Digitale Bildungsprozesse in der beruflichen Bildung

Volker Freudenberger (Mitglied im Unterausschusses Berufsbildungsforschung des Bundesinstituts für Berufsbildung)

Der Einsatz von digitalen Lernmedien in beruflichen Bildungsprozessen scheint heutzutage als opportun – wer dies nicht macht, gilt als old school. Stimmt diese einfache Formel, oder muss man tiefer einsteigen?

Die Diskussion über den Einsatz von digitalen Lernmedien in der beruflichen Aus- und Weiterbildung hat, bedingt durch die Corona-Pandemie, eine neue Dynamik erfahren. Das ausbildende Personal stand plötzlich, ohne Vorbereitung, vor der Aufgabe, die betriebliche Aus- und Weiterbildung auf digitalem Weg zu beschreiten. Aus der Not heraus wurden digitale Lernumgebungen eingerichtet. Erfahrungen mit Distanzunterricht entstanden beim direkten doing. Über mediendidaktische Kompetenzen haben zu diesem Zeitpunkt die Wenigsten verfügt. So ist in den letzten zwei Jahren häufig ein Konglomerat aus der Nutzung von digitalen Kommunikationsmedien, dem Einsatz von Präsentationen für die Unterweisungen usw. entstanden. Ein pädagogisch-didaktisches Konzept für den Einsatz von digitalen Lernmedien konnte in der Kürze der Zeit meistens nicht erarbeitet werden.

Die digitale Transformation bewirkt, dass Informations- und Kommunikationstechnologien zunehmen und sich dadurch ein Wandel der Arbeit vollzieht. Dieser Wandel beeinflusst den Einsatz von Medien und Methoden in der betrieblichen Bildungsarbeit (vgl. Diettrich u.a. 2021). Erste Studien zeigen, dass durch den Einsatz von digitalen Lernumgebungen teilweise ein pädagogisch-didaktischer Mehrwert entstehen kann. Digitale Lernumgebungen können durch die Ermöglichung von eigenständiger Arbeit und selbstständigem Lernen motivierend wirken und die Selbstlernkompetenz fördern (vgl. Borbe, 2022). Grundsätzlich ist aber festzuhalten, dass digitale Lernumgebungen nicht aus sich heraus analogen Lernumgebungen überlegen sind. Wird aber durch eine digitale Lernumgebung ein Mehrwert für Lernende erreicht, dann kann man diese als gelungen bezeichnen. Im pädagogischen Sinne kann ein solcher Mehrwert z.B. durch die Flexibilisierung von Lernort und Lernzeit erzielt werden. Die Flexibilisierung hat dabei das Potenzial, selbstreguliertes und individuelles Lernen zu fördern (vgl. Dreer 2008).

Es stellt sich aber die Frage, ob in der beruflichen Aus- und Weiterbildung das didaktische Potenzial digitaler Lernmedien ausgeschöpft wird, um die Lehr- und Lernprozesse optimal zu unterstützen. Die mediendidaktische Kompetenz des Ausbildungspersonal spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Sie müssen in der Lage sein, für den Einsatz von digitalen Lernmedien ein passendes pädagogisches Konzept zu entwickeln. Dabei kommt es nicht darauf an, die neuste Spitzentechnologie einzusetzen, sondern es müssen die richtigen Lernmedien für den Lerngegenstand ausgewählt werden. Dabei geht es nicht nur um die zur Verfügungstellung von Inhalten. Darüber hinaus sollten die verschiedenen Lernorte in die digitale Lernumgebung eingebunden werden. Die Potenziale von digitalen Medien wirken am stärksten, wenn sie in Lehr- Lernarrangements eingebunden sind, die Präsenzphasen mit digitalen Lernphasen kombinieren. Wichtig ist ein konsequenter Methodenmix. Dies fordert vom Bildungspersonal ein didaktisch-methodisches Wissen sowie ein ganzheitliches berufliches Bildungsmanagement (vgl. Cattaneo, 2022).

Bei allen Überlegungen müssen die Lernenden im Blick behalten werden. Der Einsatz von digitalen Medien ist dann besonders lernförderlich, wenn der Lernprozess von den Lernenden selbst gesteuert werden kann. Dabei stellen die Selbststeuerung und Mediennutzung eine hohe Anforderung an die Lernenden. Selbstgesteuertes Lernen wird als ein zielgerichteter mehrdimensionaler Prozess verstanden, bei dem Lernende objektiv vorhandene didaktische Entscheidungs- und Handlungsspielräume für ihr Lernen subjektiv erkennen, beherrschen und nutzen. Für das selbstgesteuerte Lernen sind vor allem Methodenkompetenzen und personale Kompetenzen erforderlich (vgl. Müller 2021). Es ist also notwendig, dass das Bildungspersonal Lernende bei der Entwicklung dieser Kompetenzen besonders unterstützt, denn nicht alle verfügen über eine ausreichende Selbstlernkompetenz. Diese Kompetenzentwicklung kann durch digitale Lernpfade gefördert werden, wenn ein selbstgesteuerter und aktiver Lernprozess individuell auf Lernende abgestimmt ist (vgl. Dehnbostel 2010).

Digitale Lernmedien bereichern den beruflichen Bildungsprozess und unterstützen Lernerfolge, wenn sie in ein pädagogisch-didaktisches Konzept eingebunden sind. Hierbei ist es von besonderer Bedeutung, dass sie für den Lerngegenstand geeignet sind und den individuellen Lernbedürfnissen der Lernenden entsprechen. Die Lernförderlichkeit von digitalen Lernangeboten ist dann gegeben, wenn sie ein selbstgesteuertes Lernen unterstützen und eine möglichst große Autonomie zulassen. Autonomie erfüllt ein Grundbedürfnis für die intrinsische Motivation und kann sich positiv auf die Lernmotivation auswirken (vgl. Deci/Ryan 1993).

Der Einsatz von digitalen Lernmedien in Bildungsprozesse der beruflichen Bildung stellt einen hohen Anspruch an das Bildungspersonal. Gefordert sind Kenntnisse über die unterschiedlichen digitalen Techniken und Lehrmittel sowie mediendidaktische Kompetenzen, um die neuen Möglichkeiten in pädagogisch-didaktische Konzepte einzubinden. Die beschriebenen Veränderungen und Herausforderungen an das betriebliche Bildungspersonal führen zu einer notwendigen Professionalisierung im berufspädagogischen Handeln des Bildungspersonals (vgl. Freudenberger 2016). Die medienpädagogischen und fachdidaktischen Kompetenzen des Bildungspersonals müssen über niederschwellige Qualifizierungsangebote gefördert werden. Dies trifft im besonderen Maße auf die große Zahl der ausbildenden Fachkräfte zu.

Betriebe sind aufgefordert für das Bildungspersonal Anreize zu schaffen, um die Teilnahme an pädagogischen Qualifizierungsmaßnahmen zu unterstützen. Die Ausbildungsanforderungen sind komplexer geworden und bedingen eine ständige Weiterbildungsbereitschaft des Ausbildungspersonals, um die eigenen Kompetenzen an die dynamischen Veränderungen anzupassen.

Borbe, V. (2022): Wie es gelingen kann. Beispiele für den Einsatz digitaler Lernumgebungen im schulischen Kontext. In: Kasper, K./Becker-Mrotzek, M./Hofhues, S./König, J./Schmeinck, D.(Hrsg.): Bildung, Schule, Digitalisierung. Münster, 457-463.

Cattaneo, A. (2022): Digitales Lernen: Nutzen wir wirklich alle Möglichkeiten? Überlegungen zur Integration von Technologien in die Berufsbildung. In: BWP 51. Jahrgang 2022, Heft 2. Bonn, 8-12.

Deci, E./Ryan, R.M.: Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 39 (1993) 2, S. 223-238.

Dehnbostel, P. (2010): Betriebliche Bildungsarbeit. Kompetenzbasierte Aus- und Weiterbildung im Betrieb. Hohengehren 2010.

Diettrich, A./Faßhauer, U./Kohl, M. (2021): Konsequenzen von Digitalisierung und neuen Arbeitsformen für das betriebliche Bildungspersonal. In: Kohl, M./Diettrich, A./Faßhauer, U. (Hrsg): „Neue Normalität“ betrieblichen Lernens gestalten. Konsequenzen von Digitalisierung und neuen Arbeitsformen für das Bildungspersonal. Bonn, 17-33.

Dreer, S. (2008): E-Learning als Möglichkeit zur Unterstützung des selbstgesteuerten Lernens an Berufsschulen. In: MedienPädagogik. Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 1-25. Online: https://www.medienpaed.com/article/view/218 (16.10.2022)

Freudenberger, V. (2016): „Ausbildungsreife“. Anforderungen an die Berufsausbildung der nachwachsenden Generation. Hintergründe der berufsbildungspolitischen Diskussion. München 2016.

Müller, H. (2021): Selbstgesteuertes Lernen und Fähigkeiten – ein symbiotisches Konzeptpaar. In: Dyrna, J./ Riedel, J./ Schulze-Achatz, S./ Köhler, T. (Hrsg): Selbstgesteuertes Lernen In der Beruflichen Weiterbildung. Ein Handbuch für Theorie und Praxis. Münster, 333-345

Autor

  • Volker Freudenberger

    Volker Freudenberger hat eine Berufsausbildung zum Chemielaboranten absolviert und war in der Forschung und Entwicklung tätig. Danach wechselte er in eine leitende Funktion der Aus- und Weiterbildung eines internationalen Unternehmens der chemisch-pharmazeutischen Industrie. In dieser Funktion war er war für die Ausbildung von ca. 120 Auszubildende in naturwissenschaftlichen Berufen, dual Studierende und die Weiterbildung von Mitarbeitenden zuständig. Berufsbegleitend absolvierte er die Weiterbildung zum Berufspädagogen und studierte anschließend Bildungswissenschaften an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter in Kooperation mit dem Rudolf Steiner University College, Oslo im Schwerpunkt pädagogische Praxisforschung und betriebliche Berufspädagogik. Abschluss als Master of Education. Er ist Mitglied im Unterausschusses Berufsbildungsforschung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und in verschiedenen Beiräten von Forschungsprojekten des BIBB und Bildungsexperte der IGBCE.