Künstliche Intelligenz im Bildungsbereich

Das doppelte Spannungsverhältnis und eine innovative Idee, wie damit umgegangen werden kann

Sophia Roppertz (Universität Bremen, Institut Technik und Bildung)

KI-Systeme haben in den vergangenen Jahren vermehrt an Aufmerksamkeit gewonnen. Dabei ist Künstliche Intelligenz (KI) keineswegs neu. Bereits 1956 prägte der US-amerikanische Informatik-Professor John McCarthy den Begriff „Artifical Intelligence”, als er eine Konferenz in New Hampshire mit „Dartmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence“ betitelte. Mittlerweile vergeht kaum ein Tag an dem Künstliche Intelligenz nicht in den Nachrichten ist. Das liegt vor allem daran, dass digitale Technologien, die auf Künstlicher Intelligenz bzw. Machine Learning basieren, die Grenzen dessen, was Maschinen tun können, verschoben haben.

Im Alltag sind KI-Systeme bereits zahlreich zu finden: Einparkassistenten helfen uns beim Einparken, Navigationssysteme zeigen uns den Weg, Übersetzungsprogramme entlasten uns von der Inanspruchnahme von Dolmetscherdiensten, intelligente Empfehlungssysteme steuern Konsum- und Wahlverhalten und beim Kontakt mit einer Versicherung gewöhnen wir uns an die Kommunikation mit Chatbots. Laut des ehemaligen Präsidenten der Deutschen Akademie der Technikwissenschaft (acatech), Prof. Dr. Dieter Spath, hat KI als Software-Element die digitale Transformation befeuert und kann davon nicht getrennt gedacht werden (Spath/Esser 2019).

Die digitale Transformation führte – und wird dies auch weiterhin tun – zu einem Wandel der Arbeits- und Berufswelt und der Gesellschaft im Allgemeinen.  Mittels Maschinellen Lernens kann eine Maschine nämlich ohne ihr vorher explizit zu sagen, was getan werden soll, sinnvolle Ergebnisse liefern. Das hat zur Konsequenz, dass bisher vom Menschen durchgeführte Aufgaben nun potenziell von Computern und computergestützten Maschinen übernommen oder assistiert werden können.

Vor diesem Hintergrund kommt es branchenübergreifend zu einer Veränderung von Arbeits- und Geschäftsprozessen, welche veränderte berufliche Kompetenzanforderungen nach sich ziehen.  Bildung und Qualifizierung werden als ein Schlüsselelement verstanden, um mit diesen Veränderungen umzugehen. Der Bildungsbereich befindet sich jedoch in einem doppelten Spannungsverhältnis. Zum einen müssen (junge) Menschen auf veränderte Arbeitswelten vorbereitet werden. Zum anderen stehen die Bildungsinstitutionen und das dortige pädagogische Personal ebenfalls unter Anpassungsdruck durch die Entwicklung neuester digitaler Bildungstechnologien. Während die weltweite EdTech-Industrie, vor allem in den USA und China, weiter an kommerziellen KI-gestützten Bildungsangeboten arbeitet, kommt die Diskussion über KI-Anwendungen im Bildungsbereich in Deutschland erst langsam ins Rollen. Zu Beginn einer solchen Diskussion ist es unerlässlich eine kurze Begriffseingrenzung vorzunehmen, da der Begriff Künstliche Intelligenz Definitionsspielraum lässt.

Künstliche Intelligenz – Von was reden wir eigentlich?

Künstliche Intelligenz steht für Systeme, die ein Verhalten zeigen, für das menschliche Intelligenz vorausgesetzt wird. Aber was heißt Intelligenz? Allgemein wird darunter die Fähigkeit verstanden, aus Erfahrungen zu lernen, Probleme zu lösen und sich an neue Situationen anzupassen (Myers 2014). Eine konkretere und einheitliche Definition gibt es allerdings nicht. Das macht es auch so schwer den Begriff der Künstliche Intelligenz zu definieren. Grundsätzlich ist KI ein wissenschaftliches Fachgebiet und ein Teilgebiet der Informatik, welches verschiedene Methoden und Verfahren umfasst.

Umgangssprachlich wird der Begriff KI allerdings als Sammelbegriff genutzt, was dazu führt, dass nicht klar ist, um welche Verfahren oder Methoden es im Einzelnen konkret geht. Vor diesem Hintergrund hat der amerikanische Informatiker Kristian Hammond mit der Entwicklung des „Periodensystems der Künstlichen Intelligenz“ versucht eine gemeinsame Sprache für Künstliche Intelligenz zu schaffen, um den Diskurs über Chancen, Risiken und Einsatzszenarien zielgerichteter führen zu können (vgl. Bitkom 2018). Das Periodensystem der Künstliche Intelligenz besteht aus einzelnen KI-Elementen (z.B. Spracherkennung, Gesichtserkennung, Sprachgenerierung, Problemlösung), die nach bestimmten Kriterien, kombiniert werden können, um KI-Systeme zu ‚bauen‘. Aus diesen Kombinationsmöglichkeiten ergibt sich dann auch ein breites Spektrum an KI-Systemen mit vielfältigen Einsatzmöglichkeiten.

Eingebettet werden können KI-Systeme sowohl in Prozesse der physischen als auch der digitalen Umgebung. Um sie zu entwickeln, braucht es grundsätzlich Daten, Algorithmen und domänenspezifisches Wissen. Letzteres bedeutet: für Medizinanwendungen braucht es medizinisches Fachpersonal, für Anwendungen in der Landwirtschaft werden Agrarfachleute benötigt und an der Entwicklung von KI-basierten Bildungsanwendungen müssten Pädagog*innen beteiligt sein. Der Bogen zur Bedeutsamkeit des pädagogischen Personals im Kontext der Anwendungsentwicklung wird später noch geschlagen. Im Folgenden geht es um die Frage, wie können KI-basierte Bildungsanwendung eingesetzt werden?

KI-Einsatzpotenziale im Bildungsbereich

Der Einsatz von KI in Bildungsszenarien ist eigentlich nicht neu. Bereits in den 1970er Jahren haben sich Forschende gefragt, wie durch Computer eine 1-zu-1 Lehrsituation inszeniert werden kann (Stichwort: Intelligent Tutoring Systems). Das Feld hat sich seitdem jedoch deutlich weiterentwickelt. So geht es heute kaum noch darum, dass Lehrende ersetzt werden sollen, sondern eher um eine Unterstützung von Lehrenden und Lernenden bei ihrer Aufgabenerledigung. Die UNESCO unterteilt in ihrem Bericht „Artificial Intelligence and Education“ vier zentrale Bereiche in denen KI-Anwendungen im Bildungsbereich zum Tragen kommen können: (1) Bildungsmanagement und -durchführung; (2) Lernen und Bewerten; (3) Befähigung der Lehrkräfte und Verbesserung des Unterrichts und (4) lebenslanges Lernen. Diese Bereiche sind nicht strikt voneinander zu trennen, sondern sind untrennbar miteinander verknüpft (Fengchun et al. 2021). Nichtsdestotrotz macht die Unterteilung deutlich, dass es unterschiedliche Dimensionen gibt, die diskutiert werden können, wenn es um den Einsatz von KI im Bildungsbereich geht. Besonders die zweite Dimension (Lernen und Bewerten) stand und steht im Fokus des allgemeinen und wissenschaftlichen Interesses – Lernen individuell zu gestalten, ist eine der zentralen Hoffnungen.

Adaptives und personalisiertes Lernen

Lernende verfügen über unterschiedliche Fähigkeiten und reagieren ganz individuell auf Lernangebote. Eine enorme Herausforderung für unser Bildungssystem besteht darin, diese Unterschiede richtig zu erkennen und Lernansätze zu entwickeln, die dem oder der Einzelnen zu Erfolg verhelfen. Die Schaffung maßgeschneiderter Lernumgebungen, ob analog oder digital, könnte die Chancengleichheit erhöhen, indem jedem Lernenden das geboten wird, was er braucht, um erfolgreich zu sein, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Kultur, sozioökonomischem Hintergrund, körperlichen und geistigen Fähigkeiten oder geografischer Lage. So die Hoffnung!

Der Gedanke des adaptiven und personalisierten Lernens bildet den konzeptionellen und technischen Grundstein vieler KI-Anwendungen im Bildungsbereich. Dabei geht es darum, die Wissensvermittlung an den Wissensstand, die Lernpräferenzen und das Umfeld anzupassen. Dieses Ziel wird auch in klassischen, analogen Bildungssettings angestrebt. Die Digitalisierung bietet jedoch die Möglichkeit, diese Anpassung automatisiert ablaufen zu lassen und gleichzeitig effektiver und effizienter zu sein als in klassischen Unterrichtssettings. Adaptive Systeme, welche auf Machine Learning oder Deep Learning beruhen, können ihr Verhalten als Reaktion auf die Umwelt ändern und dazu lernen (vgl. Southgate et al. 2019). Die aus Lernmanagementsystemen gesammelten Lernendendaten (z.B. Logindaten, Prüfungsergebnisse, Lerndauer) können Erkenntnisse darüber liefern, wie sich das individuelle Lernen im Laufe der Zeit entwickelt und welche didaktischen Ansätze unter welchen Bedingungen effektiv sind (vgl. Southgate et al. 2019).

Hier kommen Learning-Analytics-Ansätze (LA) zum Einsatz. Dabei handelt es sich um das Messen, Sammeln, Analysieren und Auswerten von Lernendendaten, mit dem Ziel den Lernprozess zu verbessern. Welche Daten konkret relevant sind, hängt von dem Ziel des LA-Einsatzes ab. Es lassen sich grob drei Zieldimensionen unterscheiden (vgl. Seufert 2018). Zum einen kann LA eingesetzt werden, um rein deskriptiv darzustellen, was in welcher Zeit gelernt wurde, wie mögliche Tests ausgefallen sind und ob sich Muster im Lernverhalten erkennen lassen (deskriptive Analytics). Dabei handelt es sich noch nicht wirklich um Künstliche Intelligenz. Zum anderen können basierend auf den Daten Prognosen getroffen werden (Prädikative Analytics). Häufig geht es dabei um die Frage, welche Lernenden eine Prüfung oder einen Kurs wahrscheinlich nicht bestehen oder beenden werden. Die dritte Dimension umfasst die möglichen Handlungsoptionen, die basierend auf den Daten sinnvoll sein können, also welche Lernpfade für welche Lernenden angemessen sind (Präskriptive Analytics). Diese Entscheidungsfindung wird von einem Programmierer oder einer Programmiererin im Vorfeld festgelegt, also programmiert. Dem Pädagogen oder der Pädagogin werden vom System dann Handlungsideen vorgeschlagen oder im Falle eines adaptiven Systems direkt ausgeführt. Bevor die dadurch entstehenden pädagogischen und ethischen Folgen beleuchtet werden, erfolgt hier eine kurze Darstellung, welche zentralen KI-Bildungsanwendungen es bereits gibt.

KI-Bildungsanwendungen – Technisch bereits einiges machbar

Es gibt Anwendungen, die implizit auf KI basieren, z.B. Übersetzungsprogramme oder Suchmaschinen. Diese finden in der schulischen Bildung, wie im Alltag auch, breite Nutzung. Zum anderen gibt es auch ‘explizite’ KI-Anwendungen, welche im Folgenden in Teilen umrissen werden. Marktanalysen zeigen, dass solche Anwendungen mehrheitlich aus China und den USA kommen und der Einsatz dort weiter vorangeschritten ist als in Deutschland. Es handelt sich bisher vor allem um Anwendungen, die das Selbstlernen in Mathematik und MINT-Fächern oder das Sprachenlernen unterstützen sollen.

Intelligent Tutoring Systems (ITS)

Mit den Anfängen in den 1970er Jahren sind ITS die am längsten untersuchten KI-Applikationen im Bildungsbereich. Durch intelligente Nachhilfe-/Assistenzsysteme soll die persönliche Betreuung durch eine Lehrperson simuliert bzw. imitiert werden. Intelligente Nachhilfesysteme stellen im Grunde nur eine Benutzeroberfläche bereit. Zugrunde liegt ihnen häufig ein adaptives System, das im Hintergrund läuft. Aufgaben eines ITS umfassen u.a. die Präsentation von Lerneinhalten, die Evaluierung der Effizienz des Lernprozesses, die Förderung der Motivation von Lernenden und das Geben von Hilfestellungen. Genutzt wird dafür Maschinelles Lernen. Dieser Ansatz ist manchmal auch in Lernmanagementsystemen wie Moodle zu finden. Wichtig anzumerken ist, dass nicht die Lerninhalte selbst personalisiert sind, sondern lediglich der Weg zu den vordefinierten Lerninhalten. Außerdem liegt solchen Systemen ein instruktionales Lernverständnis zu Grunde. Das heißt, Lernende rezipieren das ihnen zur Verfügung gestellte Material, ohne den eigenen Lernprozess aktiv steuern zu müssen.  Kollaboratives Lernen, bei dem der gemeinsame Lernprozess mehrere Individuen im Vordergrund steht, oder andere Lernformen finden dabei keine Berücksichtigung (Fengchun et al. 2021).

Der Einsatz von ITS beschränkt sich eher auf strukturierte Fächer, wie Mathematik oder Physik. Für Fächer, in denen Kreativität gefordert ist, eignen sie sich bisher nicht. Weltweit gibt es mehr als 60 kommerzielle ITS, so heißt es in einem Bericht der UNESCO (Fengchun et al. 2021). Laut einer aktuellen, durch die Telekom in Auftrag gegebenen Studie, sind China, Südkorea, Singapur und Japan Vorreiter auf dem Markt für intelligente Nachhilfesysteme. In Europa und Deutschland sind keine vergleichbaren dynamischen Entwicklungen zu erkennen (Deutsche Telekom Stiftung 2021). Als erfolgreichstes Nachhilfeangebot, das adaptives Lernen anbietet, gilt in Deutschland Bettermarks für das Fach Mathematik. Abgedeckt wird der Lehrplan von der Klasse 4 bis 11. Das Unternehmen versucht diese Anwendung auch in den Regelunterricht zu integrieren.

(Educational) Chatbots

Chatbots nutzen KI-Verfahren, um sich mit Menschen in natürlicher Sprache zu unterhalten. Bisher werden sie vor allem im Onlinehandel oder im Dienstleistungssektor eingesetzt. Ihnen wird aber auch Potenzial für den Bildungsbereich zugeschrieben. Vor allem im administrativen Bereich könnten Chatbots eingesetzt werden, um beispielweise Fragen zu Stundenplänen, Klassenarbeitsterminen etc. zu klären. Der Vorteil wird u.a. darin gesehen, dass Informationen rund um die Uhr von Lernenden abgerufen werde könnten. Ein Beispiel für einen Educational Chatbot ist Ada vom Bolton College in England.

Automatisierte Feedback- und Bewertungssysteme

In welchem Jahr wurde der Begriff Künstliche Intelligenz erstmalig verwendet?

o 1956                                 o 1980

Eine solche Antwort, die auf richtig oder falsch basiert, ist computergestützt einfach auswertbar. Erfolgskontrollen in der Schule umfassen aber häufig Aufsätze oder sonstige schriftliche Ausarbeitungen. Dabei handelt es sich um nicht oder wenig strukturierte Daten. Mithilfe von KI können diese mittlerweile auch ausgewertet werden. Das fällt unter den Begriff Automated Assessment. Solche Systeme müssen aber natürlich im Vorfeld mit Trainingsdaten gefüttert werden. Dem System wird gesagt, welches die richtige Lösung zu einer Aufgabe ist. Basierend darauf gibt der Lernalgorithmus dem Schüler oder Schülerin dann eine Bewertung oder direkt eine Note. Von einigen Seiten wird das Potenzial darin gesehen, dass Lehrenden viel Zeit mit Korrekturen oder dem Geben von Feedback erspart bleibt. Andere wiederum kritisieren u.a., dass die Korrektur von Schüler*innenleistungen ein wichtiges Mittel sei, damit Lehrpersonen ihre Schüler*innen und deren Kompetenzen kennenlernen bzw. einschätzen können.

Drei klassische KI-Anwendungen im Bildungsbereich wurden hier im Überblick vorgestellt. Einen umfassenderen Einblick liefert das 2021 erschienene Papier „AI and education: guidance for policy-makers“ der UNESCO (Fengchun et al. 2021). Dort wird auch betont, dass die Potenziale von KI-basierten Bildungsanwendungen bisher nicht ausreichend empirisch belegt sind. Häufig handelt es sich lediglich um Annahmen über erwartete Lernerfolge und damit verbundene Hoffnungen, bestehenden Bildungsherausforderungen zu begegnen oder kommerzielle Interessen zu verfolgen.

Die Lösung bestehender Bildungsherausforderungen sollte im Diskurs um KI und Bildung der zentrale Dreh- und Angelpunkt sein: Welche bildungspolitischen und pädagogischen Herausforderungen gibt es in der schulischen Bildung zu bewältigen? Und dann die Frage, kann der Einsatz von KI-basierten Anwendungen bei der Bewältigung unterstützen?

Eine zentrale Herausforderung ist sicherlich die wachsende Belastung von Lehrkräften und die allgemeine Personalknappheit. Automatisierte Feedback und Bewertungssysteme könnten hier tatsächlich eine Möglichkeit sein, um zumindest in Teilen den Korrekturaufwand zu reduzieren. Gleichzeitig könnten Educational Chatbots bei einfachen administrativen Fragen, die keine pädagogisch-fundierte Antwort benötigen, den Lehrenden Aufgaben abnehmen bzw. assistieren. Die Unterstützung bei administrativen Aufgaben kann auch auf Ebene der Schulorganisation dabei helfen, dem wachsenden Aufwand gerecht zu werden. Eine dritte zentrale Herausforderung ist die wachsende Heterogenität der Schülerschaft (Deutsche Telekom Stiftung 2021). Die Ermittlung des individuellen Lernstandes mittels Learning Analytics und das Bereitstellen adaptiver Lerninhalte ist technisch machbar und eventuell sogar eine mögliche Antwort auf die Herausforderungen. Die Frage ist aber, ob der Einsatz solcher Systeme im Allgemeinen und im Einzelfall pädagogisch sinnvoll ist. Wenn bei Automated writing evaluations Punkte für oberflächliche Charakteristika wie Satzlängen vergeben werden, ohne, dass der Text inhaltlich passend sein muss, verfehlt das die pädagogische Sinnhaftigkeit.

Statt technisch machbar, pädagogisch sinnvoll …

Neu an Methoden wie Learning Analytics ist nicht, dass Daten von Lernenden erhoben und ausgewertet werden – Klassenarbeiten und sonstige Tests sind nichts anderes als Lernanalysen. Neu ist vor allem, dass die Entscheidung über die pädagogischen Konsequenzen in digitale Tools ausgelagert werden. Diese sind wiederum nicht ausschließlich von Pädagog*innen programmiert, sondern vor allem von Informatiker*innen, die nicht über fundiertes pädagogisches und lerntheoretisches Handlungswissen verfügen. Das Primat der Pädagogik wird dadurch der Logik der Datenerfassung untergeordnet (Hartong 2019)[1].

Wenn man zu dem Entschluss kommen sollte, dass KI-basierte Anwendungen tatsächlich bei der Bewältigung von Herausforderungen in der schulischen Bildung unterstützen könnten, bräuchte es Pädagog*innen, die bereits bei der Entwicklung der Systeme eingebunden werden. Bei jeder medizinischen KI-Anwendungsentwicklung ist es unstrittig, dass es medizinische Kompetenz/medizinisches Personal braucht, welches domänen-spezifisches Wissen einbringt. Bei der Entwicklung von Bildungstechnologien scheint das bisher ein vernachlässigter Faktor zu sein – zu Unrecht.

… und ethisch vertretbar

Wie für alle KI-Systeme spielen Aspekte wie Transparenz, Fairness und menschliche Aufsicht bei KI-Anwendungen in der Bildung eine zentrale Rolle. Und doch müssen gezielter ethische Bildungsfragen gestellt werden, z.B.: Was ist der Zweck des Lernens? Welche pädagogischen Mittel sollen gewählt werden? Wie soll das Verhältnis von Technik und Lehrpersonen gestaltet werden?

Die folgenden zwei Szenarien zeigen ethische Problemstellungen ganz deutlich auf.

Szenario 1: Laut der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) haben Personen das Recht, darüber zu entscheiden, ob Daten erhoben werden dürfen. Stellen wir uns das im KI-Kontext vor. Soll eine KI-Anwendung zum Einsatz kommen, so müssten die Schüler*innen gefragt werden, ob sie damit einverstanden sind und sie bzw. die Erziehungsberechtigten eine Datennutzungsvereinbarung abschließen. Was passiert, wenn man damit nicht einverstanden ist? Kann man das sagen, ohne Nachteile zu erfahren und wie findet dann der Unterricht statt? Einige Schüler*innen lernen KI-gestützt und die andere nicht?

Szenario 2: Mithilfe von Learning Analytics lässt sich vorhersagen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Lernender oder eine Lernende einen Kurs, eine Prüfung usw. nicht besteht. Auf dieser Grundlage können individualisierte Lernpfade vorgeschlagen werden. Aber – diese Vorhersagen können auch das Potenzial einschränken. Wenn einem Lernenden schlechte Leistungen vorhergesagt werden und er deshalb in eine Lernumgebung mit niedrigem Niveau eingeordnet wird, wird er oder sie dann nicht der Möglichkeit beraubt, gute Leistungen zu erbringen?

Technologische Innovation ist nicht immer gleichbedeutend mit sozialem Fortschritt. Das gilt sowohl für den Bildungsbereich als auch sonstige Arbeits- und Lebensbereiche. Im Bildungsbereich sind es u.a. Fragen des Zugangs zu KI-basierten Bildungsanwendungen, Kontroversen über den zunehmenden Einsatz von Online-Prüfungsanwendungen und die Frage der Voreingenommenheit solcher Systeme, die im Mittelpunkt der Diskussion stehen.

Fazit und Ausblick

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Entwicklungen im KI-Bereich zu einer technologischen Revolution führen. Das wirft die Frage auf, wie wir die Entwicklungen gesellschaftlich gestalten können. Diese Frage ist nicht neu – Informationstechnologie kann bereits auf unterschiedliche sozio-technologische Weise genutzt werden. KI kann zu einer Zentralisierung von Macht und Kontrolle oder zur Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft führen. Sie kann die Privatsphäre aushöhlen oder unterstützen. Sie könnte für ein besseres Bildungs- und Gesundheitssystem eingesetzt werden. Aber die Menschen müssen sich der Funktionsweise der Technologie bewusst sein und ihre Nutzung regulieren. Für den Bildungsbereich bedeutet das, dass besonders das pädagogische Personal, aber in letzter Konsequenz alle an Bildung Beteiligten geschult sein müssen, um die Risiken und Chancen einer KI-basierten Anwendung abschätzen zu können.

Qualifizierung der Lehrkräfte – Ein innovativer Ansatz

Die Frage, wie Lehrkräfte, vor allem die bereits länger im Dienst befindlichen, qualifiziert werden können, steht im Fokus des europäischen Projekts Taccle AI. Im Rahmen des Projekts wurde 2020 eine explorative Umfrage unter Berufsschullehrenden in Bremen und Niedersachsen durchgeführt. Die Mehrheit der Befragten geht davon aus, dass Künstliche Intelligenz das Lehren und Lernen verändern wird, allerdings nicht, dass KI in Zukunft Lehrende ersetzen werde (Roppertz 2020).

Viele der Befragten geben an, dass sie sich Unterstützungsangebote in Form von Fortbildungen erhoffen, die den Einsatz digitaler Medien allgemein und von KI-Anwendungen im Besondern begleiten. Im Rahmen von Taccle AI wurde dieser Wunsch als Anlass genommen ein flexibles, skalierbares und digitales Lern- und Fortbildungsangebot für Lehrkräfte zu schaffen. Das Resultat ist ein fünfwöchiger Massive Open Online Kurs zum Thema Künstliche Intelligenz und (berufliche) Bildung. Aufgegriffen werden die Veränderungen der Arbeitswelt durch den zunehmenden KI-Einsatz und die curriculare Einbindung der dadurch neu entstehenden Lerninhalte. Außerdem geht es um den Einsatz KI-basierter Bildungstechnologien, sowie die damit verbundenen Chancen und Risiken. Vor diesem Hintergrund wird auch diskutiert, wie sich die Rolle von Lehrkräften verändert. Ob ein solches niedrigschwelliges, digitales Kursangebot eine geeignete Fortbildungsmöglichkeit für Lehrkräfte ist, wird sich nach Ende der Projektlaufzeit zeigen. Informationen dazu finden Sie unter: www.tacclai.eu

[1] Siehe auch den Beitrag von Hartong zur Algorithmisierung von Bildung: https://denk-doch-mal.de/wp/sigrid-hartong-algorithmisierung-von-bildung/

Bitkom (2018): Digitalisierung gestalten mit dem Periodensystem der Künstlichen Intelligenz. Ein Navigationssystem für Entscheider. Zugriff unter: https://www.bitkom.org/sites/default/files/2018-12/181204_LF_Periodensystem_online_0.pdf (10.11.2021).

Deutsche Telekom Stiftung (2021): KI@Bildung: Lehren und Lernen in der Schule mit
Werkzeugen Künstlicher Intelligenz. Zugriff unter: https://www.telekom-stiftung.de/sites/default/files/files/media/publications/KI%20Bildung%20Schlussbericht.pdf (11.11.2021)

Hartong, Sigrid (2019): Learning Analytics und Big Data in der Bildung Zur notwendigen Entwicklung eines datenpolitischen Alternativprogramms. Zugriff unter: https://www.gew.de/index.php%3FeID%3DdumpFile%26t%3Df%26f%3D91791%26token%3D702ec8d5f9770206a4aa8a1079750ec9021b90bf%26sdownload%3D%26n%3DLearning-analytics-2019-web-IVZ.pdf (09.11.2021)

Miao, Fengchun/ Holmes, Wayne/ Ronghuai Huang/ Hui Zhang (2021): AI and education: guidance for policy-makers. UNESCO.

Myers, David G. (2014): Psychologie. (3). Springer VS.

Roppertz, Sophia (2021): Die Rolle und Bedeutung von Künstlicher Intelligenz in der Berufsausbildung – Implikationen für angehende Berufs- und Wirtschaftspädagog*innen. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 40, 1-23. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe40/roppertz_bwpat40.pdf (09.07.2021).

Seufert, S. (2018): Flexibilisierung der Berufsbildung im Kontext fortschreitender Digitalisierung. Bericht im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation SBFI im Rahmen des Projekts „Berufsbildung 2030 – Vision und Strategische Leitlinien“. Bern.

Southgate, E. et al. (2019): Artificial Intelligence and Emerging Technologies in Schools. Newcastle.

Spath, D./Esser, H. (2019): Digitalisierung und Künstliche Intelligenz – die Zukunft von Arbeit und Bildung. In: Zeitschrift des Bundesinstituts für Berufsbildung, (48), 6-9.

Autor

  • Sophia Roppertz

    Studium der Politikwissenschaft an der Universität Mannheim und Universität Bremen. Anschließend seit Herbst 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Technik und Bildung tätig. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Berufliche Bildung; Lernortkooperation; Lernen und Lehren mit digitalen Medien; KI-gestützte Bildungsanwendungen; digitale Transformation und Auswirkungen der Digitalisierung auf Kompetenzanforderungen; Arbeitsplatz-basiertes Lernen; Quantitative Methoden