Michael Müller (Bundesvorsitzender der NaturFreunde)

Einführung

Michael Müller ist einer der aktuell wichtigsten Vordenker der Umwelt- und der Friedensbewegung. Er prägt die NaturFreunde Deutschlands seit dem Jahr 1995 als Bundesvorsitzender und hat dabei die Naturfreunde für Umweltschutz, sanften Tourismus, Sport & Kultur als politischen Freizeitverband positioniert. Er umschreibt sein Credo wie folgt: „Es wird kein gutes Leben für alle geben, wenn es nicht zur Verbindung sozialer und ökologischer Gerechtigkeit kommt. Das ist mein Ziel und das der NaturFreunde, dafür setzen wir uns ein.“

Bereits seit den 1980er-Jahren engagiert sich Michael Müller im Kampf gegen die Erderwärmung, für den Atomausstieg, für den Frieden und für die sozialökologische Transformation der Gesellschaft. Tat er dies jahrzehntelang in erster Linie als Politiker (SPD), weitete er in den letzten Jahren auch seine publizistischen Aktivitäten immer weiter aus.

Michael Müller betont immer wieder die Notwendigkeit, die großen Zusammenhänge zu sehen. Weil die Naturzerstörung heute eine globale Dimension und

damit eine völlig neue Qualität erreicht hat, müsse die Ökologie zum Ausgangspunkt aller Überlegungen werden. „Die Natur- und Umweltschutzbewegung muss in der heutigen Transformationsdebatte eine Schlüsselrolle für den sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft einnehmen, die sich nicht allein aus den ökologischen Themen ergibt. Sie muss die Umweltpolitik zur Gesellschaftspolitik machen und neue Allianzen mit Partnern schmieden – insbesondere den sozialen Bewegungen – und eine aktiv gestaltende Rolle in der sozial-ökologischen Gestaltung des Transformationsprozesses einnehmen.“

Michael Müller plädiert dabei für ein neues Gesellschaftsmodell, das die großen europäischen Ideen bewahrt und mit den Notwendigkeiten einer sozialökologischen Transformation verbindet. Gerade im Anthropozän, der Menschenzeit, brauche die Menschheit eine neue Qualität menschlicher Verantwortung und Solidarität. „Der Schutz der sozialen und natürlichen Mitwelt erfordert eine sozial-ökologische Gestaltung der Transformation – nicht nur durch die Ökologisierung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, sondern auch durch weitreichende Änderungen im Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, mehr Gerechtigkeit faire Umverteilung auch in der primären Verteilung, mehr Aufklärung, Vernunft und Verantwortung sowie durch mehr Demokratie und Beteiligungsrechte.“ (Aus der Würdigung zu seinem 75. Geburtstag durch die NaturFreunde).

Unser Gespräch

Herr Müller, Sie sind Bundes-Vorsitzender der Naturfreunde und haben  reichhaltige Erfahrungen in der Politik sammeln können. Wenn Sie mit ein paar Worten beschreiben könnten, was im Hinblick auf die Erde für Veränderungen anstehen und vor allem wie sollen Sie mit den Menschen umgesetzt werden?

Es geht vornehmlich um drei gewaltige Herausforderungen für die Stabilisierung des Erdsystems, damit menschliches Leben weiter ermöglicht bleibt:

  1. Die Sicherung des Klimasystems im Atmosphärenschutz, den ozeanischen Systemen und den biologischen Kreisläufen. Die erste Schlacht ist allerdings bereits verloren, nämlich die Ziele des Kyoto-Vertrages. Auch die proklamierte Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius ist nicht mehr zu erreichen. Selbst bei einer Einhaltung der in Paris 2015 vorgelegten Selbstverpflichtungen, deren Nichteinhaltung aber nicht sanktioniert werden kann, würde je nach Annahmen die Temperatur um 2,8 bis 3,2 Grad Celsius ansteigen. Aber selbst davon sind wir entfernt. Die Situation ist viel dramatischer als die öffentlichen Beruhigungspillen zur angeblichen „Klimaneutralität“, die in 10 bis 20 Jahren erreicht werden soll. Nein, die Daten zeigen: So wie bisher kann es nicht weitergehen.
  2. Die Zerstörung der Biodiversität. Eine Million Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Heute sterben jeden Tag etwa 150 Arten aus. Jeden Tag wird eine Historie der Evolution vernichtet. Dagegen dauert es sehr lange – etwa eineinhalb Millionen Jahre, bis eine neue Art entsteht. Die „Krefelder Studie“ zum Insektensterben, die zwischen 1989 und 2015 an über 60 Standorten erstellt wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass es in den letzten 30 Jahren in Deutschland mehr als 75 Prozent Verlust an Biomasse bei Fluginsekten gegeben hat. Das bedeutet, wir verlieren die Masse der Insekten. Es gibt Möglichkeiten, auch bezahlbare, das Sterben zu stoppen, aber das steht nicht im Zentrum des politischen und gesellschaftlichen Interesses. Um uns herum stirbt die Natur, aber das Artensterben findet noch weniger Aufmerksamkeit als die Klimakrise. So schreitet das größte Artensterben seit etwa 70 Millionen Jahren weiter voran.
  3. Der grüne Kolonialismus durch die Ausplünderung der Ressourcen. Erbitterte Verteilungskämpfe werden die Folgen sein. Und sie werden sehr ungleich über die Erde verteilt sein, so dass auch die Gefahr militärischer Interventionen zur Sicherung der Ausbeutung und Verteilung der knapper werdenden Ressourcen zunimmt.

Natürlich, die Natur wird nicht sterben, sondern sich in neuer Form wieder stabilisieren. Aber es stirbt die Natur wie wir sie kennen und es verändert sich das Erdsystem, auf die menschliches Leben angewiesen sind.

In der Konsequenz bedeutet das: Wir müssen begreifen, wo die Grenzen sind, was wir dem Erdsystem antun und was wir tun müssen, um es dauerhaft für menschliches Leben zu schützen. Der Ausgangspunkt ist: Von 1784, als mit der Entdeckung des Newtonschen Parallelogramms (Dampfmaschine) das Industriezeitalter begann, bis heute haben sich die Eingriffe in die Ökosysteme rd. vertausendfacht, in den Industriestaaten hat sich pro Kopf die Ressourcennutzung mindestens verzwanzigfacht und die Weltbevölkerung nahezu verachtfacht. Mit dem Schneller, Höher und Weiter überlastet der Mensch die Natur. Er muss lernen, in Kreisläufen zu denken, mehr Gerechtigkeit in der Verteilung der Güter zu verwirklichen, mehr Effizienz zu organisieren und sich auch über die ökologischen Grenzen des Wachstums, die einzuhalten sind, Klarheit zu verschaffen. Kurz: Umweltpolitik muss zu einer gerechten Gesellschaftspolitik werden.

Herr Müller, Sie haben ja selbst eine Ausbildung gemacht, was ist heute im Hinblick auf das „Stichwort“ Nachhaltigkeit in einer Ausbildung angesagt?

Natürlich muss – wie auch in den Schulen – die „ökologische Ausbildung“ verbessert werden. Aber nicht nur das: Wir brauchen das Bewusstsein für das „Prinzip Verantwortung“. Verantwortung erfordert Reflexion. Reflexion über die Folgen unseres heutigen Handelns für Mensch und Natur. Die „Wachstumsmoderne“ muss zu einer „Reflexionsmoderne“ werden. Ich war selbst an der Ideengebung der Nachhaltigkeit beteiligt, sie verlangt vor allem Denken in längeren Linien und die Übernahme von Verantwortung für Mensch und Natur.

Es gibt Fridays for future und viele andere Initiativen im Bereich „Umwelt-Natur“. Sind die Schulen und Hochschulen Vorreiter und Vorbilder bei der Umsetzung von Nachhaltigkeit?

Das sehe ich bislang nicht. Das Entscheidende ist, das es nicht zu einem grünen Neoliberalismus kommt. Aber auch durch die Schwäche der Gewerkschaften in ökologischen Fragen fehlt das, was dafür das Wichtigste ist: Die Einbindung der Reformen, besser der sozial-ökologischen Gestaltung der großen Transformation, in gefestigte Solidarstrukturen. Dies ist notwendig, statt dass sie weiterhin von den Märkten vorangetrieben wird. Die Reformbewegung muss die soziale Kraft gewinnen, sich gegen das gewinnorientierte Verwertungsprinzip, das heute dominiert, durchzusetzen und das muss gleichrangig für Mensch und Natur geschehen. Ich hoffe natürlich als „Alt 68er“, dass es eine neue Studentenbewegung gibt, die unser Land aufmischt, aber das braucht mehr als einen radikalen Individualismus.

Sie lehnen die Idee eines grünen Wachstums ab, auch den Green Deal der EU.
Warum und was ist ihre Idee?

Was heißt ablehnen? Der Green Deal greift zu kurz. Die Idee des New Deals, an dem Brüssel wohl anknüpfen will, kam aus der Pokersprache: In einer verfahrenen Situation die Karten neu austeilen. Historisch gibt es dafür eine eindrucksvolle Karikatur: An einem Tisch sitzen ein Unternehmer, ein Banker und ein Politiker in vornehmer Kleidung, davor stehen ein Arbeiter, ein Handwerker und ein Landwirt und fordern einen New Deal. Bei allen Schwächen der nationalistisch-sozialen Politik Franklin D. Roosevelt: Der New Deal führte zum Wohlfahrtsstaat, in Deutschland zur sozialen Marktwirtschaft. Das bedeutet auch für einen heutigen politischen Deal, dass er auf einer sozialen Grundlage erfolgen muss. Das Entscheidende war: Die Marktwirtschaft sozial gestalten. Das wichtigste Mittel des New Deal war wirtschaftliches Wachstum.

Das aber gerät heute an Grenzen, an Grenzen der ökologischen Machbarkeit. Von daher stellt sich die Frage, ob dadurch nicht die Notwendigkeit des Umbaus zeitlich weiter verschoben wird. Das ist mein wichtigster Einwand. Der ökologische Umbau kann nur gelingen, wenn er erstens sozial gerecht gestaltet wird und zweitens die Belastungsgrenzen der natürlichen Lebensgrundlagen beachtet. Der Öko-Deal bleibt in der „(Un-) Logik“ der Linearität, aber unsere Zeit braucht das Denken in Kreisläufen und muss die Grenzen des Wachstums beachten. Darum geht es.

Sie haben mit Hubert Weiger einen ausführlichen Beitrag über die Sozial-und Umweltenzyklika Laudato Si von Papst Franziskus veröffentlicht. Sie zitieren den Papst:

„Es gibt nicht zwei Krisen nebeneinander, einer der Umwelt und der Gesellschaft, sondern eine einzige und komplexe sozial-ökologische Krise“ Sie schreiben „Wenn wir diesen Zusammenhang erkennen, kommen wir (Zitat Papst Franziskus) „ nicht umhin anzuerkennen, das ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde“. Vor allem in dieser Lehrschrift geht der Ansatz weit über die bisherige Umweltpolitik hinaus, sie fordert eine sozial-ökologische Reformpolitik.

Meine Frage: Haben die Gewerkschaften und die linke Politik diesen politischen Ansatz schon so richtig wahrgenommen?

Nein, leider nicht. Bis heute wird die Umweltpolitik (schon der Name ist falsch, denn es geht um die Mitwelt und dabei um die Gleichrangigkeit von sozialer und ökologischer Mitwelt) als „Ergänzungsthema“ gesehen, als ob die Politik so bleiben kann, wie sie ist, aber nur um die „Umweltpolitik“ erweitert werden muss). Das ist der Gedankenfehler. Es geht um eine grundlegende Korrektur. Das ist die Aufgabe, aber auch die Chance der ökologischen Erneuerung, denn dann wird der Umgang mit Natur und Ressourcen zum wichtigsten, weltweit gebrauchten Produktionsfaktor.

Wie ist die aktuelle Bewertung der deutschen Politik? Gibt es da positive Ergebnisse?

Tiefe Enttäuschung. Aber es gehört auch zur Realität, dass die denkbaren Alternativen noch viel schlechter wären. Und bei der CDU/CSU besteht die zusätzliche Gefahr, dass sie der nationalistischen Brautschau erliegen kann.

Verkehrspolitik ist ja schwierig. Was ist hier realistisch zu fordern und umzusetzen?

Ja, aber auch hier gibt es interessante, weiterführende Konzepte – zum Beispiel vom Wuppertal-Institut. Als das Wichtigste sehe ich die öffentlichen Verkehrssysteme. Sie müssen verbessert, flexibler und attraktiver werden – und sozial günstiger und verträglich. Wie in den 1920er Jahren, als es in einigen Ballungsräumen zu einem starken Modernisierungsschub kam, muss es auch heute Vorreiter geben.

Welche Aufgabe hat der Staat insgesamt im Bereich „Umwelt“? Verhindern die Finanzmächte wirkliche Veränderungen?

Eine Fixierung auf die Preissteuerung, wie sie zum Beispiel in der Klimapolitik zu erkennen ist, würde die soziale Schere vertiefen und Umweltpolitik zu einer Frage des Einkommens machen. Das würde das Notwendige nicht möglich machen. Nein die „Öko-Steuern“ sind nur eine Maßnahme unter vielen. Die Finanzinteressen sind zudem kurzfristig, während ökologisches Denken langfristig sein muss. Und auch der Staat muss das Ordnungsrecht stärken. Für mich ist das Wichtigste „mehr Demokratie zu wagen“. Wir müssen die kreativen und solidarischen Lebensformen fördern und stärken. Unsere Gesellschaft braucht neue sozial-ökologische und emanzipatorische Lebensstile.

Welche Aufgabe und Rolle haben hier die Gewerkschaften?

Die Gewerkschaften haben in der fordistisch-strukturierten Industriegesellschaft eine zentrale Rolle als Gestaltungskraft eingenommen. Das ist vorbei, aber nunmehr bleibt unklar, wie eine Gegenmacht zu Kapital- und Finanzinteressen organisiert wird, um soziale und ökologische Ziele durchzusetzen. Die Gewerkschaften müssen sich den ökologischen Fragen stärker öffnen und neue Bündnisse suchen.

Michael Müller, wir danken sehr für dieses Interview.

Autor

  • Michael Müller wurde am 10. Juli 1948 in Bernburg (Saale) geboren, ging in Düsseldorf zur Schule, machte eine Ausbildung als Stahlbetonbauer und studierte Ingenieurwesen, Betriebswirtschaftslehre sowie Sozialwissenschaften. Seine politische Laufbahn begann er im Rat der Stadt Düsseldorf, wurde dann stellvertretender Bundesvorsitzender der Jusos (1972–1978), Mitglied des Deutschen Bundestags (1983–2009), umweltpolitischer SPD-Fraktionssprecher (1992–1998), Sprecher der Parlamentarischen Linken (1998–2006), stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion (1998–2005) und schließlich Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2005–2009).Michael Müller war zudem Mitglied bedeutender Enquete-Kommissionen im Bundestag wie „Chancen und Risiken der Gentechnologie” (1984–1987) sowie „Schutz der Erdatmosphäre” (1987–1990). Schon damals brachte er das 1,5-Grad-Ziel in die politische Debatte ein. Seiner Arbeit ist es maßgeblich zu verdanken, dass 1991 ein Kabinettsbeschluss der Bundesregierung zustande kam, der eine Reduktion der nationalen Kohlendioxid-Emissionen um mindestens 25 Prozent bis 2005 vorsah. Michael Müller war zudem Vorsitzender der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt” (1992–1998), arbeitete mit in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft” (2010–2013) und war von 2014 bis 2016 Co-Vorsitzender der Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe”, auch als „Endlagerkommission“ bekannt. Seit 1995 ist er zudem Bundesvorsitzender der NaturFreunde.

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