Künstliche Intelligenz und Berufsbildung

Die Rolle der künstlichen Intelligenz in der Facharbeit und Konsequenzen für die Berufsbildung

Prof. Dr. Matthias Becker Professor an der Leibniz Universität Hannover), Prof., Dr. phil., Dr. h. c. Georg Spöttl (Direktor des Zentrums für Technik, Arbeit, Berufsbildung (TAB) an der Uni Bremen), Prof. Dr. Lars Windelband (Professor für Technik und ihre Didaktik im Institut für Bildung, Beruf und Technik der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd)

Künstliche Intelligenz (KI) ist längst ein Gegenwartsthema und wirkt auf Wirtschaft, Gesellschaft und (Fach)Arbeit. Allerdings bestehen oftmals ganz unterschiedliche Einschätzungen zu den Auswirkungen: Während einerseits der Wegfall von Arbeitsplätzen und sogar Berufen prognostiziert wird, ergeben sich andererseits neue Unterstützungs- und Gestaltungsoptionen in der Arbeit. Zudem wird KI als ein mächtiges Schlagwort gehandhabt, ohne dass die dahintersteckenden realen Technologien und Anforderungen in den Blick genommen werden. Jedoch können nur dann Folgen für die Arbeitswelt und die Beschäftigten abgeleitet sowie Berufsbildungskonzepte entworfen werden, wenn der Umgang mit KI in der Facharbeit zuvor konkretisiert wurde. Die Auswirkungen der KI auf die berufliche Bildung werden bisher noch eher abstrakt diskutiert und nur sehr selten erforscht. Dabei sind die technologischen Entwicklungen in bestimmten Bereichen (u. a. Expertensysteme[1], Ansätze maschinellen Lernens, digitaler Zwilling[2]) schon so weit vorangeschritten, dass die Auswirkungen auf die Facharbeit zu spüren und damit ersichtlich sind. Dabei wird viel von der Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle abhängen.

1. Vorbemerkungen

Der Artikel stellt ein Modell vor, das eine Hilfestellung für die Beschreibung, Entscheidung und Bewertung von KI gestützter Facharbeit ermöglicht. Mit Hilfe des Modells werden Hinweise gegeben, welche Inhalte für die Ausgestaltung von Facharbeitsberufen relevant sind. Die naheliegende Frage nach neuen Berufen auf der Facharbeiterebene wird im Artikel nicht verfolgt. Um dies leisten zu können, sind weitere Forschungsarbeiten notwendig. Die bisher vorliegenden empirischen Arbeiten sehen eher eine Notwendigkeit in der Modernisierung und Umgestaltung der vorhandenen Berufe.

2. Industrie 4.0 und die Autonomie der Technologien

Eine für die Berufsbildung zentrale Frage ist: Kann Technologie menschliches Leistungsvermögen und menschliche Intelligenz ersetzen und wie verändert das die Qualifikationsstrukturen und Lernerfordernisse. Zweifelsohne ist die technische Entwicklung so weit vorangeschritten, dass große Teile einzelner Bereiche der Facharbeit durch Automatisierung beeinflusst oder gar ersetzt werden können: Schweißroboter fertigen Rohkarosserien beinahe ohne menschliche Beteiligung, Transportsysteme in der Produktion fahren fahrerlos und Produkte erhalten eine Anbindung an lokale (Datenbanken) oder gar globale (Internet) Informationsnetze und steuern dadurch eigenständig Produktionsabläufe. Während also die Entlastung des Menschen bzw. auch die Entwertung oder Ersetzung menschlichen Handelns durch maschinelles Handeln längst unser privates, gesellschaftliches und berufliches Leben durchdrungen hat (vgl. Pangalos u. a 2005; Brynjolfsson/McAfee. 2014), wird zunehmend deutlich, dass die so veränderten und neu entstehenden Lebens- und Arbeitswelten selbst zum Gegenstand von Facharbeit werden. Die Automatisierung von manuellen Aufgaben (vor allem der repetitiven Tätigkeiten durch Roboter) und zunehmend auch von stärker kognitiv geprägten Aufgaben führt zu teilweise weitreichenden Veränderungen in den Beschäftigungsstrukturen, den benötigten Qualifikationsprofilen und eventuell sogar Berufsstrukturen. Dazu liegen empirische Untersuchungen der soziologischen Forschung (vgl. Rammert 2016) bis hin zur Sozionik (Sozionik ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld zwischen Soziologie und KI. Dabei geht es um die Frage, ob und wie es möglich ist, kommunikations- und kooperationsfähige Computerprogramme zu entwickeln, die sich am Vorbild der menschlichen Gesellschaft orientieren) und der Arbeitsmarktforschung (vgl. u. a. Dengler/Matthes 2018) vor, jedoch sind konkrete Aufgabenveränderungen und Kompetenzanforderungen überwiegend unbekannt geblieben. Wie also hängen Automatisierung, Digitalisierung oder gar die künstliche Intelligenz zusammen und wie verändern diese die Anforderungen der beruflichen Facharbeit und die darauf ausgerichtete Berufsbildung?

2.1 Industrie 4.0 und die Konnektivität

Kern von „Industrie 4.0“ (I40) ist die Verknüpfung physischer Komponenten – zum Beispiel einer Werkzeugmaschine – mit über das Internet informatisierten oder digitalisierten Komponenten zur Einlösung der Vision einer selbstregulierenden Produktion. Solchermaßen mit Software verknüpfte Systeme werden als cyber-physische Systeme (CPS) oder unter direkter Bezugnahme auf die Produktion als cyber-physische Produktionssysteme (CPPS) bezeichnet. CPPS-Systeme lösen die hierarchischen Strukturen der Automatisierungspyramide auf (vgl. VDI / VDE 2013) und binden Menschen und Maschinen in einer auf flexibilisierte Produktionsstrukturen ausgerichteten Produktionsweise mit Hilfe von Standardisierungsansätzen (vgl. Kellermann-Langhagen 2019) ein.

Durch die zunehmende Vernetzung von „Dingen“ entsteht ein „Internet der Dinge“ (Internet of Things – IoT). Das IoT wird dabei als Begriff für die Infrastruktur verwendet, in welcher unterschiedliche Gegenstände miteinander kommunizieren und Daten über eine Datenverarbeitung direkt verarbeitet werden (vgl. Windelband/Dworschak 2015, S. 26). Es kommt zur Interaktion im Sinne der Datenerfassung, Datenverarbeitung und des Datentransportes zwischen technischen Systemen. Dabei ist ein entscheidendes Merkmal der Interaktion die darin enthaltene „Intelligenz“, die sich daran bemisst, wie autonom die Interaktion stattfindet und daran, wie angemessen diese für unser menschliches Zusammenleben und die realen Anforderungen in der Facharbeit sind. Da das autonome Auslösen einer Interaktion Entscheidungen voraussetzt, sind genau diese unter die Lupe zu nehmen. Während altbekannte Programme mit ihrer Algorithmik im Grunde Zustände und Sachverhalte einbinden, geht die KI darüber hinaus und bewertet diese.

2.2 Intelligenz technischer Systeme als Arbeitsgegenstand

Die Eigenständigkeit der Systeme in Bezug auf Systemgrenzen überschreitende Wirkungen ist ein entscheidendes Merkmal zur Kennzeichnung der Intelligenz technischer Systeme und damit der KI. Generell ist es sehr schwierig, den Begriff der Intelligenz präzise zu fassen. Die Charakterisierung von Turing (1950) bietet bis heute den solidesten Ansatz, um „Smart Systems“ (es handelt sich um „intelligente Systeme“, die in der Lage sind, Prozesse und Situationen laufend zu analysieren und anhand der Datenlage selbstständig Prognosen und Entscheidungen zu treffen und dementsprechend auf veränderte Situationen zu reagieren) oder intelligente Systeme zu identifizieren. Der sogenannte Turing-Test besteht darin zu prüfen, ob sich ein technisches System so verhält, dass einem Menschen bei entsprechendem Verhalten Intelligenz zugesprochen würde. Für diese Prüfung sind sieben Merkmale (vgl. Becker 2004, S. 169 f.) kennzeichnend:

  1. Fähigkeit zur Informationsaufnahme, -verarbeitung, und -umsetzung in situationsadäquates Verhalten (Informieren).
  2. Fähigkeit zum Abspeichern von Funktionen im „Gedächtnis“; Wiederauffinden (Vernetzen).
  3. Fähigkeit zum Lernen aus wechselnden System- und Umgebungszuständen (Lernen).
  4. Fähigkeit, mit wechselnden System- und Umgebungszuständen entsprechende Entscheidungen zu treffen (Entscheiden).
  5. Fähigkeit zum selbstständigen Planen von Aktionen auf Grund von Erfahrungen und Merkmalen von System- und Umgebungszuständen (Planen).
  6. Zunehmende Kommunikationsfähigkeit zwischen Systemen und dem Komplex Mensch und System (Kommunizieren) und
  7. Fähigkeit der Orientierung an der Umwelt bei der Handlung in Systemen (Interagieren).

Verbunden mit diesen sieben Merkmalen sind jeweils aktive Eingriffe in Lebens- und Arbeitswelten. Mit diesen wird generell Intelligenz verbunden, um die Wirkungen „intelligenten“ Handelns zu kennzeichnen. Dazu zählt auch das intelligente interagieren mit der Umwelt und die soziale & emotionale Intelligenz.

In der Anwendung auf technische Systeme werden diese sieben Merkmale selten ohne Einschränkung erfüllt. Sie sind daher als ein Kontinuum einzelner und doch zugleich zusammenhängender Elemente zu sehen, die im Vergleich zwischen technischem und menschlichem Verhalten bewertet werden. Zudem bieten diese Ansatzpunkte zur Untersuchung von Facharbeit in von KI durchdrungenen Technikfeldern.

In der Technik lassen sich folgende Felder unterscheiden, in denen Ansätze der KI-Anwendung finden (vgl. Becker/Spöttl/Windelband 2021):

  • Fertigkeitsbasierte Systeme: Robotik, Transportsysteme, Computer Integrated Manufacturing Lagersysteme in der Logistik.
  • Wissensbasierte Systeme: Expertensysteme, Assistenzsysteme und Agenten.
  • Lernorientierte Systeme: Fuzzy Logik (eine Theorie, die vor allem für die Darstellung menschlichen Wissens und menschlicher Überlegung zur Verarbeitung in Computern entwickelt wurde), Neuronale Netze, Maschinelles Lernen und modellbasierte Verfahren.
  • Simulationsorientierte Systeme: Digitale Zwillinge.

3. Ein Modell für das Handeln im Rahmen der Facharbeit an und mit künstlicher Intelligenz

Die Weiterentwicklungen der Automatisierungsansätze hin zu technischen Realisierungen von Ansätzen künstlicher Intelligenz (KI) nähern sich immer mehr einer Implementation in Arbeitsumgebungen. Mit Hilfe eines Modells, welches „intelligentes“ Interagieren in der Facharbeit als Handeln an und mit KI kennzeichnet, wollen die Autoren eine Grundlage zur Untersuchung, Beschreibung und Bewertung dieses Handelns schaffen. Dabei ist zu beachten, dass künstliche Intelligenz das gesamte Kontinuum zwischen einfacher Informationsverarbeitung bis hin zu Denkprozessen (vgl. Minsky 1988) einerseits und andererseits auch alle Transferproblematiken zwischen kognitiv geprägten und fertigkeitsbasierten Handlungen abdeckt und damit höchst unterschiedliche berufliche Aufgaben verbunden sind.

Die in der KI verankerten sogenannten lernenden Systeme finden selbständig Lösungsansätze für ihre definierten Aufgaben, u. a. durch das Beobachten ihrer Umgebung und das Ableiten von Regeln. Dabei wird zwischen starker und schwacher KI unterschieden. „Starke künstliche Intelligenz“ wird dabei verstanden als programmierter Computer, der wie ein Mensch denkt und handelt und letztlich sogar Bewusstsein[3] haben kann. „Schwache KI“ sind darauf ausgerichtet, spezifische Aufgaben in einem vorher definierten Bereich zu lösen – und zwar nur in diesem Bereich (VDI 2018). Gewerblich-technische Berufe wie Industriemechaniker/-innen, Zerspanungsmechaniker/-innen, Mechatroniker/-innen bis hin zum Produktionstechnologen/-in sind bereits mit Auswirkungen solcher Intelligenzen in ihrem Arbeitsalltag konfrontiert (vgl. Spöttl u. a. 2016; Becker/Spöttl 2019).

Die bereits existierenden Schemata zur Einschätzung der Durchdringung oder auch Digitalisierungs-Readiness (meint den digitalen Reifegrad anhand unterschiedlicher Dimensionen) von Unternehmen und auch Facharbeit sind eher Technologiegetrieben. Eine solche Beschränkung auf die Technologiedimension ist nicht zielführend. Soziale, personale und ethische Komponenten sowie Werte und Fragen der Nachhaltigkeit müssen genauso mit integriert werden und schließlich muss das Handeln selbst einer Bewertung unterzogen werden. Auch eine bereits existierende Klassifikation der Autonomie (vgl. BMWi 2019, S. 13) kann nur ein erster Schritt sein, um berufliches Handeln einzuschätzen.

Tabelle 1: Übergeordnete Definition der von KI nicht/wenig- beeinflussten Autonomie-Stufen in der industriellen Produktion (Quelle: BMWi 2019, S. 14).

Die große Herausforderung liegt am Ende in der Beherrschung der Komplexität dieser Systeme. Heute versuchen Fachkräfte unter anderem bei der Instandhaltung ihre Entscheidungen erfahrungsbasiert zu treffen und nutzen dazu Intuition, Gefühl, Gespür und die Auswertung von unterschiedlichen Prozessdaten (vgl. Bauer u. a. 2002; Böhle 2017). Bei den KI-basierten Systemen steht die Frage im Raum, welche Eingriffsmöglichkeiten für Fachkräfte bestehen bleiben und welche (neuen) Aufgaben beim Einsatz solcher Systeme entstehen. Als Automatisierungsdilemma (vgl. Bainbridge 1983) ist bekannt, dass in immer stärker automatisierten Systemen ein Aufbau und die Nutzung von Expertenwissen auf Seiten des Menschen erschwert oder gar verhindert wird. Zugleich besteht jedoch die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit durch Fachkräfte, um in entscheidenden Situationen Fehler zu identifizieren und Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Gleichzeitig müssen Fachkräfte je nach Ausbildungsberuf lernen, diesbezügliche Daten zu analysieren sowie situationsbezogen auszuwerten und zu verarbeiten. Insofern ist ein Modell erforderlich, mit dem das Handeln der Fachkräfte in und an KI-beeinflussten Systemen beschreibbar wird. Dabei ist zu beachten, dass es „die KI“ nicht gibt, sondern dass diese in der Realität stets ein Kontinuum der analytisch beschriebenen fünf Stufen umfasst.

Eine Erweiterung der Kennzeichnung einer Industrie 4.0-Durchdringung in den zwei technologisch dominierten Perspektiven „Produkt“ und „Produktion“ (wie von der VDMA-Klassifizierung in den Mittelpunkt gestellt) wird durch die Kennzeichnung von Arbeitsanforderungen erreicht. Letztere werden in einen Handlungszusammenhang in der Produktion bzw. im Umgang mit dem Produkt gebracht. So werden Handlungsräume und veränderte Arbeitsprozesse aus Sicht der Fachkräfte deutlich. Dadurch entsteht eine Klassifizierung der Durchdringung von Handlungsräumen der Fachkräfte durch CPS und KI. Die fünf Stufen der Autonomie (vgl. Tabelle 1) werden verbunden mit dem Umgang der Fachkräfte mit dem jeweiligen Grad der KI-Ausprägung und den konkreten Produkt- und Prozesstechnologien von Industrie 4.0. Ausschlaggebend ist dabei die Interaktion der Fachkräfte mit dem jeweiligen Grad der Ausprägung, der wiederum durch die entstehende Mensch-Maschine-Kollaboration gekennzeichnet ist. Denn es sind die Mechanismen der künstlichen Intelligenz, die einmal Fachkräfte-Handlungen automatisieren oder aber Abläufe verändern, so dass dann Fachkräfte genau mit diesen veränderten Abläufen umgehen müssen.  Die Automation mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (vgl. Hirsch-Kreinsen/Karačić 2019) wird so zum Handlungsgegenstand von Facharbeit, und zwar entweder die Realisierung der Automation selbst oder eben der durch Automation veränderte Arbeitsprozess.

Die Stufe 1 ist dadurch gekennzeichnet, dass Informationen zu einem Produkt oder einem Prozess einem Objekt angeheftet werden können und Fachkräfte genau damit konfrontiert sind. Bei automatisierten Montagesystemen sind sie z. B. herausgefordert, Auftragsdaten, Produktionsdaten und Lieferdaten zusammen mit dem Produkt zu betrachten und ggf. mit geplanten Produktionsabläufen in Beziehung zu setzen. Fachkräfte werden hier mit einer neuen Variante des Informationstransportes konfrontiert und müssen damit umgehen können, sowohl im Sinne der Verarbeitung der Informationen als auch durch Nutzung eines intelligenten Verfahrens im Transport von Daten und Informationen.

Hat das Objekt bzw. Asset selbst eine Form künstlicher Intelligenz, ist es also mit einem Mikroprozessor und einem Programm mit entsprechender Logik ausgestattet, ergibt sich Stufe 2 der Ausprägung von CPS. Eine solche Konstellation nennt man embedded system (ein eingebettetes System ist ein digitales System – auch Computersystem genannt -, das in ein umgebendes technisches System eingebettet ist und mit diesem in Wechselwirkung steht). Möglichkeiten der Stufe 1 werden in den Gegenstand selbst eingebettet und nicht mehr angeheftet. Industrielle Produkte auf der Basis von embedded systems können mit verschiedenen Daten versorgt werden und erhalten dadurch unterschiedliche Eigenschaften. Zusätzlich ergeben sich je nach vorhandenen Schnittstellen an den embedded systems Möglichkeiten der automatisierten Weitergabe von Informationen an andere Anlagenteile. Fachkräfte erledigen dann Aufgabenstellungen der Codierung (Anpassung in Bezug auf eine bestimmte Konfiguration), Parametrierung (Versehen des Objekts mit einer bestimmten Eigenschaft) oder Überwachung der Selbstregulierung (automatisierte Weitergabe der Information an ein anderes Anlagenteil).

Stufe 3 der CPS-Ausprägung besteht in der Interaktion zwischen Werkzeugen, Computern und Anlagen. D. h., „Dinge“ mit Eigenschaften der Stufe 2 geben in beide Richtungen in Abhängigkeit von Systemzuständen oder ausgelöst durch vordefinierte zeitliche Abstände bzw. „Jobs“ selbstständig Informationen weiter und verändern die Art des Funktionierens des Produktionssystems selbsttätig. Durch die Vernetzung zwischen Werkzeug und Anlage wird etwa eine Anlagenüberwachung, eine Störungsdiagnose oder eine Fernwartung möglich. Ein Beispiel ist die CAD-CAM-Kopplung in der Werkstattfertigung mit Anbindung an Qualitätssicherungssysteme, etwa um Verschleißdaten von Werkzeugen zu erfassen und zu dokumentieren.

In Stufe 4 werden Produktionsdaten genutzt, um Produktionsprozesse zu beeinflussen. Ein smart meter (ein Smart Meter – intelligentes Messsystem – ist ein digitaler und internetfähiges Messsystem, das über eine Kommunikationseinheit (Gateway) verfügt. Dadurch können aktuelle Verbrauchsdaten kommuniziert und vom Nutzer abgefragt werden) speist etwa in Abhängigkeit des Strompreises elektrische Energie in das Netz ein oder eine erkannte Reduzierung des Abnutzungsvorrats (Verschleiß) einer Maschine veranlasst die Bestellung eines Werkzeuges automatisch. Solche Interaktionen sind durch Fachkräfte zu überwachen, zu installieren und zu konfigurieren und ggf. an veränderte Produktionsumgebungen anzupassen.

Stufe 5 entspricht schließlich der eigentlichen Vision von Industrie 4.0. Unter Einschluss des Menschen werden den Dingen (Werkzeuge, Anlagen, Systeme) „intelligente“ Eigenschaften verliehen, so dass sich das Gesamtsystem bzw. der Prozess selbst reguliert soweit dieses technisch möglich ist. Inwiefern diese Stufe neue Aufgaben für Fachkräfte generiert und welche Rolle Fachkräfte noch wahrnehmen, ist derzeit noch am wenigsten absehbar und stellt eine unternehmensspezifische und auch gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe dar.

Tabelle 2: Modell zur Beschreibung der Facharbeit an und in KI-beeinflussten (Produktions)systemen (in Anlehnung an Becker 2016, S. 74)

Es zeigt sich die Notwendigkeit, die technologielastige Betrachtung von Produkten und Prozessen deutlich zu erweitern, indem die Autonomie der resultierenden Mensch-Maschine-Systeme als solche und insbesondere als Arbeitsgegenstand beruflicher Facharbeit mit in den Blick genommen wird. Dieser Schritt ist eine Grundbedingung für eine humanzentrierte Produktion und Montage. Darüber wird eine sozio-technische Arbeitsgestaltung erst möglich.

4. Beispiel für berufliche Facharbeit an und mit künstlicher Intelligenz

Es ließen sich jetzt zahlreiche Beispiele für das Handeln mit und an KI-gestützten Systemen anführen (vgl. Becker/Spöttl/Windelband 2021, S. 45 ff.), von denen exemplarisch eines genannt werden soll, welches den „neuen“ Charakter von Facharbeit recht gut aufzeigen kann: Das Arbeiten mit digitalen Zwillingen.

Digitale Zwillinge finden sich bereits dort in der Produktion im Einsatz, wo sie als Weiterentwicklungen von Simulationsprogrammen ganzheitliche Abbildungen der Realität einschließlich aller physikalischen Eigenschaften darstellen können: Im Bereich der vorausschauenden Instandhaltung (Preventive Maintenance), beim Energiedatenmanagement, bei der Ressourcenoptimierung oder der Produktionsplanung zur störungsfreien Produktion. Fachkräfte arbeiten an der digitalen Kopie wie an der physischen Anlage, um diese in Betrieb zu nehmen, Wartungsbedarfe zu ermitteln sowie den Energie- und Materialverbrauch zu reduzieren. Ein Anwendungsbeispiel ist die weit verbreitete Automatisierungsumgebung von Siemens mit NX (NX ist ein vollständig dreidimensionales System mit doppelter Genauigkeit das die exakte Beschreibung fast jeder geometrischen Form ermöglicht) und dem TIA-Portal (Totally Integrated Automation Portal: ermöglicht den vollständigen Zugriff auf die gesamte digitalisierte Automatisierung), in dem verschiedene Simulations- und Steuerungsprogramme für die Produktion zusammengeführt werden (vgl. Siemens 2018). Zukünftig wird hier auch der Umgang mit „Internet-Betriebsumgebungen“ wie MindSphere (MindSphere ist eine industrielle IoT-Service-Lösung, die hochentwickelte Analysefunktionen und KI nutzt, um IoT-Lösungen von Edge bis Cloud umzusetzen)mit zu den Aufgaben gehören. Bei den digitalen Zwillingen erreicht allerdings die Abstraktion und die theorieorientierte Vorgehensweise teilweise ein Niveau, welches jedenfalls zur Zeit noch vorrangig den Einsatz akademisch ausgebildeter Fachkräfte erforderlich macht.

Der Wechsel zwischen der Arbeit in der Virtualität und Realität wird durch die digitalen Zwillinge zunehmend zum Alltag in der Facharbeit, und interessanter Weise ist es der Mensch, der diesen Wechsel und die Interaktivität zu gestalten und zu überwachen hat. Zweifelsohne lässt sich auch dieser Wechsel automatisieren und so menschliche Arbeit entwerten. Es bleibt eine Gestaltungsaufgabe, ihn so zu gestalten, dass eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz überwiegt. Von den Autoren beobachtete Beispiele aus der Facharbeit weisen dabei darauf hin, dass ähnlich wie bei dem Automatisierungsdilemma ein Ausblenden menschlichen Handlungsvermögens dabei schwierig, wenn nicht unmöglich ist. Ein ganz einfaches Beispiel: Eine voll automatisierte Fertigungsstraße zur Herstellung von Kugellagern kann nicht die veränderten Rahmenbedingungen durch das Zwischenlagern von Außenringen, die in dieser Zeit Rost ansetzen, einbeziehen. Trotz Vollautomatisierung ist es der Mensch, der Aufgrund von Erfahrungswerten Aufmaße für die „vollautomatisierte“ Fertigung bestimmt.

5. Fazit

Unser Modell kann eine Hilfestellung für die Beschreibung, Einschätzung und Bewertung KI-gestützter Facharbeit sein. Vor allem sollen falsche Schlüsse für die Gestaltung von gewerblich-technischen Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplänen vermieden werden, indem die beruflichen Handlungsabläufe inhaltlich genauer untersucht werden. Dabei kommt es nicht nur auf die Betrachtung technologischer Veränderungen an, sondern auch auf die Verschiebungen der Kommunikations-, Kooperations- und Kollaborationsstrukturen aufgrund der Organisation der Prozessabläufe. Durch die KI beeinflusst entstehen veränderte Kompetenzanforderungen an beruflich Qualifizierte, die in teilweise vollständig veränderten Arbeitsorganisationsstrukturen Aufgaben bearbeiten.

Für die Berufsbildung lassen sich einige offene Fragen ableiten, die zukünftig relevant sein werden:

  • Entstehen durch den Einfluss von KI eigenständige neue, oder eher integrative und veränderte Kompetenzanforderungen?
  • Die zunehmende Autonomie der Technik auch mit Wirkung auf Handlungsstrukturen führt zur Ersetzung beruflicher Kompetenzen, bestimmter beruflicher Qualifikationen und ggf. gar ganzer Berufe. Wie bei der Frage des Automatisierungsdilemmas (vgl. Bainbridge 1983) steht nun unter dem Einfluss von KI die Frage des Autonomiedilemmas[4] im Raum: Wenn Kompetenzen, Erfahrungen und Entscheidungsgrundlagen für bestimmte Handlungszusammenhänge in Maschinen „aufgehen“, wie können diese dann für Lernprozesse und die Überlieferung an nachfolgende (Fachkräfte)Generationen aufbereitet werden?
  • Entstehen durch den Einfluss von KI-gestützten Technologien neue Berufe oder neue Zuschneidungen wie bspw. Hybridberufe? Nach der Einführung von Produktionstechnologen, die eher aus dem Gedanken einer optimierten Produktionsorganisation heraus entstanden sind, stehen nun Überlegungen zu einer Ablösung von Industriemechaniker/-innen durch Asset-Manager (ein Asset ist im Industrie 4.0-Kontext jeder virtuell abgebildete Gegenstand, der einen Wert für eine Organisation besitzt. Vereinfacht gesagt: Jedes Objekt in der physischen Welt, welches eine Verbindung zum Internet hat) im Raum. Grundlage für ein solches Berufsprofil wäre ein empirisch identifizierbares Aufgabenspektrum, welches den Kriterien für einen Beruf standhalten würde.
  • Zu untersuchen ist, wie die konkreten Veränderungen in der Facharbeit aufgrund veränderter Rolle der Technik und daraus resultierende Qualifikationsanforderungen aussehen? Nur so lassen sich für die Gestaltung der Berufsbilder und Ausbildungsordnungen nutzbare Beschreibungen erstellen.
  • Wie sehen die neuen und veränderten beruflichen Aufgaben und Kompetenzanforderungen durch KI-Beeinflussung in den vier Feldern (vgl. Abbildung 1) aus, die durch die beiden Dimensionen „Informationsverarbeitung“ und „Autonomie“ aufgezogen werden? Und lassen sich die den Feldern zugeordneten Hypothesen bestätigen?

Diese Hypothesen sind:

Hypothese 1: Ein niedriger Grad der Informationsverarbeitung und eine geringe Autonomie der Technik führen zu einer Entlastung beruflicher Aufgaben durch Maschinen.

Hypothese 2: Ein hoher Grad an Informationsverarbeitung und ein niedriger Grad an Autonomie der Technik führen zu einem Zuwachs an beruflichen Aufgaben.

Hypothese 3: Ein niedriger Grad an Informationsverarbeitung und eine hohe Autonomie der Technik führen zu einer Ersetzung beruflicher Aufgaben durch Maschinen.

Hypothese 4: Ein hoher Grad an Informationsverarbeitung und ein hoher Grad der Autonomie der Technik führen zu einem hohen Anspruch an beruflichen Aufgaben, wenn diese nicht algorithmischer Natur sind und zu einem geringen Anspruch an berufliche Aufgaben, wenn sie algorithmischer Natur sind.

Abb. 1: Veränderte Aufgaben und Fachkräftekompetenz durch KI-Einfluss (vgl. Becker/Spöttl/Windelband 2021, S. 50)

[1] Ein Expertensystem stellt Menschen Lösungen komplexer Probleme in einem begrenzten Fachgebiet zur Verfügung. Es agiert quasi als Experte und unterstützt durch Handlungsempfehlungen.

[2] Ein digitaler Zwilling bezieht sich auf ein computergestütztes Modell eines materiellen oder immateriellen Objekts, welches möglichst alle Eigenschaften des physischen Objekts abbilden kann.

[3] Im Bereich der künstlichen Intelligenz drückt der Begriff des Bewusstseins aus, dass die wahrgenommene Umgebung und die Eingabedaten sich in den Computerprogrammen zu einer Abbildung der Wirklichkeit zusammensetzen lässt, die „Sinn“ vermittelt. Dieser wird durch die KI errechnet und muss sich daran messen lassen, was Menschen in einem solchen Zusammenhang als Sinn definieren würden.

[4]    In Anlehnung an die Debatte um eine zunehmend auf Überwachungsaufgaben ausgerichtete Rolle von Fachkräften durch eine Zunahme an Automatisierung hat Ohno (1988) den Begriff „Autonomation“ für die entgegengesetzte Denkrichtung der zunehmenden Autonomie der Maschinen geprägt.

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Autoren

  • Prof. Dr. Matthias Becker, Professur für die Didaktik der Metalltechnik an der Leibniz Universität Hannover, Leiter des Instituts für Berufswissenschaften der Metalltechnik. Sprecher der Arbeitsgemeinschaft gewerblich-technische Wissenschaften und ihre Didaktiken (gtw). Forschungsgebiete: Digitalisierungsanforderung an gewerblich-technische Berufe, Berufsbildungsforschung, Künstliche Intelligenz in der Technik, Lehrerbildungsforschung, Berufswissenschaftliche Forschung, Berufsdidaktik.

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  • Prof., Dr. phil., Dr. h. c. Georg Spöttl war Leiter des Institut Technik und Bildung (ITB) der Universität Bremen.  Jetzt ist er Direktor des Zentrums für Technik, Arbeit, Berufsbildung (TAB) an der Uni Bremen Campus GmbH und betreibt das Steinbeis-Transferzentrum InnoVET. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Didaktik der Metalltechnik; Internationale Berufsbildung; Berufswissenschaftliche Forschung und Arbeitsprozessforschung; Curriculumentwicklung und Lehrerbildung.

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  • Prof. Dr. Lars Windelband, Professur für Technik und ihre Didaktik im Institut für Bildung, Beruf und Technik der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Sprecher der Arbeitsgemeinschaft gewerblich-technische Wissenschaften und ihre Didaktiken (gtw). Mitherausgeber der Zeitschrift bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik - online. Arbeitsgebiete: Forschung zur Gestaltung von Arbeit und Technik, Digitalisierung und deren Konsequenzen für die berufliche Bildung, Berufswissenschaftliche Forschung, Lehrerbildung im gewerblich-technischen Bereich.

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