Der Wissenschaftliche Beraterkreis von ver.di und IG Metall
Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gewerkschaften
Dr. Roman Jaich (ver.di Bundesverwaltung und Mitglied der Redaktionsgruppe von DENK-doch-MAL)
Der nunmehr seit über 15 Jahren bestehende Wissenschaftliche Beraterkreis der Bildungsbereiche von ver.di und IG Metall, verdankt seine Existenz den gemeinsamen Interessen der Bildungspolitiker*innen von IG Metall und ver.di sowie der mitwirkenden Wissenschaftler*innen.
1. Der Beraterkreis und sein Hintergrund
Zunächst war offen, ob der Beraterkreis für ein zeitlich abgegrenztes Projekt eingerichtet werden sollte, indem ein Konzept entwickelt wird, „Wie wir morgen arbeiten, leben und lernen wollen“[1] oder als dauerhaftes Gremium notwendig wäre, in einer Zeit, „… in der das Berufsbildungssystem in einer Krise steckt, dringend und notwendige Reformen nicht oder nur halbherzig angepackt werden. Statt Gerechtigkeit und Chancengleichheit werden neoliberale Leitbilder wie das der Individualisierung, Deregulierung und Selektion in einer radikalen Marktgesellschaft nach vorne geschoben.“[2]
Mittlerweile erweist sich der Beraterkreis als beständiges Gremium mit ca. 20 Wissenschafler*innen aus unterschiedlichen Disziplinen der Sozial-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Der Beraterkreis äußert sich regelmäßig in seinen Berufs-Bildungs-Perspektiven zu wichtigen bildungs- und gesellschaftspolitischen Fragen. Mit seinen ARGUMENTE-Papieren, 2017 erstmals erschienen, bezieht er auch zu aktuellen Themen Position. Gemeinsam ist allen Veröffentlichungen das Konsensprinzip, d.h. die Verständigung auf einen Text – ohne Minderheitenvoten oder einzelne Vorbehalte – trotz disziplinbedingten unterschiedlichen Blickwinkels der Wissenschaftler*innen. Daher nicht immer spannungsfrei, diese Spannungen aber produktiv nutzend, gelingt es dem Beraterkreis regelmäßig sich auf eine gemeinsame Position zu verständigen. Einend ist die politische Vision, gesellschaftliche Verantwortung für die Bildungsprozesse zu betonen, Zugangsmöglichkeiten zu Bildung für alle Menschen unabhängig von ihrer sozialen oder ethnischen Herkunft oder ihres Geschlechts zu eröffnen, sowie ausreichend Lernzeiten, lernförderliche Rahmenbedingungen und gut qualifizierte und bezahlte Lehrkräfte bereitzustellen. Entsprechend ist das Selbstverständnis des Wissenschaftlichen Beraterkreises, eine kritische Analyse des Bildungs- und Beschäftigungssystems in Deutschland zu leisten und auf der Basis seiner Befunde Empfehlungen für die bildungspolitischen Akteure vor allem in den Gewerkschaften, aber auch in den Unternehmen und ihren Verbänden, in den Parteien, in den Forschungseinrichtungen und Bildungsstätten zu geben.
Auftakt der Veröffentlichungen des Beraterkreises war 2006 die Streitschrift „Bildung ist keine Ware“.[3] Sie macht unmissverständlich klar, dass eine neoliberal geprägte Bildungspolitik in die Sackgasse führt. Diese Politik verstärkt noch die vorhandenen Bildungsunterschiede, entwertet die Facharbeit und gefährdet durch die Erosion des Berufsprinzips wirtschaftliche Entwicklungschancen. Die Verlagerung von Bildungskosten auf das Individuum, die Privatisierung von Bildungsinstitutionen und die Ökonomisierung der staatlichen und kommunalen Bildungseinrichtungen werden abgelehnt. Gefordert wird, dass Bildung in öffentlicher Verantwortung bleiben muss.
Die Berufs-Bildungs-Perspektiven 2008 „Solidarität und gemeinsame Verantwortung“[4] widmen sich den Spannungen zwischen den bildungspolitischen Entscheidungsebenen Länder, Bund und EU. Eingefordert wird eine neue Balance der Zuständigkeiten, die für die Bürgerinnen und Bürger mehr Durchlässigkeit und Transparenz schafft und Mobilität erhöht. Dem Markt als alleinigem Steuerungsmechanismus wird eine Absage erteilt. Problematisiert wird der Einfluss der EU auf das deutsche Berufsbildungssystem, weil sie sich an angelsächsischen Vorbildern orientiert, ohne dass diese Politik annähernd demokratisch legitimiert ist.
Soziale Benachteiligung und eine selektive Bildungsbeteiligung sind Themen aller Berufs-Bildungs-Perspektiven. Sie sind – auch im internationalen Vergleich – Strukturmerkmale des deutschen Bildungssystems. In den Berufs-Bildungs-Perspektiven 2009 „Bildungsprivilegien für alle!“[5] werden diese Verwerfungen und ihre Ursachen zum zentralen Gegenstand. Auf der einen Seite steht die „Vererbung“ von sozialer Benachteiligung und der damit einhergehenden Verfestigung sozialer Ungleichheit, auf der anderen reagiert die Bildungspolitik auf diesen Sachverhalt nur mit unzureichenden Mitteln, zum Teil sogar mit Maßnahmen, die die beschriebene negative Tendenz verstärken. „Bildungsprivilegien für alle“ wird zur – augenzwinkernden – Orientierung einer Politik für mehr Bildungsgerechtigkeit.
2009 erreichte die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise, die durch spekulative, intransparente und riskante Bankgeschäfte ausgelöst worden ist, einen neuen Höhepunkt. Der Kasino-Kapitalismus mit seinen marktgläubigen neoliberalen Unterstützern in Politik und Wissenschaft fuhr sichtbar gegen die Wand. Mit den Berufs-Bildungs-Perspektiven „Bildung in der Krise – weder innovativ noch gerecht!“[6] werden die Zusammenhänge von Wirtschafts- und Bildungskrise aufgezeigt. Die nationale wie internationale Bekämpfung der Krisensymptome bindet die Aufmerksamkeit der Politik, beansprucht zusätzliche finanzielle Ressourcen, führt tendenziell zur Verarmung öffentlicher Haushalte und somit zu einer Einschränkung von Bildungsausgaben.
In den Berufs-Bildungs-Perspektiven 2012 „Gute Bildung für gute Arbeit“[7] wird deutlich gemacht, dass Bildung Voraussetzung und Element von befriedigender und qualifizierter Erwerbsarbeit ist. Gute Bildung und gute Arbeit stehen in einem Wechselverhältnis. Hohe Bildungsabschlüsse sind keinesfalls mehr Garant für eine interessante und auskömmliche Arbeit, sie erhöhen allenfalls die Wahrscheinlichkeit, eine solche zu erreichen. Prekäre Arbeit ist auf der anderen Seite wenig lernhaltig und bietet zudem kaum Weiterbildungschancen. Hervorzuheben ist, dass gesellschaftliche Bildungsanstrengungen die Arbeits- und Lebensperspektiven der Beschäftigten positiv beeinflussen und geeignet sind, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu verbessern und für aktuell drängende Probleme wie den Fachkräftemangel Abhilfe zu schaffen.
Der Beraterkreis verfolgt mit Berufs-Bildungs-Perspektiven 2014 „Leitlinien für eine gemeinsame duale, schulische und hochschulische berufliche Bildung“[8] eine Thematik von großer bildungs- und gesellschaftspolitischer Bedeutung und nimmt Fragestellungen auf, die auch innerhalb der Gewerkschaften verfolgt werden. Ein wesentlicher Ausgangspunkt der Analyse ist der Prozess der sog. Akademisierung der Arbeitswelt. Hierbei spielen die ungebrochene Attraktivität des Studiums, politische Orientierungen aus OECD und Europäischer Kommission, die in aller Regel die aus ihrer Sicht zu niedrige Akademikerquote in Deutschland kritisieren und Annahmen über die Informatisierung der Arbeitswelt, Hand in Hand.
Es gibt kaum ein Thema in der Bildungspolitik, das in einem größeren Spannungsfeld diskutiert wird als die Weiterbildung. Der Beraterkreis nimmt mit den Berufs-Bildungs-Perspektiven 2017 „Gute Arbeit braucht gute Weiterbildung“[9] die Debatte auf. Angesichts der Untätigkeit in Politik und Wirtschaft will der Beraterkreis damit Akzente für eine längst überfällige Debatte setzen. Denn: Jetzt muss gehandelt werden. Gute Arbeit braucht gute Weiterbildung! Das Memorandum stellt dabei drei analytische Bezüge in den Vordergrund: das Verhältnis von Weiterbildung und guter Arbeit angesichts der Digitalisierung der Arbeitswelt; die Bedeutung von Weiterbildung in Bezug auf den Erhalt und die Förderung beruflicher Handlungskompetenz sowie die Notwendigkeit „subjektorientierter Weiterbildung“, um Beschäftigte für Weiterbildung zu gewinnen und ihre Interessen stärker in den Mittelpunkt zu stellen
Die Digitalisierung der Arbeitswelt ist zugleich Ausdruck von technischen und organisatorischen Prozessen wie auch Ausdruck von unterschiedlichen arbeits- und gesellschaftspolitischen Interessen. Humane und qualifikationsförderliche Arbeit entsteht nicht im Selbstlauf und ist nicht zwingend im Interesse der Wirtschaft. Sie muss erstritten werden. Betriebliche und berufliche Weiterbildung sind dafür ein entscheidender Motor und sollten zentrale Themen der betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenpolitik sein.
Eng verbunden mit der Historie des Wissenschaftlichen Beraterkreises sind weitere gemeinsame Projekte von Wissenschaftlern und Gewerkschafterm – überwiegend – aus ver.di und IG Metall. So die Historie dieses online-Magazins denk-doch-mal.de, dessen ursprüngliches Redaktionsteam sich fast vollständig aus dem Umfeld des Beraterkreises bildete nicht als ein Ableger des Beraterkreises aber entsprungen der gleichen gewerkschaftlichen Idee, Positionen für gute Bildung ein Sprachrohr zu verschaffen. Mit der Ausgabe „Beruflichkeit“ in 2007 erstmals erschienen, verweist schon die Überschrift des Editorials in dieser Ausgabe „Ohne Berufe geht es nicht“, der Titel der ersten Berufsbildungsperspektiven des Beraterkreises, auf die Nähe zum wissenschaftlichen Beraterkreis.[10]
Eher ein Ableger des Beraterkreises ist das – mittlerweile eingestellte – gemeinsame Projekt von ver.di und IG Metall mit Wissenschaftler*innen des Beraterkreises sowie Arbeitsdirektoren den Gesprächskreis „Arbeitsdirektoren und Wissenschaftler“ zu gestalten. Ab 2008 hat dieser Arbeitskreis drei Empfehlungen für nachhaltige Personalwirtschaft herausgegeben.[11]
Gemeinsames Prinzip für die Gewerkschaften für die Einrichtung und Beteiligung an diesen Gremien ist der Wunsch, mit Themen weiterzukommen, mögliche Entwicklungspfade zu bestimmen, zukünftige Handlungsfelder aufzudecken sowie Positionen zu entwickeln und diese in die Öffentlichkeit zu tragen.
2. Das Verhältnis der Wissenschaft und der Gewerkschaften im Beraterkreis
Blickrichtung und der Zeithorizont der Arbeit von Wissenschaftler*innen und Gewerkschafter*innen unterscheiden sich, wie auch in dem Interview mit Sabine Pfeiffer, Uta Kupfer und Thomas Ressel (in dieser Ausgabe) deutlich wird. Dies führt dazu, dass die Zusammenarbeit nicht immer reibungsfrei erfolgt, aber ebenso wie die unterschiedliche Erkenntnisperspektive der Wissenschaftler im Beraterkreis produktiv aufgelöst wird, führen auch Reibungen zwischen Wissenschaft und Gewerkschaft zu einem Verständigungsprozess, von dem beide Seiten profitieren. Das ist nicht immer einfach für die koordinierenden Gewerkschafter, denn die Vorschläge und Empfehlungen der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen passen nicht immer in tradierte Denkmuster in den Gewerkschaften oder deren Beschlüsse. Das ist gewollt, denn ansonsten würde man ein solches Gremium nicht benötigen, aber es ist auch nicht immer einfach, dies in die Organisationen hinein zu vermitteln. Denn im Zweifel stehen wissenschaftliche Empfehlungen gegen demokratisch legitimierte Beschlüsse. Diesen Spagat auszuloten, ist beständige aber nicht immer einfache Aufgabe der den Beraterkreis begleitenden Gewerkschafter der IG Metall und der ver.di.
3. Wie kann es weitergehen?
Die beschriebene produktive Reibung gilt es zwar zu erhalten, andererseits kann es nicht darum gehen, diese immer wieder in die Bahn der Diskussion über Selbstverständnis und Unabhängigkeit zu führen. Dafür ist, und das nicht nur perspektivisch, sondern in naher Zukunft das „Provisorium“ Beraterkreis zu überwinden. Denn einerseits ist der Beraterkreis mittlerweile eine Institution in der politischen Landschaft, andererseits ist der formale Schritt von einer Arbeitsgruppe oder einem Gesprächskreis der Gewerkschaften zu einem eigenständigen Gremium noch nicht vollständig vollzogen, denn eine innere Struktur fehlt noch. Ein erster Schritt immerhin ist erfolgt, indem sich der Beraterkreis seit einigen Jahren auf einer eigenen Webseite präsentiert. Zukünftig sollte er auch seine inneren Prozesse, wie z.B. Gestaltung der Sitzungen, Festlegung der Themen und Schwerpunkte stärker selbst in die Hand zu nehmen und diese innere Struktur z.B. durch eine Sprecherin oder einen Sprecher stärken. Dies könnte aus gewerkschaftlicher Sicht durchaus den produktiven Diskurs erhöhen, wenn nicht mehr nur die Ausrichtung von Empfehlungen zu einem Thema, sondern die Auswahl der Themen selbst und deren Außendarstellung noch stärker durch den Beraterkreis selbst erfolgt. Auch hier gibt es bereits erste Entwicklungen. So hat der Beraterkreis für sich eine Erweiterung der Themenfelder über die unmittelbare Berufsbildung hinaus in den Blick genommen. Entsprechend sollen die Berufs-Bildungs-Perspektiven zukünftig als „Bildungsperspektiven“ erscheinen.
[1] So der Untertitel der zweiten Veröffentlichung – bzw. den ersten Berufs-Bildungs-Perspektiven „Bildung ist keine Ware- wir morgen arbeiten, leben und lernen wollen. Eine Streitschrift zur beruflichen Bildung“ https://wissenschaftlicher-beraterkreis.de/veroeffentlichungen/berufs-bildungs-perspektiven-2006/
[2] Ver.di/IG Metall (2004): Ohne Berufe geht es nicht. Die Reform des Berufsbildungsgesetzes braucht eine andere Leitidee. Wissenschaftler und Gewerkschaftler für eine innovative Reform, Berlin – Frankfurt
[3] https://wissenschaftlicher-beraterkreis.de/veroeffentlichungen/berufs-bildungs-perspektiven-2006/
[4] https://wissenschaftlicher-beraterkreis.de/veroeffentlichungen/berufs-bildungs-perspektiven-2008/
[5] https://wissenschaftlicher-beraterkreis.de/veroeffentlichungen/berufs-bildungs-perspektiven-2009/
[6] https://wissenschaftlicher-beraterkreis.de/veroeffentlichungen/berufs-bildungs-perspektiven-2010/
[7] https://wissenschaftlicher-beraterkreis.de/veroeffentlichungen/berufs-bildungs-perspektiven-2012/
[8] https://wissenschaftlicher-beraterkreis.de/veroeffentlichungen/berufs-bildungs-perspektiven-2014/
[9] https://wissenschaftlicher-beraterkreis.de/veroeffentlichungen/berufs-bildungs-perspektiven-2017/
[10] Entsprechend gab es auch Überlegungen, den wissenschaftlichen Beraterkreis und denk-doch-mal.de unter einem Dach zu vereinen.
[11] https://bildungspolitik.verdi.de/felder/weiterbildung/++co++7c128492-124e-11e4-a6fa-52540059119e