Dr. Bernd Kaßebaum (Mitglied der Redaktionsgruppe von DENK-doch-MAL)
[1] Was für diese gesamte Ausgabe von DENK-doch-MAL gilt, soll uns auch in diesem Beitrag leiten. Es sollen die Vorschläge des DGB zur Bildungsreform von 1972ff nicht „einfach“ nur erinnert werden. Auch Erinnerungsarbeit hat ihren Stellenwert. Wir wollen dennoch einen Schritt weitergehen. Dem Grundsatz folgend, dass sich Geschichte über die Fragestellungen der jeweiligen Gegenwart bildet, soll dieser Blick auf einen relevanten Abschnitt der bildungspolitischen Historie letztendlich nicht nur zu der Frage führen, was war, sondern auch der weiterführenden Frage Raum geben, was aus den damaligen Konzepten für die bildungspolitischen Debatten der Gegenwart vielleicht zu lernen ist. Dabei geht es sowohl um wesentliche Inhalte und ihre Begründungen, aber auch um die Umsetzungsstrategien einschließlich der Frage, was aus dem Scheitern wesentlicher Elemente der damaligen Bildungsreform für die Gegenwart abzuleiten ist.
In diesem Beitrag sollen also
- wesentlich Elemente der Forderungen vorgestellt und ein Bezug zu den sozialen und ökonomischen Kontexten skizziert werden, in denen sie erstellt wurden,
- einige Elemente besonders herausgehoben werden, wobei in diesem Beitrag die Forderung nach einer umfassenden Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung und wesentliche Probleme ihrer Umsetzung im Vordergrund stehen werden;
- zentrale gewerkschaftsinterne wie gesellschaftliche Konflikte genannt werden, welche die Umsetzung der Forderungen erschwert und in wesentlichen Teilen verhindert haben und
- ausblickend mit wenigen Stichwörtern der Stellenwert der damaligen Forderungen für die Debatte der Gegenwart erörtert werden.
Der Kontext
Sieht man von der sog. Neuordnungsdebatte nach 1945 ab, öffneten aus heutiger Sicht die Jahre am Ende des sechsten und die Anfangsjahre des siebten Jahrzehnts ein für die Geschichte (West-) Deutschlands bisher einmaliges Zeitfenster für soziale Reformvorhaben. 1969 wurde das – umstrittene – Berufsbildungsgesetz ebenso verabschiedet wie das Arbeitsförderungsgesetz, mit dem die aktive Arbeitsmarktpolitik Einzug hielt, bis sie durch die aktivierende Arbeitsmarktpolitik spätestens mit den sog. Hartz-Gesetzen beendet wurde. 1971 wurde das Bundesausbildungsförderungsgesetz beschlossen, mit dem bedürftige Schüler/innen und Studierende in den Genuss des Bafögs kamen. 1972 wurde ein reformiertes Betriebsverfassungsgesetz verabschiedet, das u.a. die Mitbestimmung der Betriebsräte in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung erweiterte. Ein Jahr später folgte zudem das Arbeitssicherheitsgesetz.
Im Anschluss an den Mai 1968 in Frankreich wurden ein Jahr darauf auch in Deutschland in nennenswertem Umfang sog. „wilde Streiks“ organisiert. Die Studierendenbewegung war an ihrem Höhepunkt. 1972 war das Jahr der sog. Willy-Wahl, mit der sich Willy Brandt und mit ihm die sozialliberale Koalition nach dem misslungenen, durch die CDU angestrengten Misstrauensantrag in einer Phase extrem zugespitzter politischer Auseinandersetzungen als Kanzler behaupten konnten. Im gleichen Jahr veröffentlichte der Club of Rome seinen „Bericht zur Lage der Menschheit“[2], ein Bericht, der von einer Arbeitsgruppe im Massachusetts Institute of Technology hergestellt und zeitgleich in den wichtigsten Sprachen weltweit veröffentlicht wurde. Und: 1972 führte die IG Metall in Oberhausen in Fortsetzung ihrer sog. „Automationstagungen“ einen beachtenswerten Kongress zur Qualität des Lebens durch, der sich mit zentralen Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung befasste und auf dem neben Fragen der Umweltpolitik, des Verkehrs und der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, um einige Themen zu nennen, auch zentrale Herausforderungen an die Bildungspolitik erörtert wurden.[3]
Die „Forderungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Bildungspolitik“ stehen in diesem politischen und sozialen Kontext. Sie können und sollten als ein, wenn nicht der Höhepunkt der Entwicklung eines umfassenden bildungspolitischen Reformanspruches der Gewerkschaften gelten. Sie schließen zum einen eine Debatte ab, die durch die 50er und vor allem durch die 60er Jahre führte. Zudem können sie auch als gewerkschaftliche Kritik an dem 1969 verabschiedeten und von Seiten der Gewerkschaften ursprünglich mit großen Erwartungen verbundenen Berufsbildungsgesetz verstanden werden. Und: sie bildeten den konzeptionellen Rahmen für die gewerkschaftliche Bildungspolitik der nächsten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte.
In den Jahren nach dem Sieg über den Nationalsozialismus fand in der Bildungspolitik wie in anderen zentralen Feldern der Gesellschaftspolitik alles andere als ein Neuanfang statt. Vielmehr muss man für die sog. Nachkriegszeit auch in zentralen bildungspolitischen Themen konstatieren, dass es keinen Neuanfang gab. Dies gilt z.B. für die Beibehaltung des gegliederten Schulsystems, für die strikte Trennung von beruflicher und allgemeiner Bildung oder die weiterhin unangetastete Dominanz der Wirtschaft in der betrieblichen beruflichen Bildung und erst Recht für den Fortbestand eines nach sozialer Herkunft strukturierten Bildungswesens und der damit quasi festgeschriebenen Ungleichheit von Bildungschancen.
1959, vier Jahre vor dem „Düsseldorfer Programm“, das gewissermaßen als Abkehr der Gewerkschaften von einer Politik der weitreichenden sozialen Neuordnung der neuen Bundesrepublik gilt, legte der DGB den Entwurf eines Berufsbildungsgesetzes vor und eröffnete damit eine neue bildungspolitische Debatte. Mit diesem Entwurf gab er wesentliche Themen für die Berufsbildungsdebatte der 60er Jahre vor. Schaut man z.B. in die erste Ausgabe der mit Beginn des Jahres 1965 gestarteten Zeitschrift „Berufliche Bildung“, so skizziert darin Maria Weber, das damalige für das „Berufliche Bildungswesen“ verantwortliche DGB-Vorstandsmitglied, die für die Berufsbildungspolitik der Gewerkschaften in den sechziger Jahren zentralen Stichwörter. So fordert sie ein „einheitliches Berufsbildungsgesetz“ und begründet dies u.a. damit, dass dieses Gesetz den übermächtigen Einfluss der Wirtschaft zurückdrängen sollte. Die Kammern sollten durch paritätisch besetzte Selbstverwaltungseinrichtungen für die Berufsbildung ersetzt werden, das Berufsbildungswesen demokratisiert und die öffentliche Verantwortung für die Berufsbildung hergestellt werden.
Ebenso setzte sich Maria Weber für eine „berufliche Grundausbildung“ ein und gab damit einen wichtigen Impuls für die stärkere Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung. Zudem sollte die „überbetriebliche Berufsausbildung“ aufgewertet werden. Sie hob die „dringende Notwendigkeit einer intensiven Berufsforschung“ hervor, die für die Modernisierung der Berufe als unabdingbar angesehen wurde.[4]
Die 7. Jugendkonferenz der IG Metall Jugend forderte ein Jahr zuvor die Einführung einer achtjährigen „Einheitsschule“ mit aufbauender Differenzierung im neunten und die Realisierung eines zehnten Schuljahrs als einem „beruflichen Grundbildungsjahr“, ein Indiz dafür, dass auch zentrale Forderungen im schulischen Bereich erhoben wurden.[5]
Die berufsbildungspolitischen Debatten der sechziger Jahre gelten als Ausdruck einer bildungspolitischen Reaktion auf den technologischen und ökonomischen Modernisierungsprozess, der sich z.B. in den großen Automatisierungskongressen der IG Metall spiegeln lässt, in denen die Fragen der beruflichen und später auch der hochschulischen Qualifizierung, z.B. in den Anfängen der Angestelltendebatte, einen zentralen Platz einnahmen. In Teilen der Literatur werden diese Konferenzen als bedeutsamer für die Diskussion einer modernen Berufsbildung angesehen als große Teile der zeitgenössischen berufspädagogischen Literatur.[6]
Zu erinnern ist an Georg Picht, der diese Modernisierungsanforderung popularisierte, da er die Wettbewerbsfähigkeit Westdeutschlands wegen der von ihm beschriebenen Defizite gefährdet sah. Oder an Ralf Dahrendorf, der nahezu zeitgleich aus Sorge um die politische Kultur ein Mehr an (allgemeiner und politischer) Bildung forderte.
Das 1969 beschlossene Berufsbildungsgesetz wurde von den Gewerkschaften massiv kritisiert. So wurde zwar anerkannt, dass das (neue) Berufsbildungsgesetz in bestimmten Bereichen zu einer funktionalen Modernisierung der Berufsbildung führte. Weitergehende Forderungen und Vorschläge der Gewerkschaften blieben aber unberücksichtigt. Für Horst Lemke, damals in der Abteilung Berufsbildung beim Vorstand der IG Metall tätig, bedeutete das Gesetz „Restauration statt Reform“[7]
Bereits seit den 50er Jahren trug die Wirtschaft ihre Vorstellungen zur Berufsbildungspolitik relativ offensiv vor, beispielhaft und bedeutsam u.a. über die 1953 von den Dachverbänden der Wirtschaft gegründete Arbeitsstelle für Betriebliche Berufsausbildung, zu deren Aufgaben die Stärkung der betrieblichen Ausbildung und die Verteidigung der Zugriffsrechte der Wirtschaft auf die betriebliche Ausbildung gehörte.
Auch die Politik war aktiv. Der 1953 von Bund und Ländern gegründete Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen hatte die Aufgabe, „die Entwicklung des deutschen Erziehungs- und Bildungswesens zu beobachten und durch Rat und Empfehlung zu fördern“ (Art. 1, Satzung des Ausschusses). In den zwölf Jahren seines Bestehens machte der Ausschuss Empfehlungen zur Verlängerung der allgemeinen Schulpflicht, gab Hinweise zur Umgestaltung des Schulsystems und setzte sich 1964 für die gleichzeitige Berufsausbildung in Schule und Betrieb ein und sprach sich überdies für die Integration der „Berufsbildung in das Bildungswesen“ aus.[8]
Der 1957 ebenfalls von Bund und Ländern gegründete Wissenschaftsrat befasste sich von Beginn an mit Fragen der Hochschulentwicklung. Gemeinsam mit dem Bildungsrat sollte er die Bildungsreform vorbereiten. Der Wissenschaftsrat war zwar ein wichtiger Player in den Beratungen zum Bildungsgesamtplan, tatsächlich schwächte er sich aber aufgrund von internen Differenzen, taktischen Fehleinschätzungen und handwerklichen Fehlern selbst und kam zunehmend gegenüber Bildungsrat und Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung, den zentralen Spielern in der Debatte, in die Defensive.
Der Wissenschaftsrat kam nicht umhin, sich für zentrale Veränderungen des Bildungs- und namentlich des Hochschulsystems auszusprechen. Aufgrund der erwarteten Zunahme der Studienanfängerzahlen sprach sich der WR sowohl für die Einrichtungen von integrierten Gesamthochschulen („mindestens 30 neue Gesamthochschulen“) wie für die Differenzierung in Kurz- und Langstudiengänge aus. Strittig war das Abitur. Während der WR sich für Studieneingangsprüfungen aussprach, beharrte der Bildungsrat darauf, dass die soziale Auslesefunktion des bestehenden Gymnasiums reduziert, die Durchlässigkeit erhöht und das Abitur als Hochschulzugangsberechtigung erhalten bleiben müsse, was andernorts – so z.B. rund um die Protagonisten des Kollegschulversuches – durchaus kritisch gesehen wurde, weil befürchtet wurde, dass die Beibehaltung des Abiturs letztlich die Position des Gymnasiums im gestuften Schulsystem zu Lasten einer reformierten Sekundarstufe II stabilisieren würde. Kritisiert wurde zudem, dass der WR die Empfehlungen ungeachtet seiner positiven Stellungnahme für die Gesamthochschulen aus einer universitären Perspektive heraus konzipiert habe und die Bedeutung der in den späten 60er Jahren neu gegründeten Fachhochschulen vernachlässigen würde.[9]
1966 erfolgte ebenfalls auf Initiative von Bund und Ländern die Gründung des Deutschen Bildungsrats sowie ein Jahr später die von Bund und Ländern geschaffene Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, die wenige Jahre später zeitgleich und eng verschränkt mit dem Bildungsrat einen ersten Bildungsgesamtplan vorlegte. Das 1969 erstmals gebildete Bundesministerium für Bildung gab den ersten Bildungsbericht in Auftrag, der 1970 erschien und wesentliche Vorstellungen der sozialliberalen Koalition enthielt. Ziel „aller Reformmaßnahmen“, so wurden die Ziele der Bundesregierung in der einschlägigen bt-drucksache von 1973 beschrieben, war die Herstellung der „Einheitlichkeit des gesamten Bildungswesens innerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes“. (vgl. bt-Drucksache 7/1474, S. 9).
Der Veränderungsdruck hatte Ende der 1960er Jahre einen Höhepunkt erreicht. Einerseits speiste er sich aus dem ‚technologischen Wandel‘ und den daraus abgeleiteten Forderungen an die Reform der beruflichen Bildung, andererseits aus der gesellschaftlichen Debatte um Bildung, in der es aus gewerkschaftlicher Sicht insbesondere um die Bekämpfung der sozialen Selektionsmechanismen ging, welche die Bildungs- und Erwerbschancen von Kindern aus Arbeiterhaushalten massiv beeinträchtigten. Gefordert wurde zudem die Durchsetzung eines kritischen Bildungsverständnisses, das die Lernenden befähigen sollte, gesellschaftliche Zusammenhänge durchschauen und eigenständig soziale Interessen formulieren zu können. Ausgehend von den Protesten der Studierenden- und der Lehrlingsbewegungen wurde die Forderung nach einer umfassenden Bildungsreform intensiv erhoben. „Bildungsgerechtigkeit“, so ein Antrag der IG Metall für den DGB-Bildungskongress 1969, „ist ohne eine Reform der überholten Strukturen des Bildungswesens nicht zu erreichen.“ Ergänzen sollte man, dass Bildungspolitik in breiten Bereichen der Gewerkschaften als Teil von Gesellschaftspolitik in der antagonistischen Gesellschaft verstanden wurde.
Fasst man die zentralen bildungspolitischen Themen zusammen, die in diesen Jahren zunehmend die Bildungsreformdebatte bestimmten, so waren dies
- Bildung in öffentlicher Verantwortung
- Institutionalisierung einer Berufsbildungsforschung
- Bildung als strukturelles und inhaltliches Gesamtkonstrukt
- Herausbildung eines Konzepts dualer Bildung als gemeinsame Aufgabe von Schule und Betrieb
- Bildungssteuerung über Bildungsplanung (über den Bildungsgesamtplan auf Bundesebene und über ergänzende Bildungspläne auf Länderebene)
- Soziale Durchlässigkeit durch Maßnahmen wie Schüler- und Studierenden-BAföG und die Förderung des Zweiten Bildungsweges.
Das Bildungsreformkonzept des DGB von 1972ff
Mit dem am 07. März 1972 gefassten Beschluss der „Bildungspolitischen Grundsätze“ gab der DGB diesen und bereits genannten Debatten einen gemeinsamen inhaltlichen Rahmen. Erstmals in seiner Geschichte legte er ein Bildungsgesamtkonzept vor. Er befasste sich in diesem Papier mit der gewünschten Organisation und Struktur des Bildungswesens, mit der Demokratisierung der Bildungseinrichtungen, der „Rationalisierung“ des Bildungswesens, mit den Grundsätzen der inhaltlichen Gestaltung der Bildung und mit der Bildungsfinanzierung. Es entstand die Basis für ein geschlossenes, stringentes Bildungsreformkonzept.
Einen Monat später schob der DGB die „Forderungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur beruflichen Bildung“ nach; ihnen folgten die am 08. Mai 1973 beschlossenen „Forderungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Hochschulreform“ und ergänzend einige Jahre danach die 1978 verabschiedeten „Leitsätze des DGB zur Studienreform“ sowie die ebenfalls 1978 verabschiedeten „Grundsätze und Forderungen des DGB zur Weiterbildung“, die 1977 verabschiedeten „Leitsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Arbeitslehre“ und den 1979 folgenden Leitsätze des DGB zur „Gestaltung des zehnten Schuljahres in der Hauptschule“.[10]
Es ist kein Zufall, dass der DGB diese Beschlüsse als seine „Forderungen zur Bildungspolitik“ bündelte und entsprechend publizistisch verbreitete. In seinem Verständnis bezogen sich die Forderungen in den Einzelbereichen auf die am Anfang stehenden und 1972 verabschiedeten „Grundlagen“. Sie bildeten eine konzeptionelle Einheit, obwohl einschränkend hinzugefügt werden muss, dass sich an den im Zeitverlauf ergänzenden Beschlüssen auch die schwierige gesellschaftliche Debatte in den nachfolgenden Jahren und manche dadurch notwendige Revision erkennen lässt.
Mit den „Forderungen“ stellten die Gewerkschaften ein übergreifendes und integriertes Konzept für die Reform des Bildungswesens vor. Vorschule, Gesamtschule, Gesamthochschule und Weiterbildung sollten nach gemeinsamen Prinzipien und aufeinander bezogen organisiert werden. Allgemeine, berufliche, politische und kulturelle Bildung wurden als Einheit betrachtet. Angestrebt wurde eine inhaltliche und strukturelle Gesamtreform des Bildungswesens.
Unterschieden wurden in den Forderungen des DGB Grundsätze, Prinzipien, Ziele und Maßnahmen. Für den gesamten Bildungsbereich sollten vier zentrale bildungspolitische Grundsätze gelten:
- Bildung habe unabhängig der sozialen Herkunft und unabhängig des Geschlechts Chancengleichheit in einem „integrierten Bildungssystem“ herzustellen.
- Das Bildungsangebot, unabhängig davon, ob es Bestandteil der schulischen, beruflichen oder hochschulischen Bildung sei, soll Kritikfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft fördern und zur „Kontrolle und Mitbestimmung bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen befähigen.“ (Forderungen, S. 7).
- Der „Gegensatz“ von allgemeiner und beruflicher Bildung sowohl in Bezug auf die Organisation der Bildung wie in Bezug auf die sich in den Lehrplänen spiegelnden Inhalte sei „aufzuheben“ (ebd.).
- Die Bildungsforschung sei auszubauen und ihre Ergebnisse seien in der Bildungs- und gesellschaftlichen Strukturplanung zu berücksichtigen.
Als gemeinsame und ebenfalls alle Bereiche umfassenden Prinzipien sollten die Integration, die Differenzierung und die Demokratisierung gelten.
Diese Prinzipien ließen sich nur umsetzen, wenn das vorhandene gegliederte und segmentierte Bildungssystem umfassend umgebaut und alte Lehr- und Lerninhalte in der Schule, in Berufsbildung und Hochschule insbesondere an der Schnittstelle von allgemeiner und beruflicher Bildung überarbeitet würden.
Vorgeschlagen wurde folgerichtig ein integriertes Bildungswesen, das sich aus Vorschule, Gesamtschule, Gesamthochschule und Weiterbildung zusammensetzen und aufeinander beziehen sollte. Die Berufsbildung, in den sechziger Jahren noch weitgehend in Obhut der Wirtschaft, heute ein selbstverständlich eigenständiger institutioneller und öffentlich verantworteter Bereich des Bildungssystems, wurde als Bestandteil einer der Gesamtschule zugeordneten Sekundarstufe II gedacht, in dem „durch ein vielfältiges Angebot praxisorientierter und theoriebezogener Lehrinhalte die Trennung zwischen allgemeinbildendem und berufsbildendem Schulwesen aufgehoben werden“ sollten. (Forderungen, S. 10). Die Gesamtschule wurde als „der verantwortliche Träger aller beruflichen Bildungsmaßnahmen“ angesehen, „unabhängig von einer möglichen Einbeziehung außerschulischer Lernorte.“ (Forderungen, S. 21).
Die Sekundarstufe II dieser neuen Schule sollte sowohl dem „gleichzeitig oder nur mit geringem Mehraufwand“ (Forderungen S. 23) verbundenem Erwerb der Studierfähigkeit wie einer ersten beruflichen Qualifikation dienen. Ähnliches galt auch für die hochschulische Bildung in der geforderten Gesamthochschule, die im Wesentlichen aus der Universität, der Fachhochschule und der pädagogischen Hochschule zu bilden sei. Dort solle das Lehrangebot die Entscheidung für ein „stärker praxisbezogenes oder stärker forschungsbezogenes Studium einem Teil der Studierenden schon sehr früh (…) ermöglichen und für andere möglichst lange offen (…) lassen.“ (Forderungen S. 12). Als ein Mittel dafür wurde ein modular strukturiertes Studium angesehen.
Das Prinzip der Integration hat auch in Bezug auf die Bildungsinhalte und für die Bestimmung der Inhalte allgemeiner und beruflicher Bildung weitreichende Konsequenzen. Damit verändert sich auch das Verständnis von Berufsbildung und Allgemeinbildung: „Integration bedeutet die gleichwertige Einbeziehung naturwissenschaftlicher, technologischer, gesellschaftswissenschaftlicher und künstlerisch-gestaltender Bildungsinhalte in eine Bildungseinrichtung.“ (Forderungen S. 7f). Begründet wird dies mit dem Argument, dass sich damit trotz individueller und schichtenspezifisch unterschiedlich ausgestatteter „Lernvoraussetzungen ein Höchstmaß an Bildung“ (ebd. S. 8) erzielen lasse.
Integration in diesem Sinn ließ sich in der konventionellen Struktur von Lernfächern in den Schulen nicht herstellen – dazu bedurfte es neuer Ansätze von integrierten Bildungsgängen. Praktische Versuche sollten in der Kollegschule oder in anderen Ansätzen zur Umgestaltung der Sekundarstufe II etwa in Berlin oder Bremen stattfinden. Zudem ließen sich Ansatzpunkte in den reformpädagogischen Schulversuchen wie Glocksee oder in der Laborschule finden.
Differenzierung – als zweites Prinzip – habe zum Ziel, den individuellen Neigungen, Stärken und Interessen entsprechende Bildungsangebote zu schaffen. Allerdings – so wird im nächsten Satz eingeschränkt – müsse sie dort „ihre Grenzen finden, wo sie die gesellschaftliche Integration und die Befähigung zum solidarischen Verhalten gefährdet.“ (ebd. S. 8).
Aus heutiger Sicht, die geprägt ist von Arbeitskraft-Unternehmer/innen und einem weit verbreiteten Modus zur Selbstvermarktung, die beeinflusst ist von einer Debatte um „Singularität“ als Kennzeichen einer durch den Neoliberalismus auf die Spitze getriebenen Individualisierung, mögen diese eher knappen Bemerkungen zur Differenzierung befremden. Bezogen auf die schulreformerischen Vorstellungen waren sie allerdings bedeutsam: so sollten Integration und Differenzierung die zentralen Strukturmomente schulischen Lernens werden. Anstelle des Unterrichts in Klassenverbünden „ist in der Mittelstufe ein Kern- und Kursunterricht einzuführen.“ (Forderungen S. 9f).
Das Prinzip der Demokratisierung hat ebenfalls mehrere Bedeutungsebenen. Bezogen auf die Bildungsinhalte forderte der DGB die „alten Lehrmethoden“ aufzugeben und ein Bildungssystem zu schaffen, in dem die „Selbstbestimmung der Lehrenden und Lernenden institutionell gesichert werden.“ (ebd. S. 8). Dies wird an späterer Stelle in den Grundsätzen inhaltlicher Gestaltung der Bildung konkretisiert. So sollten die „Bildungsinhalte auf die Förderung von Lernfähigkeit, Einsichtsfähigkeit, Kritikfähigkeit und schöpferische Eigentätigkeit angelegt sein.“ (Forderungen S. 17). Überdies sollten die Bildungsinhalte an den „jeweils neuesten lernpsychologischen Grundsätzen“ sowie an konkreten Erfahrungen, gemeint ist der sog. Erfahrungsansatz in der Bildung, ausgerichtet sein. Theoretische und anwendungsbezogene Bildungsinhalte sollten aufeinander bezogen werden. Sozialwissenschaftliche Bildungsinhalte sollten ebenso einen besonderen Schwerpunkt haben wie die Bildung entlang „konkreter Beispiele bestehender Interessengegensätze“ (ebd.).
Die Forderung nach mehr Demokratisierung bezog sich folgerichtig auch auf die Institutionen. Bildung sollte generell öffentlich verfasst oder wie in der betrieblichen Ausbildung durch Gesetze öffentlich verantwortet sein. Die Forderungen nach einem Bundesbildungsgesetz, als Rahmung der Gesamtreform, und als Weiterentwicklung des Berufsbildungsgesetzes wurden ebenso als Teil dieser notwendigen Demokratisierung angesehen wie die Hochschulreform, die Schaffung eines Systems beruflicher Weiterbildung in öffentlicher Verantwortung oder die Erweiterung der Mitwirkungsrechte im Betriebsverfassungsgesetz.
Für den schulischen Bereich setzte sich der DGB für eine weitreichende Selbstverwaltung ein, an der „Lehrer, Ausbilder, Eltern, Schüler und Beschäftigte der Schulen zu beteiligen sind“ (Forderungen S. 15). Im Hochschulbereich forderte der DGB noch voller Optimismus vor dem bald nachfolgenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass „den drei Gruppen gleiche Mitbestimmungsrechte in allen Fragen eingeräumt werden.“ (Forderungen, S. 42), wobei er in diesem Papier und mit Bezug auf die geforderte Gesamthochschule „Arbeitnehmer mit und ohne Lehraufgaben“ sowie die Studierenden als diese Gruppen sah.
Für die Betriebe setzte sich der DGB in diesem Papier für eine Ausweitung der Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte zur Berufsbildung im Betriebsverfassungsgesetz ein und forderte überdies die Mitbestimmung der Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmerschaft in der überbetrieblichen Berufsbildung.
Auch in den Institutionen der Berufsbildung sei die Mitbestimmung der Gewerkschaften zu sichern bzw., wo im 1969er Gesetz schon vorgesehen, auch auszubauen. Hervorgehoben werden muss die schon genannte Kritik an den Kammern, die bis heute nicht an Aktualität verloren hat; ihnen sollten die Funktionen in der Berufsbildung genommen und in paritätisch besetzte und von den Kammern unabhängige Selbstverwaltungsinstitutionen überführt werden.
Die nachfolgenden Konflikte – das Ende der Reformen?
Bereits 1976 schrieb der damalige DGB-Vorsitzende Heinz Oskar Vetter vom „Notstand der Bildungsreform“.[11] 1978 leitete der Bonner Kongress „Mut zur Erziehung“ eine weitreichende konservative Wende in der Bildungspolitik ein.
Das 1982 infolge des ein Jahr zuvor beschlossenen Grundsatzprogramms vorgelegte neue Bildungspolitische Programm des DGB liest sich in den ersten Seiten wie eine Bestandsaufnahme des letzten Jahrzehnts, das einerseits von einer Reihe wichtiger reformerischer Maßnahmen geprägt gewesen sei, anderseits aber auch angesichts sich verschlechternder Rahmenbedingungen darauf besteht, dass zentrale Forderungen der Gewerkschaften (bisher) nicht eingelöst und daher weiterhin von hoher Aktualität seien; es sei „als Weiterentwicklung der bisherigen programmatischen Stellungnahmen“ zu verstehen.[12]
Dass im Grunde von einem Scheitern der Bildungsreform in dem umfassenden, etwa im Bildungsgesamtplan oder in den gewerkschaftlichen „Forderungen“ niedergelegten Sinn auszugehen ist, ist heute in der Wissenschaft, auch in Politik und Gewerkschaften weitgehend Konsens. Ludwig von Friedeburg z.B. schreibt in Bewertung der Debatte über die gescheiterte Umsetzung des Bildungsgesamtplans: „Wieder ging es um die Mittel, nicht um die Konstruktion.“[13] Oder Günter Kutscha, der an der Begleitforschung zum Kollegschulversuch in NRW beteiligt war, mit dem in einem völlig neu gestalteten Sekundarbereich II die Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung realisiert werden sollte, kommt zu einem ähnlich ernüchternden Urteil: da die zentrale Bedeutung des Abiturs nicht hinterfragt wurde, letztlich jedoch die Wirkung „gesellschaftlicher Widersprüche, parteipolitischer und föderaler Interessenkonflikte“ sowie die wirtschaftliche Rezession bestimmend wurden, „blieb es in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland bei Teilreformen und Regulierungsruinen im Rahmen des gegliederten Bildungssystems.“[14]
Zwar wurde 1982 noch ein zweiter Bildungsgesamtplan vorgelegt. Er wurde aber nicht mehr verabschiedet. Der Vorschlag eines Bundesbildungsgesetzes, das die Schul- und Hochschulgesetze der Länder wie das Berufsbildungsgesetzes des Bundes zusammenführen und weiterentwickeln sollte, etwa indem es auch die Weiterbildung umfassend regeln sollte, blieb eine kurze Episode. Die Neugestaltung der Sekundarstufe II in dem Sinne einer die allgemeine und berufliche Bildung verbindende Form der integrierten Gesamtschule wurde in einzelnen Bundesländern wie Bremen mit der Schaffung von Schulzentren durch das Schulgesetz von 1975, dem Berliner Oberstufenkonzept und in NRW mit dem Kollegstufenschulversuch erfolgversprechend begonnen. Aber diese Schulversuche fanden keine ausreichende gesellschaftliche und politische Unterstützung und liefen letztlich ins Leere.
Die Kollegschule wurde in das Berufskolleg überführt, eine berufsbildende Schule, die sich immerhin bis heute durch unterschiedliche Lernwege zum Nachholen und Erreichen allgemeinbildender Abschlüsse (Hauptschule, allgemeine und fachgebundene Hochschulreife) durch Doppelqualifizierungen („Berufsabitur“), durch vollschulische Berufsbildungsangebote und Angebote der Teilzeitberufsschule auszeichnet.
Das Konzept der Berufsgrundbildung – ein weiterer zentraler Vorschlag – wurde schon in den „Forderungen“ selbst uneinheitlich beschrieben, einerseits als Anforderung an die Neugestaltung der Sekundarstufe II [„Jeder Jugendliche muß eine berufliche Grundbildung erhalten, die den Zugang zu mehreren Berufen eröffnet und die allgemeine Weiterbildung weiterführt.“ (Forderungen, S. 11)], andererseits in den nachfolgenden berufsbildungspolitischen Präzisierungen eingeschränkt. So heißt es dort: „Vordringlich ist die Einrichtung einer berufsfeldorientierten Berufsgrundbildung“ („Forderungen“, S. 24, Unterstreichung BK). Die Berufsgrundbildung wurde so zunehmend „verwässert“ und letztlich aus dem ursprünglichen Kontext heraus und in die Konzipierung von Übergangsmaßnahmen zwischen Schule und Beruf hineingezogen, etwa im schulischen Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) und im schulischen Berufsgrundbildungsjahr (BGJ).[15]
Zentral war auch die Forderung nach der Einrichtung von integrierten Gesamthochschulen, die den Gedanken der Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung durch die Zusammenführung von Fachhochschule und Universität realisieren sollten. Die Gesamthochschule sollte offen für alle Arbeitnehmer/innen und über die Schaffung von Kurz- und Langstudiengänge unterschiedliche berufsqualifizierende Abschlüsse, etwa auf Fachhochschul- oder Uni-Niveau, anbieten.
Zudem wurden Anforderungen an die Studienreform formuliert. Eine umfassende Studienreform, welche die Errichtung der integrierten Gesamthochschule begleiten sollte, „muß die Trennung von zu theoretisch orientiertem Studium an den bisherigen Universitäten und von zu unkritisch auf die derzeitige Berufspraxis ausgerichtetem Fachhochschulstudium aufheben.“ (Forderungen, S. 41) Zwar wurden ab 1971 (Erstgründung in Kassel und weitere GHS in NRW, so in Duisburg, Essen, Siegen, Paderborn, Wuppertal, Hagen als Sonderfall der Fernhochschule) Gesamthochschulen in kleinerer Zahl gegründet, aber schon ab 1980 wurden die Einrichtungen in NRW zu Universitäten-Gesamthochschulen gewandelt und seit 2003 trägt auch Kassel den Namen „Hochschule – Universität“. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1972, das zwar diese Organisationsform grundsätzlich als möglich erachtet, aber zugleich die Professorenmehrheit zum Schutz der Wissenschaftsfreiheit zur Bedingung gemacht hat, macht der Gruppenuniversität mit ihren weitreichenden Vorstellungen einer Demokratisierung der Hochschule, in der alle Hochschulangehörigen gleichberechtigt die Belange der Hochschule beraten sollten, den Garaus.
Hinweise, warum letztlich nur Teile des Reformkonzepts umgesetzt werden konnten, gibt es vielfältig. Neben den schon genannten politischen Rivalitäten zwischen Bund und Ländern und in den Ländern zwischen A- und B-Ländern tauchten auch eine Reihe administrativer Probleme auf. So wurde z.B. die Realisierung doppeltqualifizierender Abschlüsse im Rahmen der Schulversuche zur Integration der beruflichen und der allgemeinen Bildung dadurch massiv ausgebremst, dass die „KMK-Rahmenvorgaben für die gymnasiale Oberstufe auf der einen Seite und für die beruflichen Schulen auf der anderen (Seite)“ zu berücksichtigen waren. „Integriertes Lernen unter dem Anspruch von Wissenschaftsorientierung und Kritik ‚im Medium des Berufs‘ ließ sich nur in den Randzonen des Schulalltags entfalten.“[16].
Nicht unwesentlich war zudem, dass die ökonomische Krise ab Mitte der siebziger Jahre mit dazu beitrug, dass sich das politische und soziale Klima wandelte. Der die öffentliche Diskussion zunehmend beherrschende Mangel an Ausbildungsplätzen ließ viele qualitative und strukturelle Fragen insbesondere in der beruflichen Bildung in den Hintergrund geraten; in den Vordergrund gerieten Fragen, wie Jugendliche gut versorgt und wie Betriebe an den Ausbildungskosten beteiligt werden könnten, die selbst keine Ausbildungsplätze anzubieten imstande waren oder sie nicht anbieten wollten.
Zu den Debatten zwischen den gesellschaftlichen Gruppen kamen auch Differenzen im Gewerkschaftslager. Die bereits angesprochene Uneindeutigkeit in Bezug auf die Forderung an die Einrichtung einer allgemeinen oder berufsfeldbezogenen Berufsgrundbildung wies auf tieferliegende Konflikte in den Gewerkschaften hin. Sie entzündeten sich letztlich an einem Kernstück der Reform, nämlich an der Frage ob und wie weit die Neugestaltung der Sekundarstufe II gehen solle.
Die weitreichende Forderung nach dem Umbau des Bildungssystems hin zu einer gleichermaßen berufs- und allgemeinbildenden Sekundarstufe II stieß auf die Wirklichkeit eines gegliederten Schulsystems in der allgemeinen Bildung mit seiner zentralen Institution des Abiturs und auf die Wirkmächtigkeit des sog. Dualen Systems der Berufsbildung, das im Kern auch von den Vertretern/innen der Industriegewerkschaften nicht ernsthaft infrage gestellt wurde.
Die GEW und hier insbesondere ihr damaliger Vorsitzender Erich Frister stellte sich gegen die von den Industriegewerkschaften erhobene Forderung nach einer isolierten Ausbildungsreform und beharrte sowohl auf einer Reform des Gesamtsystems wie darin auch darauf, die berufliche Bildung als öffentliche und von der Schule verantwortete Bildung zu konzipieren. Damit war aus Fristers Sicht eine grundsätzliche Kritik formuliert, da – davon war er überzeugt – Teilreformen zu einer „Unversehrtheit der bestehenden Gesellschaftsstruktur“[17] führen müsse.
Damit wird klar, dass in einer Phase, in der neben den genannten Faktoren auch konservative Kreise erfolgreich für eine Wende in der Bildungspolitik mobilisierten, die Gewerkschaften sich aufgrund der Tatsache, dass sie trotz gemeinsamer Beschlüsse in wichtigen Fragen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen verfolgten, nicht mit der möglichen, notwendigen und gemeinsamen Kraft hinter der Umsetzung der Reformen standen. Die Bildungsreform, so weitreichend sie von Wissenschaft, Politik und Gewerkschaften gedacht war, so war sie doch zu wenig in der Mitgliedschaft der Gewerkschaften und in der Gesellschaft allgemein verankert, um die Gegenreform abzuwenden und zu einer wirklichen sozialen Bewegung für umfassende Bildungsreform zu werden.
Was Herwig Blankertz zu den Gründen für das Scheitern des Kollegschulversuches anführte, mag eine allgemeinere Bedeutung haben: Letztlich sei ein für das Bildungswesen typisches Beharren, gespeist aus „Gruppeninteressen, Identitätserfahrungen, Hoffnungen und Befürchtungen, die keine Bildungspolitik ignorieren kann“[18] für die Erklärung des mangelnden Erfolgs der Bildungsreform heranzuziehen.
Ausblick
Was lässt sich aus den 1972 und in den nachfolgenden Jahren systematisch entwickelten Forderungen, den sich dahinter verbergenden Konzepten, aus der politischen Auseinandersetzung um diese Ideen und auch aus den Niederlagen im Rahmen der Umsetzung dieser Forderungen für die Gegenwart lernen?
- Die Bildungsreform ab Ende der sechziger Jahre war eingebettet in spezifische politische und ökonomische Rahmenbedingungen
Die Ermöglichung bestimmter politischer Reformen ist an spezifische Rahmenbedingungen gebunden, aus denen sich der politische Gestaltungsspielraum erst ergibt. So ist die Frage berechtigt, ob heute zu den 70er Jahren vergleichbare Rahmenbedingungen gibt. Auf den ersten Blick wird man dies mit Verweis auf die ökonomische und politische Kraft des Neoliberalismus und den durch die Singularität kennzeichenbaren kulturellen Wandel verneinen wollen. Gleichwohl sind Triebkräfte zu identifizieren, die als Samen für eine neuerliche Debatte gelten können.
Damals war ein wesentlicher Punkt für die Wirkung der Bildungsreform das Zusammentreffen einer aus einer ökonomisch- technologischen Entwicklung abgeleiteten Debatte mit dem Ziel der Modernisierung des Bildungswesens – begründet mit dem Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften – mit einem in weiten Teilen in der Gesellschaft verankerten Reformwillen einschließlich zentraler Fragen der Bildungsreform.
Die integrierte Gesamtschule, die Gesamthochschule, die Erneuerung der beruflichen Ausbildung u.a.m. waren nicht nur Forderungen der Pädagogik, sondern sie wurden von breiten Teilen der Bevölkerung, von Teilen der im Bildungsbereich angesiedelten Verbände, von Teilen des Parteienspektrums und den Gewerkschaften mitgetragen. Ende der sechziger Jahre traf Bildungsreform auf Produktivkraftentwicklung und Gesellschaftskritik und erhielt so einen doppelten Schub, der wichtige Akteure und gesellschaftliche Gruppen hoffen ließ, dass der reformerische Umbau des Bildungswesens und mit ihm bzw. von ihm unterstützt auch der Umbau der Gesellschaft gelingen möge.
Mit der Veränderung dieser Rahmenbedingungen sinken auch die Chancen für die Durchsetzung der Bildungsreform rapide. Wie noch zu zeigen sein wird, gibt es auch heute Ansatzpunkte, die für eine umfassende Reform des Bildungswesens genutzt werden könnten.
- Die Forderungen und das dahinterliegende Konzept bildeten trotz ungünstig werdender ökonomischer und politischer Rahmenbedingungen in den siebziger und achtziger Jahren einen Kompass für Einzelforderungen bis in die Gegenwart.
In dem bereits genannten Bildungspolitischen Programm des DGB von 1982, mit dem gewissermaßen eine Bestandsaufnahme der zehn vorigen Jahre verbunden war, werden trotz eines weitgehend desillusionierenden Rückblicks auf das vergangene Jahrzehnt eine Reihe von Themen hervorgehoben, welche auch mit Unterstützung der Gewerkschaften durchgesetzt worden sind.
Der DGB zählt 1982 u.a. dazu:
- die Verlängerung der Schulzeit auf je nach Bundesland neun bzw. zehn Jahre,
- Modellversuche für die integrierte Gesamtschule in einzelnen Bundesländern,
- neue Ausbildungsordnungen für eine Vielzahl von Berufen,
- der mit dem BAföG geschaffene Rechtsanspruch für eine finanzielle Unterstützung vieler bedürftiger Schüler/innen und Studierenden sowie
- die „ausbaufähigen“ (Zitat aus dem Text) Gesetzesgrundlagen wie z.B. das Betriebsverfassungsgesetz, das Personalvertretungsgesetz, das Berufsbildungsgesetz sowie das Arbeitsförderungsgesetz.[19]
Das Programm von 1982 selbst wird als „Weiterentwicklung der bisherigen programmatischen Stellungnahmen des DGB“ gesehen. Trotz deutlich veränderter Rahmenbedingungen hält der DGB auch in den 80er Jahren an wesentlichen Positionen fest.
Nimmt man auf die Beschlüsse der nachfolgenden DGB-Bundeskongresse Bezug, so lässt sich feststellen, dass bis in die Gegenwart wichtige Linien und Forderungen aktuell sind. Durchlässigkeit, Gleichwertigkeit, Demokratisierung und andere Themen bleiben die zentralen Orientierungen gewerkschaftlicher Bildungspolitik. Die Struktur der Beschlüsse versuchen zumindest additiv, die Idee einer Gesamtreform weiterhin mit Leben zu füllen.
Auch zentrale Vorstellungen zur politischen Umsetzung der Forderungen sind nicht passé. So fordert der DGB in seinem Bildungspolitischen Beschluss des 22. Ordentlichen Bundeskongress von 2022 beispielsweise eine zwischen Allgemein- und Berufsbildung sowie zwischen Bund und Ländern abgestimmte „gesellschaftliche Bildungsstrategie“ und als Instrument die (Wieder-)Einrichtung eines Bildungsrates sowie einer Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung.
Allerdings – so scheint es – wird unter der Macht der einzelnen Bildungsinstitutionen mit ihren je eigenen Bildungstheorien und Regelwerken der auch in den Gewerkschaften Zusammenhang zwischen den Bildungsinstitutionen immer blasser. Schulpolitik wird als Schulpolitik, Hochschulpolitik als Hochschulpolitik, Berufsbildungs- als Berufsbildungspolitik betrachtet. Verloren gegangen sind nach meiner Einschätzung wichtige integrierende Momente, die den Zusammenhang zwischen den Teilbereichen und damit eine bildungsreformerische Gesamtreform erst begründen.
- Ungelöste politische Konflikte und wachsende Defizite in den Gewerkschaften schwächten nicht nur in den siebziger und achtziger Jahren die Umsetzungschancen der Forderungen
Die Forderungen von 72ff zielten auf eine Gesamtreform von Bildung, inhaltlich entlang der eingangs wiedergegebenen Grundsätze und Prinzipien, die in den nachfolgenden Beschlüssen für die einzelnen Bereiche der allgemeinen und beruflichen Bildung konkretisiert wurden, institutionell als daraus abgeleitete Reformvorstellungen für Vorschule, Gesamtschule, Gesamthochschule und Weiterbildung. Allgemeine, berufliche, politische und kulturelle Bildung wurden als Einheit betrachtet.
Tatsächlich traten alsbald zum Teil erhebliche Differenzen zwischen den Gewerkschaften auf. Ein zentraler Punkt war die Bestimmung des Verhältnisses von Betrieb und Schule, zugespitzt in den Reformvorstellungen zur Neugestaltung der Sekundarstufe II. Differenzen gab es auch in der strategischen Frage, ob man Bildungsreform als Gesamtreform und damit – so war das Verständnis – als Teil von Gesellschaftsreform oder, was die Industriegewerkschaften favorisierten, als institutionelle Einzelreform, etwa der Berufsbildung in der Auseinandersetzung um die Umlagefinanzierung oder in der Neugestaltung der Berufe, verfolgen sollten. Dahinter lag die Frage, ob berufliche Bildung als Teil eines öffentlichen Bildungswesens oder dort, wo Betriebe als Lernorte beruflicher Bildung akzeptiert oder als notwendig angesehen wurden, als Teil eines öffentlich verantworteten Bildungswesens zu etablieren seien.
Verbunden mit wichtigen Beschlüssen und institutionellen Schranken und Besonderheiten der Einzelbereiche des Bildungswesens wurde Bildungspolitik in den Gewerkschaften immer stärker entlang dieser Institutionen, etwa als Berufsbildungs-, Hochschul- oder Weiterbildungspolitik etabliert. Wichtige Konzepte und Veröffentlichungen der jüngeren Vergangenheit, z.B. die Vorschläge des DGB zur Reform des Berufsbildungsgesetzes, Vorschläge von GEW, IG Metall und ver.di zur Regulierung der Weiterbildung, das hochschulpolitische Programm des DGB oder die Forderung nach „einer guten Schule für alle“ haben es nicht vermocht, substantielle Brücken in eine Bildungsgesamtreform zu bauen. Die Differenz zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung setzt sich in den Gewerkschaften fort.
Dazu kommt ein weiteres Problem. Während es im Bereich der Hochschul- und Studierendenarbeit eine erfreuliche Erweiterung gewerkschaftlicher Aktivitäten gibt, weil neben DGB und GEW auch Strukturen etwa in der IG Metall, in der IG BCE und bei ver.di aufgebaut wurden, sind im Bereich der allgemeinbildenden Schulen – ressourcenbegründet – deutliche Rückschritte unübersehbar. Noch in den achtziger Jahren verfügten die Gewerkschaften über zahlreiche regionale Arbeitskreise Schule und Gewerkschaften, die sich vor Ort für die Schul- und Bildungsreform einsetzten. Sie wurden zwar unter der Überschrift „Schule und Arbeitswelt“ in den 2000er Jahren wieder zu etablieren versucht; tatsächlich fristen sie heute ein Schattendasein. Sieht man von den wichtigen Aktivitäten von DGB und GEW ab, etwa zur Ganztagsschule oder zur Inklusion, wird de facto das zentrale Feld der Schulpolitik damit den von den Wirtschaftsverbänden und zum erheblichen Teil von der öffentlichen Hand unterstützten Arbeitskreisen Schule und Wirtschaft überlassen, die damit eine wichtige Definitionsmacht etwa im Bereich der Berufsorientierung oder in der Auseinandersetzung um das Themenfeld Wirtschaft in der Schule haben.
Hinzu kommt ein Defizit, dass insbesondere in den Betrieben offenkundig ist. Obwohl Bildungspolitik insbesondere in ihren Ausprägungen der beruflichen Qualifizierung und der betrieblichen Weiterbildung in der gewerkschaftlichen Programmatik nach wie vor einen zentralen Stellenwert innehat, obwohl eine Reihe guter Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen vereinbart werden konnten, bilden diese Themen in der Arbeit der Betriebsräte längst nicht den Stellenwert, der notwendig und wünschbar wäre.[20]
- Optimistisch gedeutet: Dennoch lassen sich auch für unsere Gegenwart Ansatzpunkte und Triebkräfte in dem Kontext ökonomisch-technologischer Entwicklungen ebenso erkennen wie in den sozialen und ökologischen Herausforderungen, die sowohl auf eine neuerliche Modernisierung wie auf eine inhaltliche und strukturelle Reform von Bildung drängen.
2022 ist nicht 1972. Es fällt heute schwer, eine vergleichbare soziale Situation wie zu Beginn der siebziger Jahre zu identifizieren. Die Anliegen der sozialen Bewegungen sind heute aus nachvollziehbaren Gründe andere. Der drohende Zusammenbruch der Klimasysteme überschattet die gesellschaftliche Situation ebenso wie die durch Russlands Überfall auf die Ukraine verursachte Gefahr für den Weltfrieden.
Zudem hat der Neoliberalismus zu einem soziokulturellen Wandel geführt, der unter dem Stichwort „Singularität“ solidarischem Handeln entgegensteht bzw. es zumindest erschwert. Die gesellschaftliche Spaltung ist fortgeschritten. Längst wird ernsthaft von der Abstiegsgesellschaft gesprochen.[21]
Zugleich nimmt die Kritik am Bildungswesen nicht ab: Seit den PISA-Studien ist ersichtlich – und da stellt sich durchaus eine Analogie zu Picht her -, dass Defizite in der Qualität der Lernprozesse gekoppelt sind an eklatant an sozialer Herkunft festzumachenden Bildungschancen. Die weitreichende Ökonomisierung von Bildung macht auch Dahrendorf wieder aktuell. Gesellschaftliche und ökologische Fragen, der fragile Zustand der Demokratien drängen auf eine Erweiterung unseres in den letzten Jahren verengten Bildungsverständnisses.
Die Liste der Defizite ist lang. Es fehlen Fachkräfte in den Betrieben und in den Bildungseinrichtungen, auch, weil Betriebe nicht genügend ausbilden oder nicht genügend Studienplätze für Lehrer/innen oder Ingenieure/innen zur Verfügung stehen. Die Bildungsbereiche sind skandalös unterfinanziert. Die Privatisierung der Bildung schreitet fort. Dies alles in einer Situation, in der gesellschaftsübergreifend eine gemeinsame Überzeugung unwidersprochen zu sein scheint, dass Qualifizierung ein, wenn nicht der zentrale Schlüssel im Kontext der Transformation von Arbeit und Gesellschaft ist.[22]
Qualifizierung sollte in diesen Debatten aber nicht als nachgeordnete Größe nach Ökonomie und Technologie behandelt werden. Erst in der Einheit von qualifizierender Arbeitsgestaltung und in der Stärkung beruflicher und gesellschaftlicher Handlungskompetenzen wird hieraus ein den umfassenden Anforderungen gerechter und sinnvoller Ansatz.
Nimmt man die im Kontext der Transformation breite Debatte über die Bedeutung von Qualifizierung auf, erscheinen Erweiterungen in mindestens drei Richtungen notwendig und möglich.
Erstens sollte die Akzentuierung der sozialen Kompetenzen und des damit verbundenen Plädoyers für mehr Persönlichkeitsbildung offensiv aufgegriffen, aber auch systematisch erweitert werden. Nicht allein die Funktionalität von Arbeit, sondern auch das Was und das Wie der Produktion, also Fragen des Sozialen in einem umfassenden Sinn, sollten Gegenstand von – integrierten – Bildungsprozessen sein.
Stellvertretend für viele andere Dokumente aus Forschung, Politik und Arbeitswelt wollen wir die Charta für Lernen und Arbeiten in der Industrie 4.0 zitieren. „Arbeiten in der Industrie 4.0“, so heißt eine wesentliche Kernaussage, „ist durch mehr Souveränität und Beteiligung der Beschäftigten an Veränderungsprozessen sowie dem Erhalt und dem Ausbau ihrer Lern- und Handlungsfähigkeit geprägt.“ [23] Zu berücksichtigen ist, dass in diesem Papier explizit Zielvorstellungen formuliert sind, an denen sich künftige Arbeits- und Bildungspolitik orientieren solle und die sich an vielen Stellen nicht mit den tatsächlichen, oft prekären und wenig qualifizierten Arbeitsanforderungen in breiten Teilen der Arbeitswelt decken. Sie machen aber deutlich, dass es eine breite Überzeugung gibt, dass die Digitalisierung der Arbeit ohne weitere Qualifikationsanstrengungen für viele Beschäftigte nicht möglich ist und – was im Kontext dieser Überlegungen vielleicht noch wichtiger ist – dieser Diskurs auf die Stärkung jener Qualifikationsinhalte hinausläuft, die auf die Erweiterung der beruflichen Handlungskompetenzen zielen und damit implizit und explizit auch die Persönlichkeitsbildung hervorheben.
Die neuen, durch den BIBB-Hauptausschuss im November 2020 beschlossenen Standardberufsbildpositionen sind als ein Zwischenschritt in diesem Prozess hervorzuheben. So heißt es in diesem Beschluss zur Umsetzung dieser Positionen in die Ausbildungsordnungen, das Ziel der dualen Ausbildung sei es, „für eigenverantwortliche Tätigkeiten auf einem möglichst breiten Gebiet zu qualifizieren.“ Daraus ergebe sich ein „Bildungsauftrag zur Persönlichkeitsentwicklung der Auszubildenden in Richtung einer selbstständigen Persönlichkeit, die sich reflektierend und aktiv mit gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzt, beizutragen.“[24]
Zweitens ist die Zuordnung von Wissenschafts- und Erfahrungsorientierung in den Lernprozessen von beruflicher und hochschulischer Bildung in der digitalen Transformation zu nennen. Fasst man die differenzierten Debatten zusammen, so erscheint zumindest in Teilen der Ingenieurwissenschaften und der Informatik, auch im Kontext des Dualen Studiums, bemerkenswert, wie wissenschaftlich-fachliche Studieninhalte und Praxiserfahrungen in ein neues Verhältnis gesetzt werden, während im Bereich der dualen Berufsbildung die Wissenschaftsbasierung eine höher werdende Rolle einnimmt .[25]
Drittens – dies ist in gewisser Weise auch eine Konsequenz aus diesen Prozessen – gibt es derzeit, wenn auch unter ambivalenten Vorzeichen, sowohl in der allgemeinen wie auch in der beruflichen Bildung eine Reihe von Ansätzen in Richtung einer Neubestimmung des Verhältnisses von allgemeiner und beruflicher Bildung bzw. des Stellenwerts allgemeinbildendender Inhalte in der Berufsbildung.
Die reale Art und Weise dieser hier skizzierten Neubestimmung des Verhältnisses von allgemeiner und beruflicher Bildung ist widersprüchlich. Einerseits kann man oder muss man sie als weitere „Landnahme“ kapitalistischer Normen und Verhaltensweisen werten, wenn z.B. die ökonomische Bildung an Schulen auf traditionelle Betriebswirtschaftslehre fokussiert oder wenn ein Mehr an sozialer Kompetenz in der beruflichen Bildung funktional darauf verengt wird, dass Arbeitsprozesse effektiver und reibungsloser laufen sollen.
Andererseits können diese Prozesse aber einen Effekt dahingehend erzielen, dass er zu einer arbeitspolitischen, aber auch sozialen und ökologisch orientierten Erweiterung eines Verständnisses von Beruflichkeit und Arbeit oder des Verhältnisses von Betrieb und Gesellschaft führen, weitere Mitwirkungsansprüche der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungen generieren und eine neuerliche und erweiterte Debatte über die Bedeutung von Bildung in den Transformationsprozessen generieren mag.
Ohne die Ausweitung dieses – erweiterten – Verständnisses von Beruflichkeit und qualifizierter Arbeit, ohne die weitere Demokratisierung der Arbeitswelt, ohne die weitere Debatte des Verhältnisses von Ökonomie und Ökologie wird es vermutlich eine erfolgreiche digitale, aber auch die notwendige soziale und ökologische Transformation der Arbeit nicht geben können.
Einen wichtigen Hinweis, sich dieser Debatte vertiefend zu nähern, gibt Karin Büchter, die in einem historischen Blick sowohl auf „Idee“ als auch auf die „Realität“ von Allgemein- und Berufsbildung blickt, um aus den gemeinsamen Widersprüchen mögliche neue Wege des in Verhältnissetzens beider Bereiche herauszuarbeiten. Zu diesen „übergreifenden Widersprüchen“ gehören aus ihrer Sicht „Bildung für alle und die soziale Portionierung von Bildung“, die „Allseitigkeit von Bildung und Halbbildung“ sowie die „allgemeine Nützlichkeit von Bildung und Ökonomisierung“.
Nimmt man diesen – produktiven – Ansatz an, so erscheinen Prozesse der Annäherung in Schule, Berufsbildung und Hochschule in einem anderen Licht und als besondere und aktuelle Herausforderung. Sie führen zu einer Dialektik in der Weise, dass die realen Prozesse der Annäherung auf eine zunehmende Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung führen mögen – dies einerseits allerdings unter dem Vorzeichen der weiteren Funktionalisierung für die ökonomischen und sozialen Ziele des – digitalen – Kapitalismus.
Andererseits steckt in ihnen eine Möglichkeitsform, die sich daraus ergibt, allgemeine und berufliche Bildung in einen gemeinsamen Diskurs zu führen, ein „Sich-in-Verhältnis-Setzen“ (…) „in einer gemeinsamen (selbst-)kritischen Auseinandersetzung damit, wie und in welcher Weise Denken und Handeln von welchen ökonomischen Kategorien geleitet sind, und welches Verständnis einer humanen und gemeinnützigen Ökonomie maßgeblich sein kann.“[26]
In diesem Sinne geht berufliche nicht ohne allgemeine oder politische Bildung wie allgemeine nicht ohne berufliche Bildung. Es geht um die Integration in den Lerngegenständen, Bildungsprozessen wie notwendigerweise und folgerichtig in den Institutionen, orientiert – das Ziel sei gestattet – an einem anderen, sagen wir solidarischem und ökologisch verantwortlichen Wirtschaften und Arbeiten.
Sowohl der Wissenschaftliche Beraterkreis von ver.di und IG Metall wie auch das Leitbild der „erweiterten modernen Beruflichkeit“ der IG Metall setzen sich mit diesen Fragen auseinander. So münden die Überlegungen des Beraterkreises in den „Leitlinien für eine gemeinsame duale, schulische und hochschulische berufliche Bildung“ darin, „Perspektiven eines neuen wissenschaftsbasierten Berufsbildungssystems zu entwickeln“, das „weder die herkömmliche Hochschulbildung noch die bestehende Berufsbildung fortzuschreiben“ erlaubt, sondern vielmehr nahelegt, „Elemente beider Lernwege auf der Grundlage wissenschaftlich begründeten Erfahrungswissens in ‚erweiterter Beruflichkeit‘ zu kombinieren.“[27]
Das Leitbild der IG Metall stellt Überlegungen für ein gemeinsames Konzept von Beruflichkeit für die Berufs- wie für die Hochschulbildung zur Diskussion. Gegenüber dem Konzept der „modernen Beruflichkeit“ als dem zentralen Reformkonzept in der Neugestaltung der Berufe in den letzten Jahrzehnten wird eine doppelte Erweiterung zur Diskussion gestellt: einmal, weil es Aspekte veränderter Arbeit und veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen in den Kriterien von Beruflichkeit zu berücksichtigen trachtet, zum zweiten, weil es den Akademisierungsdiskurs aufnehmend und das ihn prägende Profil der „Employability“ kritisierend die Konzeption von erweiterter Beruflichkeit für die Gestaltung der Studiengänge anbietet. Auch, wenn das Leitbild eine Reihe struktureller Vorschläge macht, knüpft es damit an den Vorschlag an, die curriculare Debatte zum Ausgangspunkt einer neuerlichen Bildungsreform zu machen.[28]
[1] Zu diesem Beitrag entsteht eine elektronisch Langfassung. Diese kann unter bernd.kassebaum@igmetall.de angefordert werden.
[2] Meadows, Dennis u.a.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972
[3] Die Otto-Brenner-Stiftung hat zum 50. Geburtstag dieser Tagung und in Würdigung des Lebens Otto Brenners umfassende Materialien ins Netz gestellt (https://www.otto-brenner-stiftung.de/50-jahre-obs/internationaler-kongress-1972/ ),
dazu auch Drinkuth, Andreas: Die Abteilung Automation beim Vorstand der Industriegewerkschaft Metall, Broschüre, o.O., o.J. (Juni 2022),
IG Metall (Hrsg.): Aufgabe Zukunft. Qualität des Lebens. Dokumentation in 10 Bänden, Frankfurt am Main 1973
[4] Weber, Maria: Berufsausbildung wohin?, in: Berufliche Bildung. DGB-Informationen über das berufliche Bildungswesen, 1/1965, S.1f
[5] 7. Jugendkonferenz der IG Metall zu bildungspolitischen Forderungen. Kurzbericht, in: Berufliche Bildung 1/1965, S.8
[6] Vgl. Schlösser, Manfred: Exkurs 2: Die industriesoziologische Debatte der späten 1950er/frühen 1960er Jahre, in Stratmann, Karlwilhelm/ Schlösser, Manfred: Das Duale System der Berufsbildung. Eine historische Analyse seiner Reformdebatten, Frankfurt am Main 1990, S. 116
[7] Zitiert nach Stratmann / Schlösser 1990, S. 150
[8] Nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Ausschuss_f%C3%BCr_das_Erziehungs-_und_Bildungswesen (letzter Abruf 22.11.2022)
Stratmann, Karlwilhelm: Geschichte der beruflichen Bildung. Ihre Theorie und Legitimation seit Beginn der Industrialisierung, in: Blankertz, Herwig u.a. (Hrsg.): Sekundarstufe II – Jugendbildung zwischen Schule und Beruf, Band 9.1 der von Dieter Lenzen herausgegebenen Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Stuttgart 1982, S. 197
[9] Vgl. Bartz, Olaf: Wissenschaftsrat und Hochschulplanung. Leitbildwandel und Planungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1957 und 1975. Dissertation. Köln 2006
[10] Vgl. DGB (Hrsg.): Forderungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Bildungspolitik, ohne Ort, ohne Jahr
[11] Nach Faulstich, Peter (Hrsg.): Die Bildungspolitik des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1949 – 1979, Stuttgart 1980, S. 30
[12] So Fehrenbach, Gustav, in: DGB (Hrsg.): Bildungspolitisches Programm des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Frankfurt, Juni 1983, S. 3
[13] Friedeburg, Ludwig, von: Bildungsreform in Deutschland, Frankfurt a.M. 1989, S. 343
[14] Kutscha, Günter: Erweiterte moderne Beruflichkeit – Eine Alternative zum Mythos „Akademisierungswahn“ und zur „Employability-Maxime“ des Bologna-Regimes: in: bwpat Dezember 2015 (siehe: https://www.bwpat.de/ausgabe/29/kutscha ;letzter Zugriff Dez. 2022); vgl. auch den Beitrag von Günter Kutscha in dieser Ausgabe
[15] Vgl. dazu Kell, Adolf: Berufsgrundbildung, in: Blankertz, Herwig u.a. (Hrsg.): Sekundarstufe II – Jugendbildung zwischen Schule und Beruf, Band 9.2 der von Dieter Lenzen herausgegebenen Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Stuttgart 1983, S. 161ff
[16] Kutscha, Günter: Zum Verhältnis von allgemeiner und beruflicher Bildung im Kontext bildungstheoretischer Reformkonzepte, in: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 3/2003, S. 328ff hier: zitiert aus Manuskript, S. 22
[17] Zitiert nach Klaus Heimann: Berufliche Bildung und Gewerkschaften, Frankfurt 1980 S. 199
[18] Herwig Blankertz: Die Sekundarstufe II. Perspektiven unter expansiver und restriktiver Bildungspolitik, in: ders. u.a. (Hrsg.): Sekundarstufe II – Jugendbildung zwischen Schule und Beruf, Band 9.1 der von Dieter Lenzen herausgegebenen Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Stuttgart 1982, S. 323
[19] Vgl. DGB (Hrsg.): Bildungspolitisches Programm des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Frankfurt, Juni 1983
[20] Vgl. u.a. Erol, Serife u.a. Betriebliche Weiterbildung als Handlungsfeld der Betriebsräte, Policy Brief WSI 3/21, Düsseldorf
[21] Hier wird Bezug genommen auf: Nachtweih, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft, Berlin 2016 und Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten, Bonn 2018
[22] Den Zusammenhang von mangelnder Bildungsqualität und fehlender Chancengleichheit wird aktuell z.B. von der neuen IQB-Studie hervorgehoben: vgl. https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/iqb-bildungstrend-die-wichtigsten-ergebnisse/ (letzter Zugriff 15.12.2022)
Zum Thema soziale Ungleichheit im Bildungswesen: Bachsleitner, Anne u.a. Hrsg.): Soziale Ungleichheit des Bildungserwerbs von der Vorschule bis zur Hochschule, Münster, New York 2022
[23] BMWi (Hrsg.): Charta für Lernen und Arbeiten in der Industrie 4.0, Berlin November 2020, S. 4 (https://www.plattform-i40.de/IP/Redaktion/DE/Downloads/Publikation/charta_fuer_lernen_und_arbeit.pdf?__blob=publicationFile&v=8 ; letzter Zugriff 05.01.2023)
[24] Vgl. BIBB Hauptausschuss-Empfehlungen hier: https://www.bibb.de/dokumente/pdf/HA172.pdf (letzter Zugriff 15.12.2022) sowie: BIBB – Hauptausschuss (Hrsg.): Erläuterungen zu den modernisierten Standardberufsbildpositionen, Bonn 2021, S. 5
[25] Vgl. dazu u.a. Nies, Sarah u.a.: Anerkennung informeller Fähigkeiten in einer digitalisierten Arbeitswelt, in: DENK-doch-MAL 4/2020, Berufliche Erfahrung. Non-formale und informell erworbene Kompetenzen (https://denk-doch-mal.de/ausgaben/04-20-berufliche-erfahrung-non-formale-und-informell-erworbene-kompetenzen/ ;letzter Zugriff: 15.12.2022)
Spöttl, Georg: „Beruflich-akademischer Bildungstyp“ und seine Positionierung im Bildungswesen, in: Seifried, J. u.a. (Hrsg.): Praxispotenziale um Dualen Studium. Lernen am Arbeitsplatz als Element akademischer Qualifizierung, Bielefeld 2021
[26] Karin Büchter 2015, Allgemeinbildung und Berufsbildung – übergreifende Widersprüche historisch betrachtet, in: Schlögl, Peter u.a. (Hrsg.): Berufsbildung – eine Renaissance?, Bielefeld 2017, S. 39
[27] Ver.di/IG Metall (Hrsg.): Wissenschaftlicher Beraterkreis, Leitlinien für eine gemeinsame duale, schulische und hochschulische berufliche Bildung; BerufsBildungsPerspektiven 2014, Frankfurt, Berlin 2014, S. 62
IG Metall (Hrsg.): Erweiterte moderne Beruflichkeit. Ein gemeinsames Leitbild für die betrieblich-duale und die hochschulische Berufsbildung. Ein Diskussionspapier. November 2014
[28] Vgl. Kell, Adolf: Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung – Ziele und Reformversuche zwischen 1965 und 1982, in: Büchter, Karin / Steier, Sonja (Hrsg.): „Fremde Schwestern“ – Allgemeiner und Berufliche Bildung (= Bildung und Erziehung 4/2020) Göttingen 2020, S. 329ff