Weiterbildungsmentor*innen:
Subjektorientierte Weiterbildungsförderung durch Arbeitnehmer*innenorientierung
Tim Vollmer (Masterstudium der Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt a.M.)
aus „Betriebliche Weiterbildung: Aspekte und Potentiale einer Arbeitnehmer*innenorientierung zur Förderung einer höheren und chancengleicheren Weiterbildungsbeteiligung am Beispiel der Weiterbildungsberatung“ Tim Vollmer, Masterthesis, Frankfurt a.M., 2020.
Bedarf und Umriss von Arbeitnehmer*innenorientierung in der betrieblichen Weiterbildung
Die Partizipation an betrieblicher Weiterbildung scheitert heute trotz der anhaltenden Diskussion um deren individueller und gesellschaftlicher Relevanz – Stichwort digitale Transformation – auf verschiedenen Ebenen: So z.B. aufgrund institutioneller Schranken, wie dem finanziellen Aufwand, aufgrund sozialer Strukturen, wie dem Bildungsstand und Hintergrund sowie aufgrund individueller motivationaler Faktoren (Reich-Claassen, 2010). So ergibt sich folgendes Bild: Zwar ist die Relevanz der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung weitestgehend unbestritten und erfährt im Angesicht gesellschaftlicher Veränderungsprozesse noch eine Steigerung. Gleichzeitig entspricht die Weiterbildungsbeteiligung insgesamt nicht den (politischen) Zielsetzungen. Von einer mehrheitlich positiven Einstellung gegenüber Weiterbildung und deren Relevanz lässt sich nicht auf eine breite tatsächliche Weiterbildungsteilnahme schließen („Weiterbildungsparadox“). Diese variiert unter bestimmten Merkmalsgruppen zudem besonders stark. In den statistischen Erhebungen zeigen sich seit Jahrzehnten stabile Muster der ungleichen Beteiligung an berufsbezogener Weiterbildung (BIBB, 2018), die der DGB 2019 als Zeugnis einer „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ bezeichnete (Anbuhl, 2019).
Als Gründe können eine Reihe von Faktoren gelten: die unzureichende Weiterbildungsstruktur, die Ökonomisierung der Weiterbildung in Denkmustern und Struktur, der auf Anpassung enggeführte „Feuerwehrcharakter“ (Bahnmüller, 2005) sowie damit in Teilen korrelierenden Motivations- und Lernhemmnissen („lebenslang Lernen müssen, statt können“ (Hufer, 2014), „Weiterbildungsdruck“ (Bolder, Dobischat, & al., 2017), „Sinnlosigkeitssyndrom“ (Faulstich, 2013), „Sackgassencharakter“ (Walter, 2014). Weiterbildungsabstinenz kann vor dem Hintergrund der verschiedenen Faktoren, weniger ein Defizit oder „irrationales Handeln“, sondern Ausdruck aktiven und nachvollziehbaren Handelns (Gnahs, 2016) sein.
Die unzureichende Weiterbildungsteilnahme lässt sich insofern auf das Zusammenwirken von Fremd- und Selbstselektionsprozessen, die von individuellen und strukturellen Einflussfaktoren bestimmt werden, zurückführen (Iller, 2017). Vielfach finden Bildungsangebot und Beschäftigte nicht zusammen, auch dann nicht, wenn Hürden wie die Finanzierung beseitigt, die Konzepte der Personalplanung professionalisiert, die Schulungskonzepte pädagogisch vorbereitet und die Notwendigkeit bei allen Beteiligten unbestritten ist.
Angesichts angestrebter Gleichheit bei Bildungschancen und gleichwertigen Lebensverhältnissen (vgl. Grundgesetz Art. 3 Abs. 3) wirft dies Fragen nach sozialer bzw. Bildungsgerechtigkeit auf. Obwohl die Weiterbildungsstrukturen ausgebaut wurden und diverser geworden sind, setzen sich die ungleichen Zugänge zu Weiterbildung in der „Gleichzeitigkeit von Bildungsexpansion und sozialer Ungleichheit von Bildungschancen“ (Gillen et al., 2010) und trotz langjähriger Forderungen nach mehr Gleichwertigkeit, Durchlässigkeit und Chancengleichheit fort (Walter, 2014). Statt der (erwünschten) kompensatorischen Funktion der Weiterbildung zu sozialer Integration (Bremer, 2007), zeigt sich, indem die Weiterbildungsaktivität durch (Erst-) Ausbildung und sozialen Status (mit-) bestimmt wird, dass Weiterbildung soziale Selektivität noch verstärkt (von Hippel & Tippelt, 2005), vgl. auch Matthäus-Prinzip „Wer hat, dem wird gegeben“. Gesellschaftliche Veränderungen, höhere Bildungsaspirationen in der Bevölkerung und eine Reihe von bildungspolitischen Interventionen und Reformprogrammen haben an diesem Umstand wenig geändert (Iller, 2017).
Die kritische Reflexion dieser Befunde rückt daher die Frage in den Fokus, wie der vielfach benannte Bedarf lernförderlicher Arbeitsbedingungen (Dehnbostel, 2008) (Gnahs, 2016) gedeckt werden kann und bereits bestehende Weiterbildungsstrukturen umfänglicher genutzt werden sowie mehr Menschen intrinsisch für Weiterbildung motiviert werden können.
Antworten auf diese Fragen können in folgende Richtungen erfolgen: So fordern z.B. die Gewerkschaften GEW, IG Metall und ver.di ein Recht auf Weiterbildung mit rechtlich garantierten Lernzeiten, sicherer Finanzierung, mehr Beratung und Transparenz, besserer Qualitätssicherung und Zertifizierung (GEW; ver.di; IG Metall, 2017). So besteht bei den konkreten Weiterbildungsmaßnahmen sowie bei Personal, Beratung etc. der Bedarf eines höheren finanziellen Engagements der öffentlichen Hand.
Neben diesen institutionell-organisatorischen Stellschrauben, harten Faktoren, die teilweise im Zuge der von Bund, Ländern, Wirtschaft, Gewerkschaften und der Bundesagentur für Arbeit ausgearbeiteten und 2019 beschlossenen Nationalen Weiterbildungsstrategie (NWS) adressiert werden sollen – Transparenz, Information, Qualitätssicherung, Zertifizierung -, existieren jedoch weiterhin Leerstellen, die etwa mit den o.g. Mitteln (bisher) nicht ausgefüllt werden können bzw. erklärbar sind. Zeichen dieser Leerstellen sind etwa die nur unzureichend genutzten Instrumente der Weiterbildungsförderung wie Bildungsurlaub und Freistellung, nicht abgerufenen Mittel für Weiterbildung sowie insbesondere aus gewerkschaftlicher Perspektive ernüchternd das Nutzen von Tarifverträgen – trotz einer in Deutschland beinahe flächendeckend tariflichen Regelungsdichte für betriebliche Weiterbildung und tarifvertraglicher Freistellungsansprüche. Gleiches gilt für das Niveau von Betriebsvereinbarungen, welches nicht automatisch ein hohes Niveau der Weiterbildungspraxis bedingt (Baethge-Kinsky, Baethge, & al., 2003). Auch der Faktor geringe Lernmotivation – gerade aufgrund von geringen Selbstwirksamkeits- und „Benefit“-Erwartungen – wird offensichtlich unzureichend adressiert, während stattdessen bereits weiterbildungsmotivierte Zielgruppen erreicht werden (Pfeiffer, et al., 2019). Die Selbstwirksamkeitserwartung, also „die subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungssituationen auf Grund eigener Kompetenz bewältigen zu können“ (Schwarzer & Jerusalem, 2002) zu steigern, erscheint insofern als wichtige Aufgabe, will man die Motivation zur Partizipation an Weiterbildung fördern.
Dies begründet einen hier im Folgenden skizzierten und notwendigen Perspektivenwechsel bzw. Ergänzung im Sinne einer verstärkten Arbeitnehmer*innenorientierung. Ziel ist dabei, Stellschrauben zu identifizieren, um den Zugang und die Attraktivität der Weiterbildung für bisher weniger weiterbildungsaffine Menschen zu steigern und diese aktiver in die Prozesse miteinzubeziehen. Dabei orientieren sich die Ausführungen am Begriffsinhalt einer „am Lebenszusammenhang orientierten Kompetenzentwicklung, die subjektives, an die individuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen geknüpftes Wissensmanagement ermöglicht“ (Hendrich & Bolder, 2002). In dieser kommt die Entwicklung der Persönlichkeit, Beschäftigungsfähigkeit und Teilhabe an der Gesellschaft zum Ausdruck. Eine Engführung auf den Aspekt der Humanressourcen soll vermieden werden.
Denn: In der Praxis zeigt sich, je subjektorientierter, also je individueller auf die konkreten Lebens- und Erwerbssituationen zugeschnitten die Weiterbildungsmaßnahmen sind, desto geringer erscheint der häufig latente Widerstand gegen diese (Hendrich & Bolder, 2002). Insofern liegt es nahe, die Betroffenen, also die lernenden oder auch nicht lernenden Subjekte in den Fokus zu rücken. Weiterbildung müsste insofern über betriebliche Begründungen hinaus persönliche und auch mehrdimensionale Wirkung entfalten, da ein Großteil der bestimmenden Faktoren für Weiterbildungsverhalten auf persönliche Nutzenerwartung zurückzuführen sind.
Aspekte einer Subjektorientierung
Zentraler Aspekt der Subjektorientierung bei der Weiterbildungsplanung ist die Berücksichtigung der subjektiven Interessen und Bedürfnisse und Lernbegründungen als „zentrale Kategorien“ (Allespach, 2004), die sich aus dem Kontext der individuellen Lebenswelt ergeben (Faulstich & Ludwig, 2004). Lerninhalte sollten daher dem Kriterium der „Viabilität“ genügen, d.h. sie sollten zweckmäßig, passend, auch emotional zumutbar erscheinen, um motivierend zu wirken (Siebert, 2006, S. 151) [vgl. „expansives Lernen“ (Bolder, Dobischat, & al., 2017) (Ludwig, 2005)]. Kosten-Nutzen-Relationen gelten schließlich als die wichtigsten Regulative der Weiterbildungsbeteiligung (Reich-Claassen, 2010).
Eine Subjektorientierung bedeutet dabei nicht nur die alleinige Inbetrachtnahme der individuellen Interessen, sondern den Einbezug der Individuen als aktiv mitgestaltende, mitentscheidende und mitverantwortende Subjekte (Klingberg, 1990). Durch diesen Einbezug kann Lernmotivation durch individuelle Sinnstiftung geschaffen werden. So zeigt sich der eingeschätzte Nutzen im Rahmen freiwilliger, d.h. auch intentionaler und auch privater Weiterbildung bei Arbeitnehmer*innen positiver, als bei verpflichtenden und von den Arbeitgeber*innen initiierten Maßnahmen (Baethge & al., 2018). Folglich ist bzw. sollte Weiterbildung mehr als nur Anpassung und „bloße Zurichtung der Beschäftigten für den Arbeitsprozess“ (Novak & Allespach, 2008) oder Strategie zur Vermeidung möglicher individueller Beschäftigungs- und Verdienstrisiken sein (Bahnmüller, 2005), sondern auch auf die Entwicklung des ganzen Menschen zielen. Als persönliche Entwicklungspotenziale erkennend, entwickelnd und so weit wie möglich auch realisierend, könn(t)en berufliche und betriebliche Weiterbildung eine „emanzipatorische Dimension“ entfalten (ebd.).
Formuliert wird hier eine Stärken- statt einer Defizitorientierung. Anstatt einer fortwährenden Anpassung gilt es den Blick in die Zukunft zu werfen und den Prozess der Weiterbildung offen(er) zu gestalten: „Bildung ist wesentlich auch Entwicklung von Eigensinn, von Wissens- und Urteilsvorräten, die nicht immer unmittelbar anwendungsfähig sind“ (Negt, 2015). Lernen als kritisch verstandener Begriff kann so die „Reiz-Reaktions-Konstruktion“ der Anpassung überwinden (Faulstich, 2013).
Im Sinne der Ausbildung einer umfassenden beruflichen Handlungsfähigkeit (Gillen et al., 2010) bzw. „modernen Beruflichkeit“ (IG Metall Vorstand, 2014), sollte eine fachlich breite Qualifikation dazu befähigen, unterschiedliche berufliche Anforderungen über einzelne Arbeitsplätze, Betriebe und Branchen hinaus bewältigen zu können und das berufliche Profil einschätzen und schließlich mitgestalten und weiterzuentwickeln zu können. In Bezug auf die Weiterbildung bedeutet dies, dass die Arbeitnehmer*innen befähigt sein sollen bzw. werden, sich selbstständig im partiell unübersichtlichen Feld Weiterbildung zurechtzufinden und in einer Arbeitsgesellschaft 4.0 selbstbestimmt den eigenen Weg zu gehen (Schroeder, Bayer, & al., 2018).
Beschäftigte soll(t)en hierzu ihre Arbeitsbedingungen reflektieren, die sozialen und ökologischen Folgen von Erwerbsarbeit erkennen, Arbeitnehmer*innenrechte wahrnehmen und zwischen persönlichen, betrieblichen und gesellschaftlichen Interessen differenzieren können. Oskar Negt spricht in diesem Zusammenhang von einer Doppelbedeutung von Lernen und Bildung als sachlicher Kompetenzerwerb einerseits und als Reflexion über den subjektiven und gesellschaftlichen Ist-Zustand und Entwicklungsziele andererseits (Negt, 2015).
An die Fähigkeit der Reflexion knüpft eine individuelle Regulationsfähigkeit als Ausdruck selbstständigen Gestaltens an (Schiersmann, 2007). Diese zielt auf die Kompetenz zur Selbstbehauptung des Individuums unter den Bedingungen zunehmender Komplexität und Unsicherheit der Lebens- und Arbeitszusammenhänge (ebd.). Als Ziel kann gelten, die „relative Autonomie menschlichen Handelns“ gegenüber „dominierenden Imperativen von Macht und Markt“ zurückzugewinnen, bestehende Zwänge wahrzunehmen und mitunter zurückzuweisen (Faulstich, 2004).
Den Subjekten wird daher im Rahmen der Subjektorientierung die Fähigkeit zugesprochen, eigenständig auf soziale Bedingungen und Einflüsse reagieren und sich mit diesen auseinander setzen zu können (Scheer, 2010). So wird auch in der Subjektorientierung der Einsatz der individuellen Mitgestaltungs- und Veränderungskraft der Subjekte gefordert (Werner, 2013). Die Subjekte sollen die (zu schaffenden) Zugänge zu Weiterbildung auch wahrnehmen und so ihre eigenen Bildungsbiografien gestalten können (Gillen et al., 2010). Hierfür bedarf es jedoch Rahmenbedingungen, die die Chancen zur Teilhabe – gerade den weniger Weiterbildungsaffinen – erst eröffnen. Zu diesem Zweck bieten sich verschiedene flankierende Unterstützungsstrukturen an.
Handlungsfeld subjektorientierte Weiterbildungsberatung
Als lösungsorientierter Teilaspekt bzw. „zentrales Element“ der Subjektorientierung kann (subjektorientierte) Weiterbildungsberatung gelten. Da trotz „konzeptionellem Dauerhochs“ (Gnahs, 2016) keine eindeutige Theorie von Beratung für Weiterbildung existiert, wird die im Folgenden skizzierte Beratung idealtypisch entwickelt.
Bereits der Deutsche Bildungsrat von 1970 bezeichnete Beratung im Rahmen seiner Diskussionen zur Bildungsreform als „Strukturelement des Bildungswesens“ (Bolder, Dobischat, & al., 2017). So wird die Beratung sowohl in der NWS (BMBF & BMAS, 2019), als auch in der Forschung als Instrument identifiziert, das insbesondere die Partizipation wenig weiterbildungsaffiner Menschen an Weiterbildung fördern könnte, bzw. soll(te) (Robak, 2017).
Empirische Daten stützen diese These: Bei Personen, die eine Beratung zu individuellen Weiterbildungsmöglichkeiten wahrgenommen haben, lag die Chance für eine Beteiligung an Weiterbildung zuletzt rund zwei Mal so hoch, wie unter Personen, die keine Beratung wahrgenommen haben (AES18, 2019). Außerdem äußerte ein gutes Viertel der Befragten (24%) den Wunsch nach mehr Information und Beratung. 29% der Befragten gaben an, zu wenig über Weiterbildung und deren Möglichkeiten zu wissen (ebd., S. 68). Bestehende Beratungsangebote werden dahingehend vermehrt wahrgenommen: 2018 nahmen mit 31% signifikant mehr Menschen Informations- oder Beratungsangebote über die eigenen Weiterbildungsmöglichkeiten wahr, als im Jahr 2016 mit 24 % (ebd., S. 5). Bedarf, Bedürfnis, Nutzung und Nutzen von Beratung sind also vorhanden. Beratung per se stellt allerdings noch keinen ausreichenden Schlüssel zu mehr Weiterbildungsaktivitäten dar. Deren Erfolg hängt maßgeblich von ihrer Form und Ausrichtung ab (Schiersmann 2007). Öffentliche Angebote zeigen sich etwa häufig als zu pragmatisch, effizient und an schneller Vermittlung orientiert, ohne die Orientierungs-, Planungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der Ratsuchenden mit nachhaltigen Angeboten grundlegend zu verbessern (Engel & Nestmann, 2012).
Als Grundannahme aus subjektorientierter Perspektive kann daher gelten, dass es erforderlich scheint, Kommunikationsformen zu schaffen, in denen die Lerninteressen der Beratenen systematisch geäußert und berücksichtig werden (Holzkamp, 2004). Insofern gilt es im Rahmen der Beratung ein Verständnis für expansive Lernbegründungen zu entwickeln, also solchen, die die individuelle berufliche und persönliche Weiterentwicklung sowie die Erweiterung der subjektiven Handlungsfähigkeit zum Ziel haben (Ludwig, 2005).
Beratung stellt dabei eine Form der Flankierung dar, die die Adressat*innen bei ihrer Entscheidungsfindung unterstützt. Der Terminus Flankierung verweist darauf, dass die Individuen auf dem Weg zu einer Entscheidung unterstützend beraten, nicht aber von dieser entbunden werden. Die am Ende des Beratungsprozess stehenden Entscheidungen sollen die Arbeitnehmer*innen noch immer eigenverantwortlich treffen (Käpplinger, 2015).
Als Voraussetzung einer subjektorientierten Beratung erscheint eine erhöhte Zielgruppenorientierung als Eingehen auf die pluralisierten Wünsche und Erwartungen der verschiedenen Milieus sinnvoll. Pauschale Beratungsangebote bzw. undifferenzierte Adressat*innenorientierung trügen die Gefahr, dass die „üblichen Verdächtigen“ diese annehmen, während die eigentliche Zielgruppe der Weiterbildungsabstinenten nicht im gewünschten Sinne erreicht würde: Die Inanspruchnahme der bestehenden Beratungsstellen geschieht bereits sozial selektiv, Zielgruppen wie bildungsferne Bevölkerungsgruppen werden trotz der häufig implizierten Orientierung an diesen nicht überdurchschnittlich viel erreicht (Schiersmann, 2007).
Für die Zielgruppen der weiterbildungsabstinenten Menschen empfiehlt sich daher eine aufsuchende und personenbezogene Beratung. Die personenbezogene Weiterbildungsberatung hat auch das Ziel, den von Anbieter*innen- und Angebotspluralismus geprägten Weiterbildungsmarkt für potenzielle Teilnehmende transparenter zu machen und Orientierung zu stiften. Hier gilt es also, die Weiterbildungsmöglichkeiten durch sachliche Informationsvermittlung in den Betrieben besser bekannt zu machen und insbesondere auch die Wahrnehmung von etablierten Programmen, wie die Bildungsprämie oder gesetzliche Bildungszeit durch einen höheren Bekanntheitsgrad zu steigern. Zum anderen kann die Beratung durch „reflexive Problembearbeitung“ bei der Bedarfsanalyse die Weiterbildungsbereitschaft erhöhen (Schiersmann, 2007), indem sie dabei unterstützt, individuelle Interessen, Qualifikationen und Fähigkeiten zu erkennen, zu reflektieren und ggf. zu aktualisieren. Hierin wird der vermittelnde Charakter von (Weiterbildungs-) Beratung deutlich.
Mit Blick auf die Subjektorientierung empfiehlt sich ein Ansatz, der Problemverhalten- und Lebenslagen sowohl mit Blick auf die Lebenswelt der Menschen als auch auf die sozialen, ökonomischen, räumlichen und kulturellen Bedingungen betrachtet (Engel & Nestmann, 2012). Statt bloßer Appelle zu mehr Weiterbildung, die durch fehlenden Bezug zum Subjekt von diesem weniger akzeptiert würden, gilt es mit den Subjekten gemeinsam mögliche Schritte entlang persönlicher Bedarfe und Bedürfnisse zu entwickeln.
Diese „subjektorientiere Intervention“ sollte auf einem ethisch-normativen, demokratischen Grundverständnis, das die Autonomie der Beschäftigten wertschätzt, aufbauen (Käpplinger, 2015), um Orientierung im Spannungsfeld zwischen Freiwilligkeit und Selbstbestimmung einerseits sowie normativem Druck und strukturellen Zwängen andererseits zu bieten (Reich-Claassen, 2010). Entscheidungsfreiheit und Freiwilligkeit als „beratungsethische Grundlagen“ müssten unbedingt bewahrt bleiben (Engel & Nestmann, 2012). Beratung kann so zum „Möglichkeitsraum“ werden, in dem die Subjekte ihre eigenen Kompetenzen und Entwicklungsinteressen im Rahmen des betrieblichen Umfelds erkennen und einordnen lernen (Bahnmüller, 2005)(vgl. Reflexionskompetenz). Der entscheidende Schritt liegt ausdrücklich auch in der Befähigung, den identifizierten Qualifizierungsbedarf benennen und aktiv vertreten zu können. Hier wird ein „emanzipatorisch empowermentorientiertes Beratungsselbstverständnis“ deutlich (Engel & Nestmann, 2012), durch welches Arbeitnehmer*innen den Arbeitswandel mitgestalten können, statt lediglich fremdbestimmte Vorgaben zu akzeptieren (Bolder & Hendrich, 2000).
So kann sich die Beratung als ein entscheidender Faktor bei der Beseitigung subjektiv wahrgenommener Hinderungsgründe erweisen, indem den Beschäftigten eine Haltung vermittelt wird, die Veränderungen nicht oder nicht nur als Bedrohung empfinden lässt, sondern die Selbstwirksamkeit im beruflichen Bereich fördert (Würfel, 2019). Dies gilt sowohl für die mögliche Initiierung der Maßnahme, als auch für deren erfolgreiche Umsetzung. Da der erwartete Nutzen zentrale Einflussgröße für die Bereitschaft einer Weiterbildungsmaßnahme bleibt, zeigt sich das Potential der Beratung, individuelle Entwicklungsmöglichkeiten im Rahmen der Beratung vermitteln zu können. Die seit den 80er Jahren „explizit oder implizit stark von einem Defizitmodell geprägte“ Lernberatung und zögerliche Abkehr von dieser (Schiersmann, 2007), ginge so in einem neuen Aufgabenfeld, der „Kompetenzentwicklungsberatung“ (ebd., S. 239) auf, die statt Potentiale und Stärken statt Defizite in den Mittelpunkt stellt.
Modellprojekt gewerkschaftliche Weiterbildungsmentor*innen
Als empirischer Anwendungsfall für die Weiterbildungsberatung als Instrument einer verstärkt subjektorientierten Weiterbildung wird im Folgenden das Projekt (gewerkschaftlicher) Weiterbildungsmentor*innen der IG Metall, das seit 2015 läuft, vorgestellt und auf seine Eignung als Modelltyp überprüft. Zwar werden projektspezifische Eigenheiten dargestellt. Mit Blick auf die erörterten Problemlagen und mögliche Lösungsstrategien können diese größtenteils jedoch auch als allgemeine Bezugspunkte gelten.
Gewerkschaftlicher Auftrag und Ursprünge
Die Herausforderungen der gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitswelt zu bewältigen bzw. zu gestalten, ist auch eine Aufgabe der Gewerkschaften. Die dargestellten Problemlagen deuten auf den dem gewerkschaftlichen Selbstverständnis entlehnten Auftrag hin, dass alle Beschäftigten auf allen Qualifikationsebenen berufliche Entwicklungschancen haben sollten. Insofern gilt es, sozialen Ungleichheiten im Weiterbildungssektor entgegenzuwirken und den Zugang aller gesellschaftlicher Gruppen zu Weiterbildung sicherzustellen. So soll allen Menschen die Teilhabe an beruflicher und persönlicher Weiterentwicklung eröffnet bzw. bewahrt bleiben.
Allerdings: Der gewerkschaftliche Einfluss auf das Feld der Weiterbildung ist anders als der institutionell verankerte Einfluss der Sozialpartner*innen auf die Gestaltung der beruflichen Erstausbildung (noch) nicht allzu groß. Die Gewerkschaften haben sich zwar stets mit Fragen der Weiterbildung beschäftigt. Aufgrund der langewährenden Haltung, dass der Weiterbildungssektor bzw. dessen Auf- und Ausbau primär Aufgabe des Staates seien, hat es allerdings längere Zeit wenig eigeninitiatives Handeln gegeben (Bahnmüller, 2005). Auch unter dem Eindruck der im vorangegangenen geschilderten Problemlagen haben sich die Gewerkschaften jedoch in den letzten Jahren vermehrt dem Thema Weiterbildung zugewandt. So sei deutlich geworden, dass „humane und qualifikationsförderliche Arbeit“ erstritten werden müssten und betriebliche und berufliche Weiterbildung hierfür ein geeignetes Feld der betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenpolitik seien (Bolder, Dobischat, & al., 2017). Beruflich organisierte Weiterbildung sei schließlich eine Voraussetzung für ‚Gute Arbeit‘, für betriebliche Mitbestimmung und gesellschaftliche Partizipation und daher ein zentrales gewerkschaftliches Handlungsfeld. So haben die Gewerkschaften im Rahmen von Tarifverträgen Besserungen für die Mitarbeiter*innen gemeinsam mit den Tarifpartnern vereinbaren können. In vielen Tarifgebieten konnte beispielsweise der Anspruch auf Qualifizierungsgespräche garantiert werden.
Mit dem im Ursprung bereits 2015 angestoßenen Projekt der gewerkschaftlichen Weiterbildungsmentor*innen ist die IG Metall unmittelbar im Feld der Beratung im Bereich betrieblicher Weiterbildung aktiv geworden. Vertrauensleute und Betriebsrät*innen sollen als Weiterbildungsmentor*innen in der Weiterbildungsberatung tätig werden. Ursprung und Konzept des Projekts sind dabei einerseits auf den skizzierten gewerkschaftlichen Auftrag und die Problemlagen zurückzuführen: Aus Sicht der Projektverantwortlichen seien die bisherigen Ansätze, berufliche Weiterbildung den Personalabteilungen oder externen Beratern zu überlassen wenig erfolgreich gewesen, insbesondere in Bezug auf die weniger weiterbildungsaffinen Mitarbeiter*innen (Knüttel, Ferrando, & Ewald, 2018). Zudem sind in der Elektro- und Metallindustrie überdurchschnittlich viele An- und Ungelernte tätig, während sich gerade dort die Qualifikationsanforderungen aufgrund der Veränderungen im Arbeitsprozess besonders niederschlagen (Bauer & Koring, 2008). Andererseits wurden Erkenntnisse der wissenschaftlichen Diskussion, den alltäglichen Erfahrungsberichten aus den Betrieben sowie Entlehnungen bestehender Konzepte in das Mentor*innenprofil aufgenommen.
Bei der innerbetrieblichen Promotion von Weiterbildung wurde sich auch am englischen Vorbild der seit 2002 aktiven union learning representatives (ULR) orientiert. ULRs sollen die Bedeutung von Weiterbildung in den Betrieben bekannt machen, beim Lernen und der Organisation der Weiterbildung unterstützen und das Lernen am Arbeitsplatz verankern (Unionlearn by Trade Union Congress, 2019). Diese konnten 2013/14 etwa 220.000 Beschäftige mit 3.500 ausgebildeten URL‘s erreichen (Ewald & Ferrando, 2019). Die Mentor*innen können in Anlehnung an ähnliche Projekte darüber hinaus an in der Praxis erfolgreich erprobten „Brückenmenschen“ anknüpfen (Bremer 2015, S. 67). Diese bauen durch ihre soziokulturelle Verankerung in der jeweiligen Zielgruppe vertrauensvolle Beziehungen zu den Angehörigen der Zielgruppe auf. Orientierung bietende Beratungsprogramme existieren schließlich auch im öffentlichen Sektor, bspw. mit der Beratung zur beruflichen Entwicklung (BBE) in Nordrhein-Westfalen. Die Beratung in NRW-weit verteilten Beratungsstellen setzt an den Kompetenzen und Potenzialen der Ratsuchenden an, unterstützt bei der Entwicklung beruflicher Ziele, der Auswahl von Weiterbildungsangeboten sowie der Umsetzungsschritte bei Finanzierung und der Bewältigung persönlicher Belastungen (Bläsche & al., 2017).
Ein zusätzliches Motiv aus gewerkschaftlicher Sicht ist schließlich die Möglichkeit, mit dem Mentor*innenprogramm die innerbetriebliche und gewerkschaftliche Arbeitnehmer*innenvertretung aufwerten zu können. Für die „häufig nur auf dem Papier“ stehenden Vertrauensleute (Prott, 2006) und Betriebsrät*innen wird ein konkretes Handlungsfeld erschlossen, in das sie als neue Akteur*innen eingeführt werden. Von einer intensivierten Arbeit dieser profitiert schlussendlich auch die Gewerkschaft in Form gestärkter und sichtbarer Präsenz in den Betrieben.
Profil und Arbeitsweise der Mentor*innen
Für die Rolle der Mentor*innen sind die Vertrauensleute und Betriebsrät*innen in den Betrieben vor Ort vorgesehen. Voraussetzung für die Implementierung ist insofern eine bestehende örtliche Struktur der betrieblichen Interessenvertretung. Ein Widerspruch zwischen den beiden Gruppen aufgrund der strukturellen Konkurrenzsituation von ehrenamtlichen Vertrauensleuten und mit besonderen betrieblichen Sicherheiten ausgestatteten Betriebsrät*innen ergibt sich laut IG Metall aufgrund einer „selbstverständlichen“ und „engen Zusammenarbeit“ nicht (IG Metall, 2012). Außerdem bauen die Mentor*innen auf einer Vernetzungsstruktur zwischen Betrieb, IG Metall, der Arbeitsagentur und anderen Institutionen auf (Kaßebaum & Ferrando, 2019).
Die Mentor*innen werden von einem/ einer „Mentorencoach/-in“ vor Ort im Betrieb und zusätzlich im Rahmen eines (zunächst) einwöchigen Seminars an den Bildungsstätten der IG Metall auf ihre Rolle im Betrieb vorbereitet, eingebunden in die Betriebsbetreuung der jeweiligen Geschäftsstelle der IG Metall. Der Fokus liegt auf der berufsbezogenen Weiterbildung und nicht der „internen, klassischen Bildungsarbeit“ (Kaßebaum & Ferrando, 2019), wodurch die neue bzw. erweiterte Stoßrichtung der gewerkschaftlichen Tätigkeit im Betrieb deutlich wird. Dazu lernen die künftigen Mentor*innen die betriebsinternen und externen Wege beruflicher Weiterbildung und Weiterbildungsstrukturen, eine umfängliche Beratungskompetenz sowie Fachkompetenzen zu Finanzierung, relevanten Tarifverträgen, Bildungsfreistellungsgesetzen und des Betriebsverfassungsgesetzes sowie Methoden der Qualifizierungsbedarfsermittlung kennen.
Als Betriebsrät*innen und Vertrauensleute bringen sie bereits bestehende Eigenschaften in ihre Tätigkeit mit ein: Sie kennen in ihrer Rolle als Mitarbeiter*innen das Unternehmen und die Strukturen vor Ort, sodass eine unternehmensspezifische bzw. an der betrieblichen Praxis orientierte Beratung möglich wird – vgl. Profil des/der Betriebscoach*In bei Jensen-K. & Gillen, 2005. Als Kolleg*innen, Betriebsrät*innen und Vertrauensleute kennen sie gleichzeitig die Arbeitnehmer*innenperspektive, wissen je nach Möglichkeit um Sorgen und Probleme in den Belegschaften. Auf diese Weise können unternehmerische Interessen und Bedarfe sowie individuelle Weiterbildungsinteresse und (ungenutzte) Qualifikationsreserven und Potentiale zusammenführt werden (Kaßebaum & Ferrando, 2019).
Im Zentrum der Mentor*innentätigkeit steht das Subjekt. Die Mentor*innen sollen grundsätzlich allen Mitarbeiter*innen bzw. Kolleg*innen im Betrieb im Rahmen eines niedrigschwelligen, arbeitsplatzbezogenen Beratungsangebot zur Verfügung stehen, zu Weiterbildung motivieren und bei der Umsetzung unterstützten (BMBF & BMAS, 2019). Die Mentor*innen arbeiten sowohl reaktiv als auch proaktiv aufsuchend. Sie sensibilisieren im Betrieb für die Bedeutung von Weiterbildung und erarbeiten mit den Beschäftigten potentielle Felder der persönlichen Weiterentwicklung. Dennoch bleibt die Freiwilligkeit der Beratung Grundbedingung, da diese unabdingbar für das Vertrauen und ein wirkliches Einlassen der Ratsuchenden auf die Beratung ist (Sickendiek, 2007).
Als Interessenvertreter*innen der Arbeitnehmer*innen nehmen die Mentor*inen als Vertrauensleute und Betriebsrät*innen ihre Rolle als „Kümmerer, Berater*innen, Mutmacher*innen“ auf (Knüttel, Ferrando, & Ewald, 2018). Eine u.U. als solche wahrgenommene Drohkulisse, wie es sie im Rahmen von Qualifizierungsgesprächen mit den disziplinarischen Vorgesetzten geben kann, wird so umgangen. So lastet weniger Druck auf der Beratungssituation. Vertrauensleute und Kolleg*innen begegnen sich auf Augenhöhe. Durch persönliche Ansprache und individuelle Begleitung können Ängste und Vorbehalte abgebaut werden. Durch die Vermittlung positiver Erwartungshaltungen kann pessimistischen, resignativen Einschätzungen entgegengewirkt werden (Schwarzer & Jerusalem, 2002).
Eine zentrale Aufgabe über die generelle Beratung hinaus ist die Vorbereitung für das jährliche Qualifizierungsgespräch der Mitarbeiter*innen mit den Verantwortlichen im Betrieb, welches in vielen Tarifverträgen verankert ist, z.B. im Tarifvertrag zur Qualifizierung in der Metall-und Elektroindustrie in Baden-Württemberg oder im Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst (TVöD). Zweck dieser Vorbereitung ist es, dass die Beschäftigten in den Qualifizierungsgesprächen in Reflexion ihrer persönlichen Situation, interessenbezogene Ziele für ihre persönliche berufliche Entwicklung formulieren können. Dazu zählt auch die Aufklärung über formale, etwa betrieblich vereinbarte Möglichkeiten der Durchsetzung dieser Ziele.
Die Betriebsrät*innen und Vertrauensleute bringen darüber hinaus aus betriebsorganisatorischer Sicht förderliche Eigenschaften mit. Betriebsrät*innen als Teil des Vertrauensleutekörpers haben Einblicke in die betriebsinterne Personal- und Bildungsplanung: Nach § 92 Abs. 1S. 1 BetrVG muss der Betriebsrat in allen Bereichen der Personalplanung rechtzeitig und umfassend unterrichtet werden. Dadurch erhalten die Betriebsrät*innen ggf. wichtige Informationen zu Personalentwicklung und Personalbedarfen. Um die Interessenlagen der Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen wissend, können die Mentor*innen eine Verknüpfung zwischen beiden Seiten herstellen. Durch §93a des Betriebsverfassungsgesetzes besitzt der Betriebsrat ein Vorschlagsrecht für Weiterbildungsmaßnahmen. Lediglich bei belastbaren Gründen können die Vorschläge des Betriebsrates abgelehnt werden. Auf diese Weise haben die Mentor*innen ein gesetzliches Instrument zur Umsetzung ihrer vorgeschlagenen Weiterbildungsmaßnahmen zur Hand. So können sie die „Volition“, also den Übergang von der hergestellten Motivation zur Handlung selbst (Siebert, 2006), begleiten. Auf der organisatorischen Ebene kommt den Mentor*innen bzw. Vertrauensleuten die Rolle als Betriebsrat zusätzlich insofern zugute, als dass der Betriebsrat die Beschlüsse zur Freistellung der Mentor*innen für ihre Arbeit als Mentor*innen fassen kann (§ 80 Abs. 2 BetrVG).
Reflexion und Potentiale der Problemlösung
Welche Antworten auf die herausgearbeiteten Problemstellungen und Herausforderungen können die auf dem letzten Gewerkschaftstag 2019 offiziell als Aufgabe der IG Metall definierten (Kaßebaum & Ferrando, 2019) und von Gewerkschaftsseite in der NWS verankerten (BMBF & BMAS, 2019) Weiterbildungsmentor*innen dem skizzierten Profil folgend geben? Von entscheidender Bedeutung erscheint zunächst die Rollenkonzeption dieser im Verhältnis zu den anderen Mitarbeiter*innen/ Kolleg*innen: Die Mentor*innen treten in Form eines niedrigschwelligen Angebots nicht als Vorgesetzte oder externe Planer*innen auf, sondern als hilfestellende Kolleg*innen. So kann das Kriterium der Zugänglichkeit erfüllt werden. Sie sind einerseits Ansprechpartner*innen für das Thema Weiterbildung, tragen dieses jedoch auch proaktiv an die Kolleg*innen heran. So erfährt Weiterbildung als „Thema unter Kolleg*innen“ eine andere Öffentlichkeit und die häufig größere „Distanz zwischen Personalabteilung und Beschäftigten an der Werkbank“ kann überwunden werden (Knüttel, Ferrando, & Ewald, 2018). Damit vermögen es die Mentor*innen, dem geäußerten Bedürfnis nach „direkt in der Lebenswelt platzierten Hinweisen“ (Reich-Claassen, 2010) zum Thema Weiterbildung nachzukommen. Gleichzeitig sind die zu Beratenen selbst aktive Teilnehmende des Gesprächs und gestalten den Beratungsprozess mit. Durch diese kollegiale Umgangsform kann das aufgrund von vorgelagerten negativen bildungs- oder milieuspezifischen Sozialisationserfahrungen oder ihrer derzeitigen Arbeits- und Lebenssituation geringe Bildungs- und Beratungsinteresse überwunden werden. Statt einer „passiven, hochinstitutionalisierten und möglicherweise überdies noch kostenpflichtigen Beratung“ (ebd.) kann ein „Möglichkeitsraum“ (Bahnmüller, 2005) geschaffen werden.
Durch diese Offenheit wird der Raum für individuelle Vorstellungen und Bedürfnisse geöffnet. Entsprechend der zuvor skizzierten subjektorientierten Beratung, binden die Mentor*innen die individuellen Interessen und Ziele in den Beratungskontext ein. Durch den engen Kontakt, die persönliche Ansprache und individuelle Begleitung können auf der entstehenden Vertrauensbasis darüber hinaus Hemmnisse abgebaut werden, bestehende Defizite zu benennen und Ängste und Vorbehalte abgebaut werden. Während sich die stärkenorientierte Analyse möglicher Nachholbedarfe und Entwicklungs- sowie Veränderungspotentiale am Subjekt und seiner individuellen Lebenswelt orientiert, kann hauptsächlich auf Anpassung oder kurzfristigen ökonomisch-betrieblich ausgelegten und die persönliche Entfaltung einschränkenden Qualifizierungsmaßnahmen vorgebeugt werden.
Schließlich kann mit der Beratung die Schaffung einer reflexiven und emanzipierten Handlungskompetenz der zu Beratenden verfolgt werden. Im Erfolgsfall sind die Beratenen informierter, orientierter, strukturierter und motivierter für die folgenden Entscheidungen. Dabei können die Mentor*innen als ein bisher fehlendes Element bei der Umsetzung der einschlägigen Tarifverträge helfen und die jährlichen Qualifizierungsgespräche zielgerichtet vorbereitet werden. Die Qualifizierungsgespräche sind insofern ein gutes Beispiel der Verbesserungsmöglichkeit aus Arbeitnehmer*innensicht auch innerhalb der bestehenden Struktur durch eine zielgerichtete Vorbereitung die Kultur subjektorientierter auszurichten.
Die bereits 2010 formulierte Frage danach, welche Rolle Betriebsräte und Gewerkschaften bei der Weiterbildungsberatung spielen könnten (Gillen et al., 2010) wurde zwar im Rahmen der NWS 2019 offengehalten. Die in der Verhandlungsgrundlage von DGB bzw. IG BCE, IG Metall, GEW und ver.di zur NWS verankerten Mentor*innen (DGB, 2019) konnten jedoch erfolgreich in der NWS positioniert werden (BMBF & BMAS, 2019). Es bleiben jedoch eine Reihe von Fragestellungen zu klären. Dies betrifft bspw. deren besser als durch §80, Abs. 2, Satz 3 BetrVG abgesicherte Freistellung für ihre Tätigkeit und Qualifizierung und insbesondere der Umsetzungsmöglichkeiten der identifizierten Weiterbildungsziele. Um eine innerbetriebliche Weiterbildungsberatung implementieren zu können, braucht es vorhandene Strukturen der betrieblichen Interessensvertretung. Für die Implementierung in den Betrieben ist außerdem die Bereitschaft seitens der Arbeitgeber*innen förderlich. Ob diese die Ausrichtung der Mentor*innen begrüßen und als willkommene Ergänzung der Personalplanung oder als Eingriff in deren planerische Autonomie verstehen, muss sich im Einzelfall zeigen. Betriebsvereinbarungen und Freistellungsregelungen für die (potentiellen) Mentor*innen und ihre Arbeit stellen eine organisatorische Grundlage dar, die jedoch auch arbeitgeber*innenabhängig ist. Hier könnte sich einen Verstetigung der vom BMBF im Rahmen der NWS zunächst weiterhin projektbezogenen Förderung von Weiterbildungsmentor*innen (BMBF&BMAS, 2019) als wertvoll erweisen – und auch als begründet: Wenn öffentlich Eigenverantwortlichkeit und persönliche Zuständigkeit im Rahmen lebenslangen Lernens betont werden, gilt es öffentlich verantwortete bzw. finanzierter Support-Strukturen als flankierende Elemente zu installieren. So könnte auch dem Faktor der Nachhaltigkeit solcherlei Programme genüge getan werden, grassiert durch zeitlich befristete Förderprogramme im Dienstleistungsbereich für Bildung, Beruf und Beschäftigung doch häufig die „Projektitis“, die durch den stets stattfindenden Aufbau und neue Werbemaßnahmen zudem recht kostenintensiv ist (Käpplinger, 2015).
Für die Durchsetzung der Weiterbildungsmaßnahmen – sowohl im Kontext der Mentor*innen, als auch in der Gesamtschau – bedürfte es darüber hinaus stärkerer Rechte in der Mitbestimmung für die Vertretung der Arbeitnehmer*innen im Sinne der Einführung eines generellen Initiativ- und Mitbestimmungsrechts bei Personalplanung, Beschäftigungssicherung und Qualifizierung (Anbuhl, 2019). Insgesamt zentrale Problemstellung über das Mentor*innenprogramm hinaus bleibt das fehlende Recht auf die Umsetzung von individuell geplanten und erwünschten Weiterbildungsmaßnahmen. Insofern steht hier auch der Staat, bzw. die Politik in der Verantwortung, Regelungen im Rahmen einer „mittleren Systematisierung“ und langfristig ausgerichteten Weiterbildungsstrategie zu implementieren, die sich an den Prinzipien der Gerechtigkeit und Chancengleichheit, Verfügbarkeit und Offenheit orientiert.
Abschließend kann festgehalten werden: Wenn die Nationale Weiterbildungsstrategie dem Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil zufolge einen „ersten Baustein für die Etablierung einer neuen Weiterbildungskultur in Deutschland“ darstellt (Würfel, 2019), können die Mentor*innen als mögliches Element einer solchen neuen Weiterbildungskultur gelten. Empirische Erkenntnisse hierzu werden u.a. eine von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierte Evaluation durch die Fernuniversität Hagen sowie eine Arbeit des BiBB im Auftrag des BMBF liefern können.
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