Editorial
Dr. Roman Jaich (ver.di Bundesverwaltung und Mitglied der Redaktionsgruppe von DENK-doch-MAL)
„Beruflichkeit“, „Akademisierung“, „Fachkräftegewinnung“ – bei all diesen Themen spielt das Thema „Durchlässigkeit zwischen der beruflichen und der hochschulischen Bildung“ eine große Rolle, vor allem wenn es um die Attraktivität der beruflichen Bildung für Schulabgänger*innen und die Wahl ihres Weges in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt geht. Das Thema hat auch einen großen Stellenwert in einer Reihe von zentralen Gremien, die sich mit der Zukunft der beruflichen Bildung befassen. Genannt seien z.B. die Enquete Kommission für berufliche Bildung, die Nationale Weiterbildungsstrategie oder die AG Durchlässigkeit des BiBB-Hauptausschusses. Dies zeigt, dass das Thema auf der Agenda weit oben steht.
Konzepte der Durchlässigkeit können eine unterschiedliche Reichweite aufweisen:
- die optimale Allokation von Ressourcen, d.h. Lernzeiten zu optimieren um nicht gleiche Bildungsinhalte doppelt lernen zu müssen,
- die Arbeitsmarktperspektiven der Beschäftigten,
- der Fachkräftebedarf der Unternehmen, sowie schließlich
- Brücken zu schlagen in einem System mit zwei Bildungssäulen, die lange Zeit nahezu unverbunden nebeneinander bestanden.
Je nach Sichtweise auf das Thema, sei es die berufsbildungspolitische Sicht oder die Perspektive der Hochschule, zeigt sich ein anderes Bild und kann entsprechend auch zu widersprüchlichen Schlussfolgerungen führen.
Unterschiedliche Sichtweisen aufzuzeigen – aus den jeweiligen Perspektiven von Wissenschaft, der Arbeitgeber, der Gewerkschaften und der Politik – führen zu einem facettenreichen Spektrum. Aufgezeigt wird, wie Durchlässigkeit gedeutet, umgesetzt oder auch weiterentwickelt werden kann.
Prof. Dr. Andrä Wolter startet in seinem Überblicksbeitrag „Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung – Wo steht Deutschland heute“ mit einer Beschreibung der historischen Hintergründe für die bestehende Segmentierung zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung. Berücksichtigung findet hier auch die Beschreibung der Veränderungen in der Sekundarstufe II. Die Beschreibung von Formen der Verknüpfung zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung sowie Übergängen aus beruflicher Bildung und Berufstätigkeit in die Hochschule sowie der damit verbundenen Diskussion über die Studierfähigkeit sind die zentral für seinen Beitrag.
Julia Flasdick vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) beschreibt in ihrem Beitrag „Mit Durchlässigkeit gegen den Fachkräftemangel – und für eine starke Berufliche Bildung!“ aus der Perspektive der Wirtschaft was unternommen werden muss um die Berufsausbildung zu stärken. Hierzu gehören aus der Sicht der Autorin unterschiedliche Ansätze, wie die Gewinnung von Hochschulaussteigern für die Berufsbildung als auch für die höhere Berufsbildung oder die Verbreitung hybrider Bildungsformate. Im Ergebnis sieht sie integrierte Bildungsformate durchaus als Potenzial für die Deckung zukünftiger Qualifikationsanforderungen, wenn die tatsächlichen Bedarfe der Wirtschaft von Anbeginn an in die Konzeption einbezogen und deren Vertreter*innen in die Modellentwicklung eingebunden werden.
Hybride Bildungsformate sind mehr als duale Studiengänge auch die studienintegrierende Ausbildung oder verzahnte Orientierungsangebote sind hierzu zu rechnen. Prof. Dr. Uwe Elsholz und Ariane Neu von der Fernuniversität Hagen hinterfragen in ihrem Beitrag „Hybride Bildungsformate – Instrumente zur Förderung von Durchlässigkeit?“ die Auswirkung dieser Bildungsformate auf die Durchlässigkeit. Ausgangspunkt ist für sie, die Diskussion nicht zuletzt vor dem Hintergrund des hiesigen Bildungssystems zu betrachten, das traditionell wenig durchlässig war und dessen Kennzeichen ein Bildungs-Schisma ist, womit idealtypisch zum Ausdruck gebracht wird, dass bedingt durch unterschiedliche historische Entwicklungen die allgemeine Bildung in vielerlei Hinsicht anderen Bedingungen unterliegt als die berufliche Bildung. Im Ergebnis kommen sie dahin, dass der Beitrag dualer Studiengänge zur Durchlässigkeit bislang nur sehr vorläufig beantwortet werden kann.
Ausgangspunkt des Beitrags „Studium und Beruf(lichkeit) – ein Vorschlag für mehr Durchlässigkeit“ von Dr. Bernd Kassebaum ist, dass Hochschulen mittlerweile Orte wissenschaftlicher und beruflicher Bildung geworden und Hochschulen gefordert sind, Studierende auf die damit verbundenen – beruflichen – Praxisfelder vorzubereiten. Er vertritt die These, dass ein modifiziertes Konzept von Beruflichkeit geeignet ist, sowohl für die berufliche wie auch hochschulische Bildung Konzepte zu entwickeln, um berufliche Lernprozesse zu konzipieren. Es trägt damit zu einer tieferen Integration von beruflicher und hochschulischer Bildung bei und verbessert damit auch die Möglichkeiten für mehr Durchlässigkeit. Perspektivisch steht nach seiner Auffassung das gegliederte Bildungssystem auf dem Prüfstand. Für den notwendigen Reformprozess mag viel Atem notwendig sein. Die stärkere Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung ist ein Baustein dieses Prozesses.
Ansgar Klinger, GEW Hauptvorstand, beschreibt in seinem Beitrag „Berufliche Hochschule Hamburg – Förderung der Durchlässigkeit oder Sonderweg?“ die Entstehung, Hintergründe und den Stand der beruflichen Hochschule Hamburg (BHH), die ihren Betrieb zum Sommersemester 2021 aufnehmen soll. Damit wird ein Qualifizierungspfad angeboten, der nicht wie das duale Studium zwei Bildungsgänge nebeneinanderstellt, sondern den Anspruch erhebt, berufliche und akademische Bildung enger miteinander zu verbinden und zu verzahnen. Seiner Auffassung nach sollte sich die BHH mittelfristig auch der Verbindung von Ausbildung und Studium in den zukunftsträchtigen vollzeitschulischen Berufen des Gesundheits-, Sozial- und Erziehungswesens widmen.
Während die berufliche Bildung in der aktuellen Diskussion häufig noch um Anerkennung ringt und Fragen der Attraktivitätsseigerung der beruflichen Bildung im Vordergrund stehen, kommt Prof. Dr. Peter Sloane von der Universität Paderborn in seinem Beitrag „Gleichwertigkeit der beruflichen und akademischen Bildung und deren Stellenwert in der Gesellschaft – eine Positionsbestimmung“ zu einem etwas anderen Ergebnis. Er folgert aus seinen Analysen, dass Hochschulen zurzeit kaum in der Lage wären, berufliche Lehr- und Lernarrangements, wie sie von beruflichen Schulen und Betrieben oder in Fachschulen und Akademien umgesetzt werden, zu realisieren. Dies scheitert nicht nur an der hochschuldidaktischen Kompetenz, sondern v. a. an den Ressourcen, die zur Verfügung stehen. Im Gesamtzusammenhang von beruflicher und akademischer Bildung stellt sich seines Erachtens daher abschließend auch die Frage, ob die akademische Bildung sich in einem bestimmten Umfang der beruflichen Bildung anpassen müsste.
Kai Gehring, Mitglied des Deutschen Bundestages für die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, spricht sich in seinem Beitrag „Meisterstück für Gleichwertigkeit“ für die Herstellung einer tatsächlichen Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung aus, um insbesondere neue Chancen für beruflich Qualifizierte zu erreichen. Wahlfreiheit ist das zentrale Stichwort für ihn. Dies darf aber nicht nach der Entscheidung über den beruflichen Ausbildungsgang aufhören, sondern muss auch im späteren Erwerbsleben gegeben sein um keine Sackgassen zu erzeugen.
Uta Kupfer und Dr. Roman Jaich hinterfragen in ihrem Beitrag „Zu einem ausgewogenen Verhältnis von beruflicher und akademischer Bildung – Ist das Konzept der Durchlässigkeit hierfür förderlich?“, ob Durchlässigkeit ein Konzept zur Erhöhung der Attraktivität der dualen Berufsausbildung sein kann. Im Ergebnis kommen sie zu dem Schluss, dass ein Konzept „Durchlässigkeit“ durchaus seine Berechtigung hat. Wenn es aber darum geht, die Attraktivität der Berufsbildung zu erhöhen, sind andere Konzepte wie z.B. die Förderung von Gleichwertigkeit besser geeignet.