Nora Räthzel (Soziologieprofessorin an der Universität Umeå, Schweden)
Grundlage der folgenden Thesen sind drei Forschungsprojekte, die wir seit 2007 über die Umweltpolitik von Gewerkschaften in Brasilien, Südafrika, Indien, Schweden, dem Vereinigen Königreich (VK) und Spanien durchgeführt haben. Wir haben über 200 Interviews geführt, Dokumente studiert, Tagungen, Konferenzen und COPs besucht. In unserem noch laufenden Projekt haben wir 6 Kurse mit Gewerkschafter*innen in Spanien und im VK organisiert, in denen es darum ging, wie die Arbeitenden den ökologischen Fußabdruck ihres Arbeitsplatzes analysieren und welche Alternative sie entwickeln.
Im Laufe der Zeit haben wir unseren Blick erweitert auf andere Kategorien von Arbeitenden. Für viele indigene Völker und für Subsistenzarbeitende ist die Klimakrise schon jetzt eine Frage von Leben und Tod. Für die Arbeitenden in den Industrieländern geht es darum, eine Klimapolitik zu entwickeln, die den Lebensstandard hält und ‚gute Arbeit‘ garantiert. Der von der US- amerikanischen Arbeiterbewegung geprägte Begriff der Just Transition (gerechter Übergang) ist dabei Allgemeingut geworden, besonders, seit er 2015 in die Präambel des Pariser Abkommens übernommen wurde. In Deutschland spricht man von der Transformation, oder der sozio-ökologischen/sozialökologischen Transformation. Es geht jeweils darum, die Bekämpfung des Klimawandels mit den Bedürfnissen der Arbeitenden in Einklang zu bringen. Aber worum geht es beim Klimawandel und was sind die Bedürfnisse der Arbeitenden?
Ich beginne die Frage nach den Bedürfnissen der Arbeitenden mit einem Blick in die Geschichte, die, so William Faulkner, nicht tot, ja nicht einmal Geschichte ist.[1] Daraus ergeben sich drei Thesen, die ich zur Diskussion stellen möchte. 1. Die gewerkschaftliche Klimapolitik leidet unter zwei Verengungen: sie reduziert die ökologische Krise auf Treibhausgasemissionen und auf den nationalen Kontext. 2. Die Struktur der Politik konstruiert die Arbeitenden als Opfer, sieht sie nicht als Handelnde. 3. Die Bedürfnisse der Arbeitenden werden auf ihre Interessen auf Lohnarbeiter*innen reduziert, es fehlen ihre umfassenderen Bedürfnisse nach einem sinnvollen Leben.
Brot und Rosen
Dass Arbeitende sichere Arbeitsplätze wollen, weiß jeder. Gewerkschaften, Mitte des 19. Jahrhunderts in England gegründet, kämpften von Anbeginn für sichere Arbeitsplätze, gerechte Löhne und Gesundheit am Arbeitsplatz. Aber sie stritten noch für etwas anderes, für die Verringerung der Arbeitszeit. Frauen, Männer, und Kinder arbeiteten 12 bis 16 Stunden am Tag. Es gab keine Zeit zu leben. Gewerkschaften organisierten Ausbildung, Lesungen, Gemeinschaftsleben. In Österreich gründeten sie gemeinsam mit der Sozialistischen Partei die Naturfreunde, im VK erkämpften sie das Recht, in jeder Landschaft zu wandern, auch wenn sie Privateigentum war.
Gewerkschafterinnen, die für das Frauenwahlrecht kämpften, beschrieben diese andere Dimension von Bedürfnissen so: „die Frau ist das mütterliche Element in der Welt und ihre Stimme wird dafür sorgen, dass das Brot des Lebens, ein zu Hause, eine Wohnung, Sicherheit, genauso wie die Rosen des Lebens, Musik, Ausbildung, Natur und Bücher, das Erbe jedes Kindes sein werden, das in einem Land geboren wird, in dem sie eine Stimme hat.“ (Getting out the Vote, Helen Todd, 1911). 1913 streikten die Mühlenarbeiter*innen, meist eingewanderte Frauen, in Lawrence, USA und verlangten Brot und Rosen. Selbst unter den härtesten Lebens- und Arbeitsbedingungen wollten die Arbeitenden nicht nur „Brot“ sondern auch „Rosen“ ein sinnvolles Leben in Würde, weniger Arbeit, mehr Leben.
Machen wir einen großen Sprung in das Jahr 1972. Die IG Metall organisiert da eine Konferenz mit dem Titel: „Qualität des Lebens“ zu der sie 1200 Gäste aus 22 Ländern einlädt, darunter 170 Wissenschaftler*innen. Aus dieser Konferenz resultierten 9 thematische Broschüren, unter ihnen Qualität des Lebens und Umwelt. Es mag überraschen, wie kritisch die Form des Wachstums damals von führenden Gewerkschaftern gesehen wurde: So sagte Heinz Oskar Vetter, damaliger DGB-Vorsitzender: „Wir gönnen uns weite und luxuriöse Ferienreisen und sind nicht in der Lage, Krankenhäuser und Schulen zu bauen. Wir sind stolz auf das schnelle Auto, ja auf den Zweitwagen für die Familie, und ersticken auf verstopften Straßen in Abgasen. (…) „Wir müssen radikal brechen mit dem bislang unsere Wirtschaft und Gesellschaft beherrschenden Prinzipien des privaten Gewinns und des unkritisch gesehenen Wachstums“.
Eingeladen zu dieser Konferenz war auch Erhard Eppler, damals Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Er schrieb: „Spätere Generationen werden wahrscheinlich die Köpfe darüber schütteln, wie lange wir zu der simplen Einsicht gebraucht haben, daß auf einem endlichen Erdball mit endlichen Ressourcen die Zahl der Menschen, die Verbrauchsziffern für Rohstoffe, Energie oder Wasser nicht beliebig ansteigen können. Sie werden die Köpfe darüber schütteln, wie wir glaubten, ungestraft in Kreisläufe und Gesetzlichkeiten der Natur eingreifen zu können. (…) Und sie werden vielleicht feststellen, daß in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, (…) eine historische Zäsur liegt, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist: die Einsicht der modernen Wissenschaft in die Grenzen des wirtschaftlichen und demographischen Wachstums.“[2]
Nun, die moderne Wissenschaft wird nicht müde, diese Einsicht in unzähligen Veröffentlichungen mit immer neu verstörenden Daten zu bezeugen. Epplers Beschreibung der Endlichkeit des Erdballs war umfassender als das, was wir heute unter Klimapolitik verstehen, nämlich die Reduktion von Treibhausgasen. Sind „wir“, ist die gewerkschaftliche Klimapolitik zu der Einsicht gekommen, dass unbegrenztes Wachstum auf einem endlichen Erdball nicht möglich ist? Meine erste These ist, dass dies nicht der Fall ist.
Widersprüche der sozialökologischen Transformation. Die Bekämpfung der Klimakrise vertieft die ökologische
Seit dem Beginn der 2000er Jahre hat sich die Klimapolitik der Gewerkschaften enorm weiterentwickelt. Die Dokumente sind zahlreicher und konkreter geworden. Kaum eine Gewerkschaft in Europa, die auf ihrer Internetseite nicht das Thema Klimawandel behandelt. In Brasilien spricht man von der Klimakrise, in Südafrika von Anpassung an den Klimawandel, während die zahlreichen indischen nationalen Gewerkschaften das Thema nach wie vor weitgehend ignorieren. Es gibt noch Spannungen aber auch konstruktive Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Umweltinitiativen. Ein VW-Arbeiter sprach kürzlich im Radio darüber, dass ihn die Bewegung Fridays for Future zum Nachdenken und zum Umdenken gebracht hat. Die Autoproduktion habe keine Zukunft und die VW-Werke sollten sich darauf einstellen, andere Fahrzeuge wie Straßenbahnen herzustellen.
Gewerkschaften entwickeln eine Klimapolitik, die sowohl die Arbeitenden als auch die Natur schützen soll. Ziele, die nicht im Gegensatz zueinanderstehen, sondern untrennbar miteinander verbunden sind. Ohne Natur keine Arbeit, jede Art von Arbeit – und von Konsumption – ist eine Transformation von Natur. Aber in einer Umgebung, in der weder Regierungen noch Unternehmen politische Strategien entwickeln, die das Leben der Arbeitenden (oder das der Natur) verbessern, stehen diese Ziele im Widerspruch. Es überrascht deshalb nicht, dass für die gewerkschaftliche Klimapolitik die Erhaltung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze, möglichst mehr als durch die Transformation verloren gehen, zentral ist[3]. Keine andere Organisation setzt sich so uneingeschränkt für die Zukunft der Arbeitenden ein.
In diesen Programmen fehlen jedoch Analysen, oder zumindest Überlegungen darüber, welche ökologischen Auswirkungen diese vielen neuen Arbeitsplätze haben werden. Es entsteht der Eindruck, es reiche aus, den Ausstoß von Treibhausgasen zu verringern, um den Klimawandel unter Kontrolle zu bekommen. Aber wie sieht es aus mit der Zerstörung von Landschaften durch immer mehr Minen für Solaranlagen, Windturbinen, Batterien, dem Verbrauch und der Kontaminierung von Wasser, der Vermüllung der Ozeane, dem Verschwinden der Biodiversität, dem Abbau der Regenwälder und der Wälder überhaupt? Vom Klimawandel, selbst von der Klimakrise zu sprechen greift zu kurz. Wir sind mit einer ökologischen Krise, d.h. mit einer Krise der gesamten natürlichen Grundlagen für das menschliche und nicht-menschliche Leben konfrontiert. Um nur ein Datum zu nennen: Am 24. September veröffentlichte das Potsdamer Institut für Klimaforschung einen Bericht zur planetaren Gesundheit, in dem es darstellte, dass „Für insgesamt neun kritische Erdsystemprozesse, die die lebenserhaltenden Systeme auf der Erde regulieren, sind planetare Grenzen definiert. Sie umreißen den sicheren Handlungsspielraum der Menschheit für einen stabilen und widerstandsfähigen Planeten. (…) Der Planetary Health Check zeigt, dass diese lebenserhaltenden Funktionen des Erdsystems gefährdet sind. Neben den sechs bereits überschrittenen planetaren Grenzen steht das Überschreiten einer siebten Grenze unmittelbar bevor. Zugleich ist den Forschenden zufolge ein klarer Trend zu weiteren Überschreitungen zu erkennen.”[4]
Wie die offizielle, so reduziert die gewerkschaftliche Klimapolitik die ökologische Krise auf die Reduktion von Treibhausgasen, eine notwendige, aber keine hinreichende Strategie, die zudem an einer weiteren Reduktion krankt, der Reduktion auf eine rein nationale Industrieentwicklung. Die schwedische Metallgewerkschaft formuliert dies sehr deutlich: „Die Industrie ist global, das ist wahr. Genauso wahr ist auch, dass jeder Arbeitsplatz in einer lokalen und regionalen Wirklichkeit existiert. Deshalb spielt das lokale und regionale Engagement eine wichtige Rolle. Die Arbeit der Regionen für Wachstum, Qualifikationen und industrielle Entwicklung muss daher national unterstützt werden, um den Arbeitsplätzen zu nützen“. Die ausgezeichneten Vorschläge für eine klimafreundliche und digitalisierte Industrie beschränken sich auf die Stärkung der schwedischen Industrie, damit sie nicht nur international konkurrenzfähig, sondern überlegen ist und Schweden wachsen kann, indem es klimafreundliche Technologien exportiert.[5]
Diese beiden Verengungen, auf die Reduktion von Treibhausgasen und auf die Stärkung der nationalen Industrie finden sich in allen gewerkschaftlichen Dokumenten zur Klimapolitik. Beide Verengungen hängen zusammen: die Einbeziehung der oben genannten Dimensionen der ökologischen Krise würde es erfordern, den Blick über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus zu lenken. Denn zurzeit findet der größte der Teil dieser Naturzerstörungen im globalen Süden, entlang der Wertschöpfungsketten statt. Gehen wir einmal davon aus, dass es gelingt, mit Elektroautos, erneuerbarer Energieproduktion, grünem Stahl und Wasserstoff die Treibhausgase substanziell zu verringern, während die Wirtschaft wächst. Der Effekt wäre, dass sich die ökologische Zerstörung vom Ende der Produktion auf ihren Beginn verlagert: auf die Zunahme von Landschaften zerstörenden, Luft und Wasser kontaminierenden, Entwaldung und die Reduktion der Artenvielfalt vorantreibenden Minen, die das Leben indigener Völker und von Subsistenzarbeitenden bedrohen. Und so wie die Klimakrise von reicheren Nationen verursacht, aber von ärmeren Ländern erlitten wird, so wird die „net zero“ Politik die reicheren Länder womöglich reicher machen – wobei der Reichtum zunehmend ungleich verteilt sein wird – während die ärmeren Länder die Hauptkosten der Naturzerstörung tragen werden.
Es gibt auch gewerkschaftliche Stimmen, die sehen, dass „grünes Wachstum“ nicht die Alternative sein kann. Das gilt vor allem für Gewerkschaften, deren Arbeitsplätze durch die Transformation nicht vom Verschwinden bedroht sind, wie zum Beispiel die Gewerkschaften im öffentlichen Sektor. So schreibt die Europäische Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes (EPSU): „das Ziel der Profitmaximierung und das Wachstum um jeden Preis treiben den Klimawandel voran.“[6]
Auch die IG Metall hat ihre Konferenz von 1972 nicht vergessen. In einer Tagung zur Erinnerung an diese Konferenz sagte Hans Jürgen Urban das kapitalistische Wachstumsmodell spalte die Gesellschaft stärker, als dass es den allgemeinen Wohlstand hebe (…) es überfordere die natürlichen Lebensgrundlagen und berge die Gefahr einer „Klima-Katastrophe“ in sich. Er schlug eine neue gewerkschaftliche Strategie vor, die eine nachhaltige Gesellschaft, nachhaltige Arbeitskraft und eine nachhaltige Natur verknüpft. Zu fragen wäre dann, “was kann und was kann nicht wachsen”. Dabei müssten die Kriterien für neue Investitionen die “Bedürfnisse der Menschen und der Natur sein”, nicht das Profitinteresse.[7] Elemente dieser Ideen finden sich in den Szenarien für einen Mobilitätssektor, die die IG Metall gemeinsam mit dem BUND entwickelt hat. In ihrem erwünschten Szenario einigten sie sich darauf, dass Suffizienz eines der Entwicklungskriterien sei
Während der Pandemie entwickelte die größte nationale spanische Gewerkschaft, Comisiones Obreras (CCOO), Ideen für eine alternative Entwicklung der Wirtschaft nach der Pandemie. Darin enthalten ist die Forderung, “angesichts des weltweiten Mangels von Rohmaterialien und der globalen chemischen Kontamination, den Gebrauch von Energie, Wasser und überflüssigen Gütern zu reduzieren.” Darüber hinaus enthält die Broschüre Forderungen nach kleineren, lokalen, ökologischen landwirtschaftlichen Betrieben, dem Schutz der Biodiversität und des Wassers. Insgesamt ist diese Veröffentlichung wohl die weitreichendste umweltpolitische gewerkschaftliche Veröffentlichung, da sie über die Reduktion von Treibhausgasen hinausgeht und eine globale Perspektive einbezieht.[9] Diese Politik ist in der Gewerkschaft nicht unumstritten, aber sie ist zumindest Gegenstand von Diskussionen.
In meiner zweiten These geht es um die Art und Weise, wie die gewerkschaftliche Klimapolitik die Produktionsarbeitenden konstruiert.
Gewerkschaftliche Klimapolitik sieht die Arbeitenden als Opfer, nicht als Gestalter der sozialökologischen Transformation
Diese These meint nicht, dass Gewerkschafter*innen die Arbeitenden bewusst als Opfer sehen (was auch der Fall sein kann), sondern dass die Art und Weise wie gewerkschaftliche Klimapolitik entwickelt wird, die Arbeitenden in den Betrieben zu Opfern macht. Wenn Gewerkschafter*innen davon sprechen, dass Arbeitende geschützt werden müssen, dass niemand zurückgelassen werden darf, dass darum gekämpft werden muss, dass mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, als verloren gehen, dann sehen wir, dass Gewerkschaften sich für die Arbeitenden einsetzen. Aber während Arbeitende sicherlich wollen, dass ihre Arbeitsplätze geschützt werden oder dass sie neue bekommen, so gibt es auch Widerstand gegen eine -Sorge, die für die Arbeitenden sorgt, aber ihnen nicht ermöglicht, ihre eigenen Perspektiven einzubringen.
Ein Arbeiter im VK drückt es so aus:
Es ging um übertragbare Fähigkeiten und ein Gewerkschafter sagte, „Mechaniker können auch Wärmepumpen bauen“. „Und ich sagte, OK, aber was ist, wenn sie das nicht wollen? (…) sagst Du dann, leider Pech gehabt?“ Und eine ganze Menge von Leuten brachten solche Erfahrungen aus den ersten Diskussionen über just transition mit.
Die schottischen Ölarbeiter, die zu 85% lieber anderswo arbeiten würden, schreiben:
Das Instrument der Sozialpartnerschaft in Just Transition Kommissionen hat die Transformationsprozesse beim Ausstieg aus der Kohleförderungen in Ländern wie Deutschland und Spanien bestimmt. Gewerkschaften und regionale Regierungen nahmen daran teil, sicherten infrastrukturelle Verbesserungen und die Schaffung alternativer Arbeitsplätze. Aber es gab keinen Mechanismus, die es den Arbeitenden auf Betriebsebene ermöglicht hätten, am Planungsprozess teilzunehmen[10].
Arbeiter in der Luftfahrtindustrie des VK fordern:
Wir müssen eine unabhängige, von den Arbeitenden entworfene Vision für die Zukunft der Luftfahrt entwerfen.[11]
Sie schlagen vor, dass die Arbeitenden sich auf Betriebsebene organisieren, um ihre Perspektiven und Vorschläge für eine alternative, sozialökologische Produktion zu entwickeln. Diese Perspektiven können dann auf regionaler – und nationaler – auf Arbeiterversammlungen diskutiert und beschlossen werden. So könnte eine Umweltpolitik der Arbeitenden von unten entstehen. Allerdings sind solche Forderungen bislang von den jeweiligen Gewerkschaften (GMB und UNISON) nicht akzeptiert worden.
Meine dritte These geht zurück auf den historischen Beginn der Gewerkschaften und behauptet, dass die Bedürfnisse der Arbeitenden über die Erhaltung/Schaffung von Arbeitsplätzen hinaus gehen.
Utopische Hoffnungen oder Utopien der Hoffnung?
In einem Interview wurde ich gefragt, ob ich eine solche Umweltpolitik von unten befürworte, weil sie besser sein würde als die von hauptamtlichen Gewerkschafter*innen entwickelte. Das kann man nicht wissen, antwortete ich und das ist nicht der Grund, sie zu fordern. Der erste Grund ist, dass demokratische Prozesse an sich wünschenswerter sind, als Prozesse in denen, diejenigen, die am meisten von der Transformation betroffen sein werden, am wenigsten darüber bestimmen. Das gilt unabhängig davon, ob die Ergebnisse eines demokratischeren Prozesses besser sind oder nicht. Dafür gibt es keine Garantie. Jedoch haben die Arbeitenden Kenntnisse über die Produktionsprozesse, die sonst niemand hat und deshalb besteht die Möglichkeit, dass eine Transformation, in der sie Handelnde und nicht Behandelte sind, effektiver werden kann. Und schließlich kann ihre aktive Beteiligung an der Transformation dazu beitragen, Ängste, Widerstände, Unzufriedenheit mit den für sie aber nicht mit ihnen getroffenen Entscheidungen abzubauen.
Auf Grundlage solcher Überlegungen erhielten wir vom schwedischen Forschungsrat, FORTE, die Mittel für unser jetziges Forschungsprojekt: Workers as Agents of a socially and ecologically just transition (Arbeitende als Akteure einer sozialen und ökologischen Transformation). Wir begannen unsere 6 Kurse mit Gewerkschafter*innen in Spanien und dem VK, mit insgesamt rund 80 Teilnehmenden aus allen ökonomischen Sektoren und aus verschiedenen Regionen dieser Länder mit einer Aufgabe, die bei allen zunächst leichten Widerstand auslöste: Bildet kleinere Gruppen und malt zunächst ein Bild von der Gesellschaft, in der wir leben. Nach der Diskussion dieser Bilder hieß die nächste Aufgabe: malt nun ein Bild von der Gesellschaft, in der ihr leben wollt. Ein Ergebnis dieser letzten Aufgabe möchte ich abschließend zur Diskussion stellen.
Zunächst waren wir überrascht, dass die Bilder aus Spanien und dem VK sich so ähnlich waren und auch zwischen der Regionen in den Ländern (Madrid, Barcelona, Jaen, Wales, Schottland, England) gab es keine wesentlichen Unterschiede. Ich beschränke mich hier auf die Liste der überall am häufigsten genannten Bedürfnisse: Kooperative Gemeinschaften, lokale Produktion und Konsumption, ein kleines Haus auf dem Lande, in dem sie ihr eigenes Gemüse anbauen konnten, Natur als integraler Bestandteil des Gemeinwesens, lebenslange Bildung, Fürsorge für andere, insbesondere für Kinder und Ältere, sowohl als Tätigkeit aller, als auch als staatliche Einrichtung, Gerechtigkeit und vor allem: weniger Arbeit[12].
Ich sah diese Bilder zunächst kritisch und wenn die Teilnehmenden sie vorstellten, fragte ich häufig: und was ist mit Antibiotika? Mir waren diese Bilder zu romantisch, es kamen in ihnen nicht die Bedürfnisse vor auf die niemand würde verzichten wollen, die aber Großproduktion, Verwaltung, Gesundheitssysteme, kurz, Arbeitsprozesse erforderten, die notwendig sind, aber anders organisiert werden müssen, wenn, wir auf einem endlichen Planeten überleben wollen. Arbeit kam nur als etwas vor, das weniger Zeit einnehmen sollte, aber nicht als etwas, etwas, das auch erfüllend sein könnte. Auf meine Frage, wo überhaupt die Arbeitenden seien, antwortete eine Teilnehmerin erschrocken: „wenn wir nicht mal an uns denken, wer soll es dann tun?“
Mir fehlte eine realistischere Zukunft, in der die Konflikte und Probleme, die im ersten Bild der heutigen Gesellschaft dargestellt worden waren, eine Lösung finden würden. Eine Zukunft, in der nicht das ganz andere stattfand, sondern in der die destruktive Form der gegenwärtigen Produktion in eine regenerative Ökonomie überführt würde. Kurz, ich vermisste, was Erik Olin Wright eine Realutopie genannt hatte, etwas hier und heute machbares, das in eine andere Zukunft zeigt[13].
Wir waren in Glasgow, als der Kommentar einer Teilnehmerin mich dazu brachte, neu nachzudenken und die Bilder der harmonischen, lokalen Welt anders zu sehen. Sie sagte: “wir haben so einfache Bedürfnisse.” Auf meine Nachfrage erklärte sie, “naja, niemand hat sich eine Rolex oder einen Porsche gewünscht, irgendwas, das mit materiellem Reichtum zu tun hat. Wir wollen ein einfaches Leben.“
Ein einfaches Leben, Bedürfnisse nach einem kooperativen Zusammenleben, Leben in und mit der Natur, Zeit für Kultur, für die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten, lebenslanges Lernen. Es ging den Arbeitenden um die „Rosen“, um das Leben in Würde, oder wie es die IG Metall einst formuliert hatte, um die Qualität des Lebens.
Wie weit entfernt ist das von den alltäglichen Mühen der sozialökologischen Transformation, den Kämpfen der Arbeitenden um ihre Arbeitsplätze, die man aus den verschiedensten Gründen behalten will. Weil die Arbeit Sinn ergibt, Gemeinschaft ermöglicht, aber vor allem weil man nicht weiß, wovon man leben wird, wenn man die Arbeit verliert. Sollte man diese Bedürfnisse nach dem einfachen Leben also als rückwärtsgewandte Utopie abtun? Oder lohnt es sich, die Arbeitenden nicht nur als Lohnarbeiter*innen in die sozialökologische Transformation einzubeziehen, sondern als ganze Menschen. Lohnt es sich zu fragen, in welcher Welt sie leben möchten und wie auch diese umfassenderen Bedürfnisse zum Ausgangspunkt für Perspektiven einer alternativen Produktionsweise werden könnten?
Die Diskussionen über die Utopien einer anderen Gesellschaft, in der man leben möchte, hat in unseren Kursen zum Nachzudenken darüber geführt, was wirklich gebraucht wird, worauf man verzichten könnte, also, was wachsen sollte und was nicht. Welche politischen und gesellschaftlichen Strategien wären nötig, um eine Gesellschaft aufzubauen, die nicht auf das Wachsen eines nur abstrakt durch Geld definierten Bruttosozialprodukts basiert? Zuweilen problematisierten die Teilnehmenden auch die Betonung des Lokalen in ihren Bildern. Sie hatten nicht an die globalen Verknüpfungen aller Arbeitsplätze und auch allen Konsums gedacht, nicht an die Notwendigkeit internationaler Solidarität.
Fazit
Bedürfnisse nach einem anderem Leben, in dem Geld, individuelle Karriere, materielle Identitätssymbole nicht im Zentrum stehen, können ein guter Ausgangspunkt sein für eine kritische Reflexion über eine alternative Lebens-und Produktionsweise. Es wäre nützlich, den umfassenden Begriff der Qualität des Lebens wiederzubeleben. Das könnte die Verengung des Denkens auf die bloße Verringerung der Treibhausgase (auch wenn das schon kompliziert genug ist) und auf eine bloß nationale Politik in Bewegung bringen. Die Arbeitenden nicht mehr als Opfer, sondern als Handelnde zu begreifen, ermöglicht es die existierenden Bedürfnisse[14] nach einem einfacheren und zugleich reicheren Leben in den Blick zu bekommen, ihnen Raum zu geben und sie zur Grundlage einer von unten entwickelten sozialökologischen Transformation zu machen. Ich schließe mit der Aussage eines Arbeiters aus einer Kupferfabrik in Barcelona, der uns erklärte, warum er keine Überstunden mehr macht: „Es heißt, man arbeitet, um zu leben, aber welchen Sinn hat das, wenn man keine Zeit zum Leben hat?“
[1] Im Englischen lässt sich das schöner formulieren: The past is not dead, it’s not even past.
[2] https://library.fes.de/pdf-files/akademie/online/09120.pdf
[3] https://www.tuc.org.uk/sites/default/files/2020-06/A%20green%20recovery%20and%20a%20just%20transition%20Wales%20TUC%20May%202020.pdf; https://www.dgb.de/gute-arbeit/transformation/; https://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/ituc_green_jobs_summary_en_final.pdf; (14. 10. 2024)
[4] https://www.pik-potsdam.de/de/aktuelles/nachrichten/erster-planetarer-gesundheitscheck-erde-ueberschreitet-sichere-grenzen (14.10.2024)
[5] https://www.ifmetall.se/globalassets/avdelningar/forbundskontoret/resurser/dokument/utredningsrapporter/framtidssakra-sverige_2023.pdf;
[6] https://www.epsu.org/sites/default/files/article/files/7_climate%20change_EN.pdf (14.10.2024)
[7] https://igmetall-sprockhoevel.de/wp-content/uploads/2022/01/2022_01_05-Neujahrsforum-IGM-final-kurz_HJU.pdf (14.10. 2024)
[8] https://www.mobilitaetssektor2030.de/_assets/pdf/Broschuere.pdf (14.10.2024). Der Begriff Suffizient kommt aus dem Englischen und bedeutet genug, hinreichend. Er wird vor allem in der deutschen und internationalen ökofeministischen Theorie entwickelt. Dort bedeutet er, konkrete Bedürfnisse neu zu bestimmen. Was ist hinreichend und naturverträglich? https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Biesecker_Wichterich_Winterfeld_2012_FeministischePerspe.pdf (14.10.2024.
[9] https://www.ccoo.es/b755cd0cf4703aa21ce7e827a78f256d000001.pdf .
[10] https://foe.scot/wp-content/uploads/2023/03/Our-Power-Report.pdf (14.10.2024)
[11] https://safe-landing.org (14.10.2024)
[12] Weitere Inhalte der Bilder und die ausführlichen Diskussionen, die es bei ihrer Vorstellung gab, lasse ich hier unberücksichtigt.
[13] https://www.realutopiasproject.com (14.10.2024)
[14] Man kann einwenden, dass wir keine statistisch abgesicherte Untersuchung gemacht haben, sondern nur eine bestimmte Gruppe in unseren Kursen hatten, ökologisch interessierte Gewerkschafter*innen. Das ist richtig, aber wenn 80 Personen aus verschiedenen Ländern, Regionen und unterschiedlichen Kontexten, von Industriearbeiter*innen zu Lehrer*innen die gleichen Bedürfnisse artikulieren, lohnt es sich, hier weiter nachzufragen.