu trennen sind.[9] Die Vermarktlichung aller gesellschaftlichen Bereiche, welche die Menschen zu Kund*innen und Anbieter*innen, die Beschäftigten zu Arbeitskraft-Unternehmer*innen macht, treibt den Prozess der Zerstörung demokratischer Öffentlichkeiten und solidarischer Lebensformen weiter voran. Stephan Lessenich spricht in Bezug auf diese Widersprüche von einer „Dialektik der Demokratie“, die letztlich zu einer „Demokratisierung der Demokratie“ führen und eine „demokratische Transformation“[10] einleiten müsse.

Deshalb ist der Hinweis von Oskar Negt unabdingbar: „Aber wir werden in den Wertediskursen nicht weiterkommen, wenn wir uns nicht auf den bedrohlichen Zustand der gesellschaftlichen Krisenherde einlassen, die es gegenwärtig gibt.“[11] Vielleicht muss der Blick noch weiter reichen. Je weiter die Wertediskussion sich von realer Praxis entfernt, umso mehr trägt sie dazu bei, dass diese Praxis aus dem Blick gerät. Um hier ergänzend nochmals auf Helmut Heid zurückzukommen: „Je weiter (abstrakte) Grundwerte sich nominell von den in der gesellschaftlichen Praxis existierenden Interessenkonflikten entfernen, desto mehr sind sie geeignet, die Strukturen und Prozesse dieser Praxis zu legitimieren.“[12]

Wir möchten uns in diesem Heft an diesen Hinweisen orientieren und interpretieren sie in zwei Richtungen.

  • Erstens müssen wir von einer engen Verbindung einer gesellschaftlichen Verfasstheit und ihrem gesellschaftlichen Wertegerüst ausgehen bzw. grundsätzlicher, von einem engen Verhältnis von Bildung zu Gesellschaft und Bildungspolitik zur Gesellschaftspolitik. Bildung für mehr Demokratie und eine Politik für mehr Demokratie sind aufeinander angewiesen.
  • Zweitens erwarten wir, dass eine werteorientierte Bildung mehr sein muss als eine affirmative Vermittlung von Werten. Vielmehr müssen die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, die für das Spannungsverhältnis von Werten und gesellschaftlicher Praxis sorgen, auch Gegenstand des Konzeptes selber sein.

Die Autorinnen und Autoren haben sich mit uns auf den spannenden Weg gemacht, etwas Licht in diese Prozesse zu bringen und präsentieren durchweg interessante und erhellende Gedanken, Argumente und Erfahrungen.

Bernd Overwien schafft in seinem Beitrag zunächst eine begriffliche Ordnung in einem Feld, das durch politische Bildung, Demokratiebildung und Demokratiepädagogik bestimmt wird. An einer Definition der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung anknüpfend geht es in der Politischen Bildung und in der Demokratiebildung „als Teil gesellschaftlicher Allgemeinbildung um wichtige politische, soziale, wirtschaftliche und auch kulturelle Zusammenhänge.“ Fragen eines „ethisch-moralischen Urteils“ haben hier genauso ihren Platz, wie es auch um „Fähigkeiten des politischen Handelns geht.“ Basierend auf der „europäischen Aufklärung“ ist die Erlangung von Mündigkeit das zentrale Ziel der politischen Bildung. In kritischer Perspektive, d.h. im Bewusstsein einer Gesellschaft, die von sozialen Widersprüchen bestimmt ist, werde mit Hinweis auf Adorno „das Individuum sich vollständig erst in einer gerechten, menschlichen Gesellschaft finden“.

Poltische Bildung ist werteorientiert. Sie bezieht sich auf die Menschenrechte und die im Grundgesetz niedergelegten Werte. Im Unterschied zur „Werteerziehung“ geht die Demokratiebildung davon aus, dass sich Werte im Diskurs bilden, „u.a. durch historische Reflexion und eine kritische Erarbeitung“. Daher ergreift politische Bildung auch Partei für Demokratie und Menschenrechte. Sie ist nicht beliebig, schon gar nicht „neutral“, wie zum Beispiel die AFD in polemischer Weise von den Schulen verlangt. Dieses bewusste Missverständnis des Beutelsbacher Konsenses wendet sich nicht nur konkret gegen Lehrkräfte, die für demokratische Verhältnisse Partei ergreifen, sondern es öffnet einem Bildungsverständnis Tür und Tor, welches anstelle des Konflikts in einer demokratischen und pluralen Gesellschaft das „Volk“ zum zentralen Angelpunkt bildungspolitischer Forderungen erhebt. Doch das „Menschenrechtsprinzip, wie es im Grundgesetz zum Ausdruck kommt, ist nicht hintergehbar.“

Tim Engartner greift einen zentralen Aspekt der Auseinandersetzung um ökonomische Bildung in Schulen auf. Einerseits wird der Mangel an politischer Bildung in Schulen immer offensichtlicher. Mit Verweis auf die Untersuchung von Gökbudak/Hedtke[13] lässt sich zeigen, dass z.B. in den Gymnasien in NRW der Anteil politischer Bildung nur noch zwischen 17 und 20 Minuten wöchentlich beträgt. Andererseits „verlieren sich die an der neoklassischen Standardökonomie orientierten Wirtschaftsdidaktiker/-innen in Verweisen auf die unzureichende ökonomische Bildung hiesiger Schüler/-innen, um daraus die Forderung nach einem Unterrichtsfach „Wirtschaft“ abzuleiten.“ Die Auseinandersetzung um das Fach Wirtschaft trägt (bittere) Früchte. Entwicklungen in Bundesländern wie Baden-Württemberg oder NRW zeigen deutliche Konsequenzen in der „Entkoppelung ökonomischer Bildungsinhalte von politischen Perspektiven“. Diese Entkoppelung, zumal sie auf der Basis einer orthodoxen Didaktik der Wirtschaftswissenschaften basiert und zu Lasten der politischen Bildung durchgesetzt wird, bleibt jedoch nicht ohne Folgen für die allgemeine Bildung. Die Konsequenzen sind Separation und Isolation anstelle von Integration und Konklusion. „Soll ökonomisches Wissen mit einem auf lebensweltliche Kontexte zielenden Allgemeinbildungsanspruch verknüpft werden, muss die Integrationskraft sozialwissenschaftlicher Bildung vor dem Hintergrund der ihr innewohnenden Situations- und Lebensweltorientierung anerkannt werden.“

Sigrid Hartong befasst sich mit den Konsequenzen der Algorithmisierung von Bildung. Dies scheint in einer Phase des Diskurses, die Corona bedingt durch das Hohe Lied auf E-Learning bestimmt ist, von zentraler Bedeutung. Dabei geht es ihr nicht nur um die Folgen der ökonomischen Macht der großen EdTech-Konzerne (EdTect steht für Education Technology) oder um die Auseinandersetzung um die mit umfassenden Mitteln der Bundesregierung vom umstrittenen Hasso-Plattner-Institut umgesetzte und bundesweit standardisierte Schulcloud. „Das viel gravierendere Problem“ – so Sigrid Hartong – „liegt in der hochpolitischen Grundlogik der Digitalisierung selbst, konkreter in der damit zusammenhängenden Datafizierung und Algorithmisierung von Bildung.“ Denn – so ihre Argumentation – mit wachsender Datenverknüpfung wird die Heterogenität von Modellen und damit der (möglichen) Vielfalt von gesellschaftlichen Bildern und Urteilen „sukzessive reduziert“. Der Stellenwert für Irritation und kritische Auseinandersetzung wird geringer mit fatalen Folgen für Bildungsinhalte. „Wollen wir Werte und Praxis von Demokratie hochhalten, so wird der Weg nicht (nur) die Regulierung von EdTech-Märkten sein müssen, sondern ebenso ein Festhalten an Unbequemlichkeit, kontinuierlichem Hinterfragen und möglichst offener Debatte, die den Bereich von Modellierung systematisch mit einbeziehen muss.“

Tom Kehrbaum führt in seinem Beitrag in das Leben und das Werk John Deweys ein. Selten bilden pädagogische, wissenschaftliche und politische Biografie eine so große Einheit wie bei Dewey. Die Aktualität ergibt sich aus der Überzeugung und pädagogischen Praxis Deweys, dass die unmittelbaren Erfahrungen und Probleme der Menschen Gegenstand pädagogischer und politischer Prozesse werden müssten. Es ist ein Konzept der unmittelbaren Beteiligung der Menschen. Dewey sieht Demokratie als Lebensform, die „im realen Leben gründet und erfahrbar ist“ (Tom Kehrbaum) und deshalb auch in Bezug auf die antidemokratischen Tendenzen in dieser Gesellschaft von zentraler Bedeutung sein kann. Werte entstehen aus der Reflexion von Praxis und sind zugleich die moralische Richtschnur dieser Praxis. Tom Kehrbaum verbindet mit der breiten Rezeption Deweys, dass sein „Potenzial für eine Demokratisierung sämtlicher Bildungsprozesse gesehen wird und der Handlungs- und Praxisbezug zu einem didaktischen Bestandteil jeder Lehr- und Lerntheorie wird.“ Damit könnten Deweys Theorien letztendlich auch einen Beitrag zu einer größeren Integration von allgemeiner, beruflicher, akademischer und politischer Bildung leisten.

Chaja Boebel berichtet aus ihrer Praxis in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Werte wie Solidarität und Demokratie sind in der Gewerkschaftsarbeit zentrale Orientierungen; sie sind das ethische, historische und emotionale Energiezentrum praktischer Interessenvertretung. Man kann verallgemeinernd sagen, dass die gewerkschaftlichen Werte in ihrer historischen Dimension Ausdruck zentraler Erfahrungen aus sozialen Auseinandersetzungen in Betrieb und Gesellschaft sind. Die schmerzlichen Erfahrungen mit dem Faschismus prägen bis heute. Werte und ihre Gegenwartsbedeutung sind aber nicht statisch, sondern gleichsam auch Gegenstand des jeweiligen Gegenwartsdiskurses. Die vom Gewerkschaftstag beschlossene Satzung ist z.B. Ausdruck eines solchen im innergewerkschaftlichen, demokratischen Prozess entstandenen Wertefundaments, in der das Bekenntnis zur Demokratie mit dem Willen zur Verteidigung dieser Demokratie verbunden ist. Am Beispiel von Bildungsarbeit im Rahmen einer Tarifbewegung wird deutlich, dass Werte wie Solidarität unabdingbar für emanzipative Bildungsarbeit sind, sie aufgrund ausdifferenzierter Arbeits- und Lebenslagen zugleich in jedem Seminar neu erarbeitet werden müssen. „Solidarität, Gleichheit, Gerechtigkeit“, so Chaja Boebel in ihrem Text, „sind alte, aber keineswegs veraltete Werte der Arbeiterbewegung. Sie müssen immer wieder neu erkämpft und erarbeitet werden. Die Themen ändern sich und mit ihnen ändert sich die IG Metall. Trotzdem bleibt die Grundlage unseres Handelns die gleiche.“

Guido Rißmann-Ottow führt uns in ein Planspiel ein, das in der Ausbildung von Fachangestellten der Bundesagentur für Arbeit (BA) eine zentrale Stelle innehat und als ein interessantes Beispiel für eine Praxis von Demokratiebildung in der beruflichen Bildung gelten kann. Ein sozialer Konflikt, in diesem Fall die öffentliche, durchaus von Vorurteilen und unterschiedlichen Positionen bestimmte Diskussion über die Existenz eines Wohnwagens mitten in der Stadt, in der eine durch Arbeitslosigkeit verarmte Familie wohnt, ist der Ausgangs- und Drehpunkt des Spiels. Als künftige Fachangestellte der Bundesagentur für Arbeit sollen sich die Lernenden in den jeweiligen Rollen der im Spiel vorgesehenen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Gruppen mit dem Fall auseinandersetzen, zu seiner Lösung beitragen und ihn auch mit ihrer künftigen Berufsrolle und dem Selbstverständnis der BA verbinden. Das ist nicht ohne Widersprüche. In diesem Planspiel wird nicht zufällig auf Dewey Bezug genommen. Demokratie erscheint nicht als „fernes Handeln“ fremder Institutionen und Parteien. Vielmehr wird Demokratie durch das Planspiel als lebendige und unmittelbare Praxis erlebbar gemacht, und der Blick auf „reale“ Demokratie überschreitet die institutionelle bzw. parlamentarische Rahmung. Denn neben die institutionellen Formen treten Formen direkter und zivilgesellschaftlicher Demokratie. Berufsbildung übernimmt hier – sicherlich in einem durch die gesetzliche Aufgabe der Bundesagentur gleichermaßen begünstigten und begrenzten Umfeld – explizit die Aufgabe von politischer Bildung und hat nebenbei den Effekt, die Ausbilderinnen und Ausbilder in diesen Prozess zu integrieren.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren und wünschen allen Leserinnen und Lesern eine anregende und die Bildungspraxis inspirierende Lektüre.

[1] Heid, Helmut, Werteerziehung – ohne Werte? Beitrag zur Erörterung ihrer Voraussetzungen, in: Zeitschrift für Pädagogik 59 (2013), S. 238-257 (letzter Zugriff 15.03.2020)

Vgl. auch den Beitrag von Bernd Overwien in diesem Heft

[2] Negt, Oskar, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Göttingen 2010, S. 509

[3] Vgl. die Auseinandersetzung um ökonomische Bildung, siehe u.a. Hedtke, Reinhold, Das sozioökonomische Curriculum, Wochenschau-Verlag 2018

[4] Ilka Hoffmann, Vorwort, in: GEW (Hrsg.), Sigrid Hartong (Verfasserin): Learning Analytics und Big Data in der Bildung, Frankfurt am Main 2019

[5] https://www.fes.de/forum-berlin/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie/ (Abruf vom 26.02.2020)

[6] Ertle, Hubert, Editorial, in: BIBB (Hrsg.), Werte in der Berufsbildung, BWP 4/2019, S. 3

[7] Siehe Klaus Pape / Tom Kehrbaum, John Dewey. Über Bildung, Gewerkschaften und die demokratische Lebensform, Düsseldorf 2019

[8] KMK (Hrsg.), Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule, Beschluss vom 06.03.2003 in der Fassung vom 11.10.2018, S. 3

[9] Sascha Kneip, Wolfgang Merkel, Ferne Eliten und fehlendes Vertrauen. Warum viele Menschen an den Institutionen der Demokratie zweifeln. In: WZB Mitteilungen Nr. 167: Legitimität als Voraussetzung und Grundlage der Demokratie, S. 6ff., März 2020

[10]  Stephan Lessenich, Die Dialektik der Demokratie. Grenzziehung und Grenzüberschreitungen im Wohlfahrtskapitalismus, in: Hanna Ketterer / Karin Becker (Hrsg.), Was stimmt nicht mit der Demokratie? Berlin 2019, S. 137f

[11] Oskar Negt, siehe oben S. 544

[12] Helmut Heid, siehe oben S. 242

[13] Gökbudak, Mahir/Hedtke, Reinhold (2020): Ranking Politische Bildung 2019. Politische Bildung an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I im Bundesländervergleich, Working Paper Nr. 11. Bielefeld

Autoren

  • Bernd Kaßebaum war bis Ende 2016 Gewerkschaftssekretär beim IG Metall Vorstand im Ressort Bildungs- und Qualifizierungspolitik. Seine Arbeitsfelder umfassten Themenstellungen aus Schule und Arbeitswelt; Hochschulpolitik und Bildungsforschung. Veröffentlichungen u.a. zum Thema Beruflichkeit, Durchlässigkeit und Hochschulreform. Jetzt arbeitet er ehrenamtlich. So engagiert er sich im Wissenschaftlichen Beraterkreis von ver.di und IG Metall zu Bildungsfragen und in der Redaktion von DENK-doch-MAL.de

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  • Martina Schmerr arbeitet als Referentin im Vorstandsbereich Schule des Hauptvorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Vor ihrem Hochschulstudium machte sie eine Ausbildung zur Verlagskauffrau und war als Jugendfunktionärin in der IG Druck und Papier, später IG Medien, aktiv. Während ihres Studiums der Germanistik, Pädagogik, Filmwissenschaften und Politik leitete sie ehrenamtlich über viele Jahre Seminare im gewerkschaftlichen, Frauen- und Medienbereich. Nach einigen Jahren als Medienpädagogin und Jugendbildungsreferentin in einem Jugendverband wechselte sie 1999 zu Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, wo sie eine breite Palette schulpolitischer Themen bearbeitet. Hierzu gehören Fragen der Schulstruktur, Inklusion, Qualität und Professionsentwicklung bis hin zu Medienbildung, Ökonomische Bildung, Privatisierung und Lobbyismus sowie Berufs- und Arbeitsweltorientierung. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern der Initiative Schule und Arbeitswelt der DGB-Gewerkschaften.

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