Digitalisierte Hochschulbildung von Beginn an inklusiv gestalten

Prof. Dr. Katharina Walgenbach (Professorin für Bildung und Differenz an der Fernuniversität in Hagen)

Notgedrungen haben Hochschulen während der Corona-Pandemie in aller Eile ihre Lehre auf digitale Formate umgestellt. Dadurch hat sich die Diagnose, dass digitale Lehr-Lernformate in der Hochschullehre in Deutschland einem Flickenteppich gleichen, eher noch verstärkt. In diesem Beitrag wird argumentiert, dass die Zukunftsaufgabe der Inklusion bzw. barrierefreien Hochschulbildung von Beginn an berücksichtigt werden sollte, wenn Hochschulen ihre Digitalisierungsangebote und -strategien jetzt auf Dauer stellen. Nicht allein, weil Inklusion in Bildungsinstitutionen rechtlich vorgegeben ist, sondern auch, weil es sehr viel schwieriger ist, einmal getroffene Entscheidungen für digitale Lösungen und Infrastrukturen im Nachhinein barrierefrei zu gestalten.

Inklusion und Digitalisierung als Zukunftsaufgabe von Hochschulen

Aktuell sehen sich Hochschulen mit einer Reihe von Zukunftsaufgaben konfrontiert. Die Umsetzung einer inklusiven Hochschulbildung zeichnet sich allerdings durch ein besonderes Charakteristikum aus: sie ist nicht allein eine Frage der institutionellen Schwerpunktsetzung von Hochschulen, sondern rechtlich geboten. Die Berücksichtigung von Inklusion in der digitalisierten Hochschulbildung ist durch das Recht auf barrierefreie Studienbedingungen für Studierende mit Behinderungen und/oder chronischer Erkrankung (SmB) durch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK, §24), die Landeshochschulgesetze sowie das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) juristisch kodifiziert.

Einige Hochschulen haben sich bereits auf den Weg gemacht, das Leitbild einer ‚Hochschule für alle‘ (HRK 2009) umzusetzen und entsprechende Inklusionskonzepte, Handreichungen und Leitfäden vorgelegt (z.B. Klein 2016; Platte et al. 2018). In Deutschland beziehen sich solche Aktivitäten primär auf rechtliche Grundlagen, Beratungsangebote für SmB oder barrierefreie Lehrmittel (Dannenbeck et al. 2016; Zeitschrift für Inklusion 2014). Die Forschung zur inklusiven Hochschulbildung macht wiederum deutlich, dass SmB keine homogene Gruppe sind, sondern durch unterschiedliche Formen der Beeinträchtigung sowie Lebensumstände eine große Heterogenität aufweisen (DSW 2012; DSW 2018).

Mit der Digitalisierung der Hochschule wird häufig die Hoffnung verbunden, der Heterogenität von Studierenden in spezifischer Weise gerecht zu werden. Die flexible, zeit- und ortsunabhängige Nutzung digitaler Lehr-Lernformate soll SmB, berufstätigen Studierenden oder auch studierenden Eltern besonders entgegenkommen. In der Forschung zur digitalisierten Hochschulbildung wird allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass digitale Lehre auch zu Exklusion führen kann, wenn die Rahmenbedingungen und/oder Umsetzungsformen nicht inklusiv gestaltet sind (Bosse, Schluchter & Zorn 2019; Kent et al. 2019; Seale 2020). Wobei entsprechende Problematisierungen häufig einen ausgeprägten technologischen Fokus aufweisen. Es geht bspw. um die Untertitelung von Lehrvideos, die Erstellung barrierefreier pdf-Dateien oder Kriterien der Beschaffung externer Software (buy accessible). Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Einhaltung und Weiterentwicklung rechtlicher Standards, Verordnungen und Gesetze zur digitalen Barrierefreiheit im Hochschulwesen (z.B. BITV 2.0 oder WCAG 2.1).

Ein technologischer Fokus auf Barrierefreiheit manifestiert sich auch in hochschulstrategischen Digitalisierungskonzepten wie sie bspw. von der Kultusministerkonferenz (KMK), Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und dem Hochschulforum Digitalisierung (HFD) vorgelegt wurden. Wobei der HFD-Abschlussbericht ‚The Digital Turn. Hochschulbildung im digitalen Zeitalter‘ eine bemerkenswerte Ausnahme darstellt (HFD 2016). In der Gesamtschau lässt sich allerdings festhalten, dass Themen wie Inklusion, Barrierefreiheit oder die Bedürfnisse und Bedarfe von SmB in den strategischen bzw. programmatischen Dokumenten zur Digitalisierung der Hochschulbildung in den letzten 30 Jahren entweder überhaupt nicht oder lediglich in einem kurzen Satz abgehandelt werden (Walgenbach & Körner 2020). Inklusive Leitbilder, Standards oder Konzepte bilden gegenwärtig somit keinen Ausgangspunkt konzeptioneller Überlegungen in zentralen Dokumenten zur Hochschulbildung. Dass es auch anders geht, zeigen Debatten zum Thema Universal Design im tertiären Bildungssektor, die hauptsächlich noch international geführt werden, allerdings zunehmend auch in Deutschland Einzug finden.

Universal Design in der inklusiven Hochschulbildung

Im engeren Sinne lässt sich unter Universal Design verstehen, dass digitale Lehrangebote sowie Lerninfrastrukturen (z.B. Lernmanagementsysteme oder Online-Portale zur Studienorganisation) von vornherein an den Standards der uneingeschränkten Zugänglichkeit, Nutzbarkeit und Teilhabe ausgerichtet sind ohne technischen bzw. inhaltlichen Qualitätsverlust. Das Konzept des Universal Design lässt sich in der Hochschulbildung aber auch noch weiter fassen, indem z.B. auch unterschiedliche Lernzugänge, Kommunikationswege oder Interaktionsformen konzeptionell in der Hochschullehre berücksichtigt werden. Hier spricht man dann von einem Universal Design for Learning Modell (Cologon & Lassig 2020; Thousand, Villa & Nevin 2015). Ein solches Modell hat das Potenzial, auch einen ‚weiten Inklusionsbegriff‘ (Heinrich, Urban & Werning 2013, S. 74) zu berücksichtigen, der nicht allein auf SmB abzielt, sondern etwa auch die Bedürfnisse von Studierenden mit Migrationshintergrund oder nicht-traditionelle Studierende mit einbezieht. UDL-Modelle gehen aber häufig über digitale Fragen hinaus und werden aufgrund der gebotenen Kürze im Folgenden nicht weiter behandelt.

Der Universal Design Approach ist aus der Kritik an einem so genannten Retrofit-Ansatz entstanden, der barrierefreie Angebote immer erst im Nachhinein und auf individuelle Anfrage hin anbietet (Mace 1985; Center for Universal Design 1997). Ein solcher post-production-Approach operiert reaktiv und bietet digitale Lösungen für Studierende mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung häufig zeitverzögert und in einem separaten Raum an (Müller 2014). Historisch gesehen war Retrofitting durchaus eine emanzipatorische Praxis und kann gegenüber segregierenden Settings immer noch als progressiv angesehen werden (Hamraie 2017, S. 145), aber der Retrofit-Ansatz ist auch problematisch, da er Probleme der digitalen Teilhabe tendenziell individualisiert. Darüber hinaus ist er zeit- und ressourcenintensiv sowie meist nicht sehr ökonomisch, da für jedes einzelne Individuum individuelle Lösungen erarbeitet werden müssen (Wentz, Jaeger & Lazar 2011; Slater et al. 2015, S. 7; IBS 2016, S. 3; Fichten et al. 2020, S. 24).

Ein Universal Design Approach in der digitalisierten Hochschulbildung weist die Verantwortung für digitale Zugänglichkeit und Teilhabe den Institutionen, Lehrenden und Designer:innen zu und nicht den Studierenden mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung (Fisseler 2020; Müller 2014; Perez 2015). Digitale Lernumwelten werden so angeboten, dass sie für möglichst alle zugänglich sind. Der Universal Design Approach operiert dabei proaktiv, indem digitale Angebote von Beginn an die Bedürfnisse und Bedarfe von SmB möglichst umfassend einbeziehen. Barrierefreie digitale Lösungen sind dabei integraler Bestandteil von Angeboten der Hochschullehre sowie nachhaltig angelegt (Burgstahler & Cory 2008; Powell 2011).

Wobei einschränkend angemerkt werden muss, dass die Erfahrung gezeigt hat, dass Universal Design vor allem eine Zielperspektive ist, die aufgrund der vielfältigen Bedürfnisse und Bedarfe von SmB wahrscheinlich nie vollständig erreicht werden kann. Auch bei einem Universal Design Approach können deshalb mitunter individuelle Anpassungen erforderlich sein (Slater et al. 2015, S.7; Thousand, Villa & Nevin 2015, S. 13).

Resümee

Noch steht die Digitalisierung der Hochschulbildung in Deutschland am Anfang. Dies könnte eine historische Chance sein, so wurde hier argumentiert, Hochschulen von Beginn an im Sinne eines Universal Designs zu gestalten. Wenn aber Inklusion in den institutionellen, strategischen und didaktischen Überlegungen zur Digitalisierung von Bildungspolitiker:innen, Bildungsinstitutionen, Lehrkörpern und Designer:innen nicht von vornherein mitgedacht wird, besteht die Gefahr, dass deren mangelnde Berücksichtigung die Probleme erst produziert, deren Lösung sie anschließend in die individuelle Verantwortung von Studierenden, einzelnen Lehrenden und IT-Personal legt (Walgenbach & Körner 2020).

Dazu gehört auch, dass intermediäre Gremien wie die KMK oder HRK bzw. Hochschulen als Institutionen die Zukunftsaufgabe der Inklusion als integralen Bestandteil ihrer programmatischen und hochschulstrategischen Digitalisierungsstrategien ansehen. Ansonsten könnte ein Patchwork an individuellen Bewältigungsstrategien bzw. technischen Lösungen entstehen, die für Hochschulen am Ende auch zeit- und kostenintensiv sind. Für Studierende hat dies zur Folge, dass sie die behindernden Strukturen der Hochschule durch individuellen Mehraufwand kompensieren müssen und potenziell in die Position von ‚Bittstelle:innen‘ gebracht werden (ebd.).

Eine inklusive digitalisierte Hochschulbildung kommt nicht allein Studierenden mit Behinderung zugute (Zorn 2017). Beispielsweise könnten von der Untertitelung einer Online-Vorlesung auch internationale Studierende profitieren. Das „Zwei-Sinne-Prinzip“ (die gleichzeitige Informationsvermittlung durch zwei verschiedene Sinne wie etwa Hören oder Sehen) ist für viele Studierende attraktiv und ermöglicht unterschiedliche Lernzugänge. Nicht zuletzt zielt ein Universal Design Approach auf eine diskriminierungsfreie und bedürfnisorientierte digitalisierte Hochschulbildung und leistet damit einen wichtigen Beitrag für eine ‚Hochschule für Alle‘ (HRK, 2009).

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Autor

  • Prof. Dr. Katharina Walgenbach

    Katharina Walgenbach ist Professorin für Bildung und Differenz an der Fernuniversität in Hagen. Als Vertrauensdozentin der Hans-Böckler-Stiftung hat sie von 2018-2021 die Nachwuchsforschungsgruppe 'Hochschule und Diversität' geleitet. Sie ist außerdem Mitglied im Zentrum für Inklusionsforschung Berlin (ZfIB) und war an ihrer Universität an der Entwicklung des Inklusionskonzepts "Fernstudium ohne Barrieren" beteiligt.