Gleichwertigkeit der beruflichen und akademischen Bildung und deren Stellenwert in der Gesellschaft – eine Positionsbestimmung
Prof. Dr. Peter F. E. Sloane (Universität Paderborn)
Ein Dauerbrenner in der deutschen Berufsbildungspolitik ist die Diskussion um die Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung. Man kann hier vortrefflich streiten, wenn man sich nur einige kleinere anekdotische Fälle vergegenwärtigt:
- Was unterscheidet einen Kunsthistoriker, der einen Master an der Hochschule macht, von einem Schreinermeister, der sich auf die Restauration von Biedermeier-Möbel spezialisiert hat?
- Warum kann jemand mit Bachelor-Abschluss, der ein sechssemestriges Studium in Ökonomie abgeschlossen hat, in ein Masterprogramm ‚Internationales Management’, wechseln, während man dies einer ‚Kauffrau für Büromanagement’ eher nicht ermöglicht?
- Warum sind ehemalige Bank- und Sparkassenschulen heute Business-Schools, die englischsprachige Kurse anbieten und gelten dabei zum Teil als akademische Kaderschmieden?
Ich möchte diese Fälle um zwei persönliche Erfahrungen ergänzen:
- Ich war in früheren Jahren Lehrer an einer Fachschule (Meisterschule); einige meiner Schüler und Schülerinnen entwickelten den Wunsch, zusätzlich ein Studium zu absolvieren. Sie zeigten etwas, was man in der Pädagogik ‚Bildungsaspiration‘ nennt. Sie wollten lernen und Neues ausprobieren. Es waren in der Regel Absolventen mit hervorragendem fachlichem Wissen und praktischen Fähigkeiten, sowohl im Berufsfach als auch in der Betriebswirtschaftslehre und der Berufs- und Arbeitspädagogik. Ich erinnere mich an einem Fall: ein junger Bäckermeister und selbstständiger Unternehmer unternahm das Abenteuer und schrieb sich an einer Fachhochschule ein. Nach einem Jahr kehrte er frustriert zurück und schilderte mir, dass er vollkommen versagt hätte. Er sei nicht in der Lage gewesen, die Anforderungen zu bewältigen. Und dies, obwohl er vieles von dem, auf das das Fachhochschulstudium ihn vorbereiten sollte, im alltäglichen beruflichen Handeln schon längst zeigte.
- Ein von mir sehr geschätzter Kollege und langjähriger Lehrstuhlinhaber für Chemie sagte mir einmal, dass ein gelernter Chemielaborant einem Abiturienten in Bezug auf das Chemiestudium um Jahre voraus sei, da dieser zum einen über alle Erfahrungen verfüge, die Studentinnen und Studenten der Chemie sich erst in Praktika neben dem Studium erwerben müssten und zugleich in der Lage wäre, die praktischen Abläufe mit den theoretischen Konzepten zu unterlegen, die in der Hochschule gelehrt werden.
Vorbemerkung
Diese Beispiele sollen aufzeigen, wie kompliziert letztlich das Verhältnis von allgemeiner und beruflicher Bildung zueinander ist. Man muss sehr genau unterscheiden, ob man über den Erwerb von Berechtigungen spricht oder ob es um konkrete Lernwege geht oder um allgemeine Ansprüche an und Wertvorstellungen über Bildung. Folglich gibt es auch nicht eine einfache und eindeutige Antwort auf Fragen zur Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung. Vielmehr sind sehr viele Differenzierungen nötig.
Ich möchte daher im Folgenden drei Fragen aufwerfen, die m. E. aus den obigen Beispielen ergeben:
- Warum gibt es überhaupt einen Unterschied von beruflicher und akademischer Bildung? Wie haben sich diese Systeme in Deutschland entwickelt? Warum grenzen sie sich ab?
- Welche besonderen Chancen bietet gerade die berufliche Bildung gegenüber der allgemeinen Bildung und als mögliche Vorbereitung auf ein Studium? Ist eine Abgrenzung beruflicher Bildung gegenüber der akademischen vielleicht sogar sinnvoll?
- Welche Konsequenzen hat der Anspruch, dass berufliche Bildung auch einen Zugang zur Hochschulbildung schaffen soll? Oder ist dies gar eine Diskussion, die an den eigentlichen Problemen vorbeiführt?
Analyse des deutschen Status Quo
(1) Die Unterscheidung von beruflicher und akademischer Bildung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen
Berufliche und akademische Bildung haben sich historisch betrachtet in Deutschland getrennt voneinander entwickelt:
- Akademische Bildung wurde als höhere Bildung angesehen, die in den Hochschulen verankert war. Genau genommen handelte es sich eigentlich um eine berufliche Bildung, denn es ging soziologisch betrachtet um die Rekrutierung von Beamten, Lehrern oder Geistlichen. Im 19. Jahrhundert fand eine Ausdifferenzierung akademischer Fächer statt, wobei ein neuhumanistisches Bildungsideal, insbesondere im Rückgriff auf antike und mittelalterliche Vorbilder (septem artes liberales) etabliert wurde. Diese wurden in pädagogische Programme überführt, was vorrangig zur Etablierung und Stabilisierung des neuhumanistischen Gymnasiums als Ort führte, ‚an dem die Leitideen bürgerlicher Erziehung umgesetzt werden’. Zugleich entwickeln sich die modernen Naturwissenschaften. Man kann gerade hier sehen, dass es Bezüge zur Berufsbildung gibt; so gab es beispielsweise an der Universität Jena (Salena, später Friedrich-Schiller-Universität) eine enge Kooperation zwischen Wirtschaft und Hochschule, die sich in der Gründung von Unternehmen (Zeiss, Schott) durch Universitätsprofessoren zeigte. Hier wurde akademische Bildung sehr handwerklich interpretiert.
Dies führte zu starken Impulsen in Ökonomie und Technik. Die Naturwissenschaft verpflichtet sich einem Rationalitäts- und Erkenntnisanspruch. So gesehen ist die moderne Hochschule durchaus unterschiedlichen Denk- und Handlungsstrategien verpflichtet, gleichwohl sie sich als Einheit (Universitas) begreift. Dieser immanente Bruch zeigt sich z. B. in der Ablehnung des Neo-Humanismus durch renommierte Naturwissenschaftler. Im 20. Jahrhundert versteht sich Hochschule als Ort der Erkenntnisgewinnung. Forschungskompetenz wird zum Bildungsziel akademischer Bildung.
- Die Entwicklung der Berufsbildung hingegen ist gerade in Deutschland die Folge einer restaurativen Politik Bismarcks. Berufsbildung wurde als Möglichkeit gesehen, die deutsche Jugend in der Zeit zwischen dem Abschluss der Volksschule und der Aufnahme des Wehrdienstes i. S. des damaligen Gesellschaftsverständnisses ‚staatsbürgerlich zu bilden‘. Hierbei wurde auf die Modelle der Sonntagsschule und auf schon bestehende Fachschulen zurückgegriffen, die wiederum das Ziel hatten, qualifizierte Fachkräfte zu fördern. Erst im 20. Jahrhundert wurden dann Fach- und Berufsschulen gegründet und Verbindungen zwischen schulischen und betrieblichen Bildungsmaßnahmen hergestellt. Diese eher regional verankerten Maßnahmen wurden dann in den 30er Jahren, im Nationalsozialismus, im Rahmen eines nationalen dualen Systems vereinheitlicht. Im Nachkriegsdeutschland wird Berufsbildung im Grundgesetz als Recht der Wirtschaft verankert, Entscheidungen über Inhalte, Ziele, aber auch Prüfungsmodalitäten zu treffen. Im neo-korporativen Gesellschaftsvertrag Deutschlands führt dies dazu, dass die Sozialpartner über Berufsbildung entscheiden und berufliche Handlungskompetenz Zielgröße beruflicher Bildung wird.
Diese etwas weitführende und zugleich immer noch verkürzte Darstellung soll deutlich machen, dass drei Logiken das Verhältnis von beruflicher und akademischer Bildung in Deutschland (auch heute noch) rahmen:
- Es gibt ein neohumanistisches Bildungsideal, welches im 19. Jahrhundert begründet ist und zur Herausbildung eines sehr stabilen gymnasialen Bildungsweges geführt hat, der sich in einem klassischen Fächerkanon niederschlägt. Bis heute wird höhere Bildung, ohne Bezug zu Technik und Ökonomie gedacht.
- Die Hochschule als Ort akademischer Bildung ist weitgehend dem Selbstverständnis der Erkenntnisgewinnung verpflichtet, gleichwohl ihre fachliche Heterogenität eigentlich keine wirkliche, gemeinsam von allen geteilte Vorstellung von Erkenntnis (siehe unten) zulässt. Dies begründet aber trotzdem ihr Bildungsverständnis, nämlich die Verpflichtung Forscher und Forscherinnen auszubilden.
- Berufsbildung etabliert sich in Deutschland als Ort zivilgesellschaftlicher Bildung und entwickelt sich historisch zu einem System der Generierung und Weiterentwicklung beruflicher Kompetenzen und zwar im Rahmen eines gesellschaftlichen Bildungsauftrags.
Diese Traditionen bzw. Entwicklungslinien zementieren berufliche und akademische Bildung als zwei sehr starke und eigenständige Bildungsstränge. Der Einfluss des neo-humanistischen Bildungsideals, welches sich letztlich mit dem Forschungsanliegen von modernen Hochschulen nicht unbedingt deckt, hat sich gleichsam in der Idee gymnasialer Bildung als besondere Form allgemeiner Bildung mehr oder weniger zu einem monolithischen Block verdichtet, der den Zugang zur akademischen Bildung dominiert.
Gleichzeitig gibt einige historisch interessante Beispiele für ‚Zwischenwelten’ – also für die Entwicklung von Bildungseinrichtungen zwischen beruflicher und akademischer Bildung:
- Bereits im 18. Jahrhundert wurden sogenannte ‚Handlungs-Akademien‘ u. a. in Hamburg gegründet, die zum Teil in Fach- und Handelsschulen aufgingen, teilweise aber auch, gerade in Skandinavien (Bergen) und im Baltikum (Tallinn, Vilnius), Vorläufereinrichtungen von Hoch- bzw. Fachhochschulen sind. Ein ähnliches Beispiel ist das Bauhaus, welches explizit handwerkliche und technische Entwürfe zum Gegenstand von Architektur und Gestaltung machte, die sich gleichermaßen in beruflichen (z. B. Fachschulen im Kunsthandwerk) und in akademischen Einrichtungen (z. B. Bauhaus-Universität Weimar) wiederfinden.
- Ende des 19. Jahrhunderts wurden Technische Hochschulen und Handelshochschulen gegründet (u. a. in Deutschland, Österreich, Norwegen), die anfänglich nicht den Status einer Universität hatten. Deren Aufgabe war es, eine ‚handlungswissenschaftliche‘ Ausbildung zu leisten, die auf Ingenieurskunst und höhere kaufmännische Bildung abzielte. Hieraus sind im 20. Jahrhundert Universitäten und im 21. Jahrhundert Excellenzuniversitäten geworden. Hier hat sich berufliche Bildung akademisiert.
(2) Die besonderen Möglichkeiten beruflicher Bildung in einem kanonisierten Schulsystem
Aus den obigen Überlegungen wird deutlich, dass sich letztlich zwei unterschiedliche Lebenswelten etabliert haben, die verschiedene historische Entwicklungslinien aufweisen und die vielfach durch gegenseitige Abschottung, offene wie verdeckte, gekennzeichnet sind.
Dabei gibt es wohl eine gesellschaftliche Vorstellung von der Höherwertigkeit akademischer Bildung gegenüber beruflicher Bildung, die sich historisch v. a. in der Abschottung akademischer Bildung gegenüber beruflicher Bildung niederschlägt und sich lebenspraktisch darin zeigt, dass Lernleistungen, die beispielsweise im beruflichen Kontext von Menschen erbracht werden und sich in Kompetenzen niederschlagen, nicht anerkannt werden.
Dies hängt damit zusammen, dass eine solche Anerkennung, entgegen konkreter Vorgaben wie sie im Europäischen Qualifikationsrahmen formuliert werden, nicht über die faktisch vorhandene Kompetenz und deren Messung, sondern über eine gesellschaftliche Bewertung der absolvierten Bildungsgänge vorgenommen wird. Das erworbene Zertifikat entscheidet, nicht die tatsächlich vorhandene Fähigkeit.
Gleichzeitig schotten die Interessenvertreter der beiden Systeme ihre Bildungsstränge voneinander ab, zumindest verdeckt, indem sie deren Besonderheit herausstellen und eine formale Gleichwertigkeit innerhalb der Bildungsgänge des eigenen Stranges herstellen. Dies zeigt sich unmittelbar im Deutschen Qualifikationsrahmen bzw. im Deutschen Hochschulqualifikationsrahmen. Dort werden alle Bachelorstudiengänge einheitlich in der Stufe sechs und alle Bildungsgänge der dualen Berufsausbildung in der Stufe vier eingeordnet.
Die jeweils gemeinsame Einordnung in eine Stufe begründet sich formal aus der Idee heraus, dass es unabhängig vom jeweiligen Fachgebiet eine strukturell bestimmbare ‚Expertise‘ gäbe, die eine Gleichwertigkeit jeweils begründet. Wenn man bedenkt, dass es um konkrete Kompetenzen gehen soll, die sich in der Bewältigung von Aufgaben und Problemen niederschlagen (sogenannte ‚Outcome‘- oder ‚Kompetenzorientierung‘), so fehlt dieser Annahme jegliche empirische Basis, da es zurzeit kaum verlässliche Verfahren gibt, solche Fähigkeiten überhaupt festzustellen. Unabhängig davon wird die Zuordnung letztlich, wie schon oben gezeigt, über den jeweiligen Bildungsstrang definiert, indem eine Vereinbarung zwischen gesellschaftlichen Gruppen vorgenommen wird, die besagt, dass jeder Absolvent eines Bildungsganges innerhalb des Strangs mutmaßlich eine Fähigkeit auf einer bestimmten Stufe des Qualifikationsrahmen habe.
Dies bleibt solange unproblematisch, bis nicht über Qualifikationsrahmen Übergänge und Gleichwertigkeit behauptet werden. Damit verlagert sich das Problem von der Systemebene auf die Ebene individueller Lebensläufe. Kann man, wenn man einen bestimmten Abschluss, z. B. in der beruflichen Bildung erreicht hat, in einen weiteren, gleich- oder höherwertigen Bildungsgang, z. B. an einer Hochschule wechseln? Wenn man dies tut, was wird ggf. aus dem vorhergehenden Bildungsgang angerechnet?
Die Systembetrachtung – abgeschlossene Bildungsgänge als Signal für einen erfolgreichen Kompetenzerwerb – legt eine formale Anerkennung nah. Auf der Ebene des praktischen Lebens geht es aber um den Wechsel von einer Lern- und Arbeitskultur in eine andere. Hier zerbricht dann auch der Expertiseansatz des Deutschen Qualifikationsrahmens, denn man kann Expertise eben nicht unabhängig von einem Fachgebiet formulieren. Expertise, als letztlich intuitive Fähigkeit Probleme sachgerecht zu lösen, ist immer an die Besonderheit eines Fachgebiets gebunden. Daher wäre zwar die Expertise einer Bäckereifachverkäuferin strukturell vergleichbar mit der Expertise einer Feinmechanikerin oder einer Altenpflegerin, jedoch sind die Problemstellungen, an denen sich Expertise zeigt, sehr unterschiedlich und dokumentieren sich u. a. in unterschiedlichen Ausprägungen von Handlungskompetenz, etwa in einer unterschiedlichen Betonung sozialer Kompetenzen, der Methodenkompetenz usw.
Dies wiederum ist aber wichtig, wenn es darum geht, die Anschlussfähigkeit zwischen den jeweiligen Lern- und Arbeitskulturen in den beruflichen und den akademischen Bildungsgängen zu betrachten.
Eine Betrachtung der Anschlussfähigkeit macht es zudem erforderlich, die Lernanforderungen in den jeweiligen Lernräumen ‚Hochschule‘ und ‚Berufsbildung‘ genauer in den Blick zu nehmen. Hier hilft es dann auch nicht weiter, von der Hochschule und der Berufsbildung zu sprechen. Letztlich geht es um die Lernerfahrungen, die man in konkreten Bildungsgängen – in der Hochschule wie in der Berufsbildung – gemacht hat.
So werden in der akademischen Welt sehr wohl unterschiedliche methodische und fachliche Kompetenzen gefördert, je nach dem in welcher Fachrichtung man sich bewegt. Gleiches gilt für die Berufsbildung, wie schon oben angedeutet wurde.
In der heutigen Hochschuldidaktik wird i. d. R. das ‚Konzept des forschenden Lernens’ betont, bei dem es darum geht, Studierende zu befähigen, Probleme zu erkennen und zu beschreiben, wissenschaftliche Lösungswege zu entwickeln und zu erproben und die so gewonnenen Ergebnisse kritisch mit anderen Ergebnissen des Faches zu vergleichen. Das handlungsorientierte Lernkonzept in der beruflichen Bildung behauptet strukturell das Gleiche, geht es doch im beruflichen Lernen darum, Arbeitsprozesse selbständig zu planen, durchzuführen und zu überprüfen, wobei von unterschiedlich problemhaltigen Arbeitsaufgaben ausgegangen wird. Beide Lernkonzepte lassen sich über die Expertiseforschung begründen.
Die Unterschiede zeigen sich oft in der Fachsprache, oft in den verwendeten mathematischen Modellen und in der jeweils unterschiedlichen Ausrichtung auf ein Erkenntnisziel (Hochschule) oder ein Arbeitsziel (Berufsbildung). Hinzu treten zeitliche Faktoren einer sehr konzentrierten und eigenständigen Arbeit in der Hochschule im Vergleich zu einer Kleingruppenarbeit im Beruf mit ggf. höherem Betreuungsanteil durch Ausbilder.
Man kann im Übrigen diese Lernkulturunterschiede auch im Vergleich von gymnasialer und beruflicher Bildung feststellen. Nicht umsonst war berufliche Bildung immer auch durch die Ausrichtung des Bildungsanspruchs auf berufliche Zusammenhänge eine sehr probate Möglichkeit, allgemeine Bildungsabschlüsse wie die fachgebundene oder allgemeine Hochschulreife nachzuholen. Berufliche Bildung war und ist immer eine ‚zweite Chance’ gewesen, nämliche eine Alternative gegenüber tradierten Schulerfahrungen, weil sie eben eine andere und vertiefte Orientierung an realen Lebenswelten zulässt.
Daher kann es durchaus als nicht hilfreich angesehen werden, wenn man zu ausschließlich der Idee nachhängt, eine Verbindung zwischen beruflicher und akademischer Bildung dadurch herbeizuführen, dass man die berufliche Bildung akademisiert und stärker an die Vorgaben gymnasialer Bildung anlehnt. Diese Gefahr ist beispielsweise durch die Einführung von Bildungsstandards gegeben, da man dabei dazu neigt, die fachwissenschaftlichen Modelle der Kompetenzmessung auf die beruflichen Fachgebiete anzuwenden. Der Vorteil beruflicher Bildung, gerade als Nachholbildung, besteht nämlich darin, mit dem Berufsbezug eine Alternative zum traditionellen Fächerkanon anzubieten.
Schließlich kann noch festgehalten werden, dass moderne berufsdidaktische Konzepte durchaus anschlussfähig sind an die Hochschulausbildung und dass diese nicht wirklich zwingend an akademische Bildung angepasst werden müssen. Allerdings bedarf es zuweilen einer Brückenfunktion in der Weise, dass sie besser in die wissenschaftliche Sprache und Methodik der jeweiligen Wissenschaften einführen müssten. Beispiele von Lehrbeauftragten aus beruflichen Schulen an den Hochschulen zeigen im Übrigen, dass dies gut funktioniert. Dies wäre aber etwas, was m. E. von der beruflichen Schule geleistet werden kann und sollte.
(3) Berufsbildung als Zugang zur akademischen Bildung oder als Alternative zur akademischen Bildung
Es zeigt sich ein Bruch zwischen Gestaltungsüberlegungen auf einer Systemebene und den tatsächlichen sinnvollen Handlungsoptionen auf individueller Ebene. Systemisch zeigt das deutsche Modell sowohl beruflicher als auch akademischer Bildung eine Tendenz zur vordergründigen Gleichwertigkeit der Bildungsgänge, was sich im Qualifikationsrahmen in einer Containerbildung von Bildungsgängen in Stufen zeigt. Alle akademischen Studiengänge werden als Bachelor- resp. Masterstudiengang gleichbehandelt, alle Bildungsgänge der dualen Berufsausbildung sind gleichwertig zueinander.
Ein indirekter Vergleich ergibt sich dann über den Arbeitsmarkt und über die jeweiligen Berufschancen der Absolventen, deren Einstiegsgehälter und Karriereoptionen und weniger über die Einstufung im Qualifikationsrahmen. Im wirklichen Leben zeigt sich zunehmend, dass Absolventen studentenstarker Studiengänge in die Arbeitsplätze vordringen, auf die früher eine Ausbildung vorbereitet hat. Die Hochschulen haben nicht unbedingt die Selbstwahrnehmung, dass sie auf diese Art von Tätigkeit vorbereiten und in diesem Sinne eigentlich auch berufliche Bildung anbieten. Dies ist im angelsächsischen Raum durchaus üblich, nur dass es dort gar kein formalisiertes und institutionalisiertes System beruflicher Bildungsgänge gibt, was wohl auch erklärt, warum im Europäischen Qualifikationsrahmen vom Leitziel der Employability ausgegangen wird, was genau genommen für den Vergleich von akademischer und beruflicher Bildung eher irritierend ist. So ist ein britischer Bachelor eher ein Berufsabschluss als ein Studienabschluss, sodass im britischen Modell Hochschulen auch Maßnahmen zum Übergang in den Arbeitsmarkt anbieten.
Im deutschen System zeigt sich schließlich die Tendenz, dass Bildungsgänge, die entstanden sind, um eine höhere Form beruflicher Bildung zu ermöglichen, sich historisch betrachtet anscheinend akademisieren. Dies wurde schon am Beispiel der Technischen Hochschulen und Handelshochschulen gezeigt. Ein anderes Beispiel wäre die Gründung von Fachhochschulen. Aufgrund der römischen Verträge, die eine Gründung von berufsbezogenen Hochschulen im damaligen EWG-Raum vorsahen, wurden in den späten 1960er Jahre die höheren Wirtschaftsfachschulen und die Ingenieurschulen in Fachhochschulen überführt, mit einem Bildungsauftrag, der sich eigentlich an die berufliche Bildung anschloss. Eine ähnliche Entwicklung findet man bei den Verwaltungsschulen, an denen früher Berufsschullehrer unterrichteten; diese wurden ebenfalls in Fachhochschulen überführt. Aus Lehrkräften wurden dann Dozenten und Professoren. In den 1970er Jahre traten neue Graduierungsregeln in Kraft, die Hochschul- und Fachhochschulabschlüsse angleichen sollten. Die Bologna-Reform führte schließlich dazu, dass es ein gemeinsames Stufenmodell für die Studiengänge gibt und dass Akkreditierungen gemeinsam von Fachhochschul- und Hochschullehrern vorgenommen werden sollen. Dauerthema war zudem das Promotionsrecht für die Fachhochschulen einzuführen, was im Moment konkret in Nordrhein-Westfalen über ein sogenanntes ‚Promotionskolleg‘ der Fachhochschulen umgesetzt wird.
Dies soll keine Bewertung darstellen, es dient lediglich der Feststellung, dass Bildungsgänge und Bildungseinrichtungen in Deutschland dem Trend folgen, sich als akademische Einrichtungen zu etablieren. Wenn sie dabei den Bezug zur beruflichen Bildung behalten, wäre das durchaus ein Erfolg, da sie dann den traditionellen Hochschulen in der Tat ein alternatives Lern- und Bildungskonzept entgegensetzen können. Durch die Übernahme von Normen und Ansprüchen der Hochschule, insbesondere sichtbar in der Graduiertenförderung, besteht aber gewissermaßen die Gefahr, sich von der beruflichen Bildung zu entfernen.
Dieses Driftingphänomen betrifft auch andere Bildungsgänge der beruflichen Bildung. So wurden die Berufsakademien den Fachhochschulen gleichgestellt. Zurzeit wird über die ErzieherInnen-Ausbildung diskutiert, die formal der Stufe sechs des Qualifikationsrahmens zugeordnet wird und ggf. irgendwann den Fachhochschulabschlüssen gleichgestellt wird.
Konsequenzen für das Verhältnis beruflicher und akademischer Bildung
Es ist ein Ausdruck von Bildungsgerechtigkeit, wenn es für Absolventen der beruflichen Bildung möglich wird, einen Zugang zu akademischen Bildungsgängen zu haben.
In Deutschland existieren mit der beruflichen und akademischen Bildung zwei in vielen Bereichen zueinander abgeschottete Systeme. Mögliche Gleichheiten und Übergängen zwischen den Systemen lassen sich formal bestimmen. Die formale Möglichkeit muss aber tatsächlich ermöglicht werden. Es reicht nicht aus, den Übergang zu ‚erlauben’, vielmehr müssen auch die Möglichkeiten geschaffen werden, dass ein Bildungsaspirant diesen Übergang bewältigen kann.
Dies kann z. B. im berufsschulischen Angebot verankert werden, was aber bedeuten würde, dass neben der Abstimmung des Berufsschulunterrichts mit der betrieblichen Ausbildung auch eine Vorbereitung auf eine akademische Bildung stattfindet. Dies wäre nicht nur in den Lehrplänen und Ausbildungsordnungen zu verankern, sondern müsste zudem auch mit den Betrieben konkret abgestimmt werden. Ob dies dort gewollt wird, wäre kritisch zu prüfen.
Die Gleichwertigkeitsdiskussion zwischen beruflicher und akademischer Bildung kann aber nicht nur unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, ob und in welcher Form ein Wechsel von der beruflichen Bildung in die akademische Bildung möglich wird. Dies schreibt die verdeckte Hierarchie der beiden Systeme, die m. E. besteht, auf Dauer fort.
Es muss zur Kenntnis genommen werden, dass akademische und berufliche Bildungsgänge in einem gewissen Umfang Menschen auf jeweils gleiche oder zumindest ähnliche Berufs- und Arbeitswelten vorbereiten. Eine solche outcome-orientierte Betrachtung zeigt, dass berufliche Bildung und akademische Bildung jeweils eigenständige Möglichkeiten sein können, um auf das berufliche Leben vorbereitet zu werden. Es kann dabei nicht von einer Überlegenheit des Akademischen gegenüber dem Beruflichen ausgegangen werden. Leider wird der Vergleich zwischen den Bildungsmöglichkeiten der jeweiligen Systeme über implizite Bildungsideen überformt, die einen rationalen Vergleich erschweren. Statusüberlegungen sind dabei vielfach wichtiger als objektiv vorhandene und unterscheidbare didaktische Möglichkeiten der jeweiligen Lernangebote.
Die moderne Arbeitswelt ist durch stete Veränderungen der jeweiligen Arbeitsanforderungen gekennzeichnet. Gerade die Digitalisierung führt dazu, dass kognitive Fähigkeiten, Selbständigkeit, Eigenverantwortung, die Fähigkeit im Team zu arbeiten etc. an Bedeutung gewinnen. Traditionelle Arbeitsabläufe verändern sich, die Forderungen nach selbständigen Lern- und Entwicklungsfähigkeiten usw. nehmen zu. Dies Anforderungen werden als externe Vorgaben sowohl an die akademische als auch an die berufliche Bildung herangetragen; es ist daher eigentlich zu fragen, wie in den jeweiligen Systemen auf diese veränderten Anforderungen eingegangen wird.
Die Analyse zeigt m. E., dass in der Vergangenheit berufliche Bildungswege akademisiert wurden. Dies ging einher mit der Verlagerung dieser Bildungsgänge aus der Berufsbildung in die Hochschulbildung. Im nächsten Schritt passen sich diese Bildungsgänge, die dann als neue Hochschultypen etabliert werden, den Ordnungsvorstellungen des akademischen Bildungsstranges an, wiederum mit der Folge, dass der Zugang für bestimmte Zielgruppen, für die es eigentlich leichter werden sollte, eine höhere Bildung zu erhalten, eigentlich schwieriger wird.
Daher stellt sich zukunftsorientiert die Frage, wie in der Berufsbildung und in der Hochschulbildung jeweils hierauf eingehen können.
Die Berufsbildung hat hier den Vorteil, in den Veränderungsprozess, der aktuell stattfindet, aktiv eingebunden zu sein. Die Digitalisierung führt aber zugleich dazu, dass mehr methodische Expertise gefordert wird, wobei wiederum die Stärke des Systems darin besteht, diese methodische Expertise für spezifische Fachgebiete zu entwickeln.
Die Hochschulbildung hat sicherlich den Vorteil, methodengetrieben zu sein; ihr Problem ist aber häufig, die konkreten Umsetzungsbeispiele nur auf dem Papier vermitteln zu können. Hier würde in bestimmten Studiengängen (Betriebswirtschaftslehre, Ingenieursstudiengänge, Sozialpädagogik usw.) ein verstärkter lebenspraktischer Bezug, wie ihn die Berufsbildung vermittelt, hilfreich sein.
Zwischen Hochschulbildung und Berufsbildung haben sich historisch immer wieder Bezüge und Wechselwirkungen ergeben. I. d. R. waren erhöhte Anforderungen an die berufliche Tätigkeit der Ausgangspunkt, um eine Akademisierung zu betreiben, und zwar durch die Gründung von Fachschulen, Akademien usw. Im historischen Prozess wurden aus diesen Institutionen akademische Einrichtungen. Mit diesem Wechsel ist vielfach die Übernahme der Normen und Ansprüche akademischer Bildung verbunden, die die Gefahr in sich trägt, dass sich das Bildungsangebot von der beruflichen Bildung entfremdet.
Ein berufsbezogener Hochschultypus scheint trotzdem geboten. Ob dies in den aktuellen Modellen (Fachhochschule, Akademie usw.) ausreichend gegeben ist, wäre zu prüfen. Vorstellbar ist aber auch einen neuen berufsbezogenen Hochschultyp zu entwickeln, der viel stärker auf die beruflichen Bildungsgänge abgestimmt ist.
Es wurde versucht zu zeigen, dass berufliche Bildung eine wichtige kompensatorische Funktion in der Gesellschaft hat und dass sie für bestimmte Lerntypen ein alternatives Bildungskonzept zur Verfügung stellt. Die Annäherung an die akademische Bildung ist unter diesem Gesichtspunkt nicht wirklich zielführend, da damit auch die Gefahr verbunden ist, dass diese kompensatorische Funktion nicht mehr wahrgenommen werden kann.
Daher ist es wichtig, dass die berufliche Bildung ihr eigenständiges Profil beibehält. Eher wäre zu fragen, ob es innerhalb der Hochschulbildung nicht auch Bereiche gäbe, die sich umgekehrt der beruflichen Bildung anpassen müssten.
Innerhalb der Hochschulen muss eine Diskussion um den Bildungsauftrag der Hochschule geführt werden. Hochschulen definieren sich zunehmend und ausschließlich aus einem sehr verengten Modell von Forschungsexzellenz, die international sichtbar sein muss. Einzelne Fächer entwickeln dabei zum Teil Fachkulturen (Publikationsstrategien, Journalorientierung usw.), die zunehmend Bildungsangebote profilieren, die weit weg sind von möglichen beruflichen Umsetzungen. Dies ist in den Fächern aber sehr unterschiedlich.
Hochschulen wären zurzeit kaum in der Lage, berufliche Lehr-/Lernarrangements, wie sie von beruflichen Schulen und Betrieben oder in Fachschulen und Akademien umgesetzt werden, zu realisieren. Dies scheitert nicht nur an der hochschuldidaktischen Kompetenz, sondern v. a. an den Ressourcen, die zur Verfügung stehen. Auch hier gäbe es daher gute Gründe, für veränderte Kooperationsmodelle.
Im Gesamtzusammenhang von beruflicher und akademischer Bildung stellt sich daher abschließend auch die Frage, ob die akademische Bildung sich in einem bestimmten Umfang der beruflichen Bildung anpassen müsste. Hiermit sind weiterführende Fragestellungen und Überlegungen verbunden.