Prof. Dr. Markus Vogt (Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München)
Nachhaltigkeit ist aus meiner Sicht ganz wesentlich eine Frage der Transformation der Arbeitswelt. Zugleich braucht es Demokratiekompetenz in Zeiten des Umbruchs und der sich polarisierenden Gesellschaft – vor allem Bildung, politische Bildung, ethische Bildung, vielleicht auch Herzensbildung für den Umgang mit eigenen Ängsten, Unsicherheiten und Konflikten.
Mein Einführungsreferat besteht aus acht Teilen:
- Demokratie und sozialökogische Transformation brauchen sich wechselseitig
- Von der libertären Demokratie zur republikanischen Demokratie
- Repolitisierung der Nachhaltigkeit – Wider ihre technokratische Verkürzung
- Für eine nachhaltige Demokratisierung der Demokratie
- Gibt es ein Menschenrecht auf eine saubere, nachhaltige Umwelt?
- Zur Praxis der Demokratiekompetenz in der Zivilgesellschaft
- Stoffwechselpolitik: Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten
- Kollektive Zuversicht und Handlungsfreude trotz düsterer Aussichten?
Der roten Faden der Ausführungen wird bereits im ersten Abschnitt grundgelegt: Demokratie und ökosoziale Transformation brauchen, fördern und formen sich wechselseitig. Wir brauchen eine Erneuerung der Demokratie und können ihren Atem in der ökosozialen Transformation bereits hören. Zugleich müssen wir es lernen, die ökosoziale Transformation viel stärker von der Grammatik demokratischer Zustimmung und Mitwirkung her zu denken. Bisher fehlt es daran, dass alle mitgenommen werden. Demokratiekompetenz in Zeiten des Klimawandels bedeutet, dass die Polarisierungen zwischen ökologischen, sozialen und ökonomischen Zielen überwunden bzw. ausbalanciert werden.
1. Demokratie und sozialökologische Transformation brauchen sich wechselseitig
Gegenwärtig steht die Demokratie unter Druck und ist weltweit in die Defensive geraten. Damit ändern sich die Handlungsbedingungen für Nachhaltigkeit massiv: Die Chance auf die Akzeptanz von multilateralen Verträgen und weltweiter Kooperation zugunsten von Klimaschutz und Biodiversität schwindet. Das geopolitische Machtstreben von China, Russland und den USA dominiert die politische Arena. Unermessliche Summen werden für Aufrüstung ausgegeben und fehlen für Nachhaltigkeitsinitiativen. Naturzerstörung wird als Waffe eingesetzt oder als Nebenwirkung in Kauf genommen, bis hin zum Risiko eines nuklearen Infernos.
Auch die Frage, ob Kapitalismus, der überwiegend mit Systemen, die sich demokratisch nennen, verbunden ist, mit Nachhaltigkeit vereinbart werden kann, stellt sich angesichts vieler destruktiver Tendenzen des Neoliberalismus und der Korruption neu. Viele Nachhaltigkeitsakteur*innen betrachten die lange dominierende Synthese aus Kapitalismus und Demokratie skeptisch. Ich halte eine Reform des Kapitalismus, um soziale und ökologische Verantwortung zu integrieren, damit er nicht monopolisierte „Machtwirtschaft“, sondern freiheitliche Marktwirtschaft repräsentiert, für eine notwendige Voraussetzung nachhaltiger Demokratie. Entscheidend ist es, dabei nicht in alte Polarisierungsmodelle, die Ökonomie gegen Ökologie ausspielen, zurückzufallen. Wir sollten die dezentrale, damit auch freiheitliche und effiziente Dynamik von Märkten zugunsten von Ressourcenschonung nutzen. Das erfordert jedoch ein tiefgreifendes Umdenken auf allen Ebenen, das nicht ohne Bildung zu haben ist.
Demokratie ist ein fragiles Gemeingut. Wenn sie nicht neu gestärkt und stabilisiert wird, kann auch eine ökosoziale Transformation nicht gelingen. Gegenwärtig erleben wir jedoch die Rückkehr autoritären Denkens als weltweites Phänomen. Es höhlt die Demokratie von innen aus. Wolfgang Merkel spricht von einer schleichenden Erosion der Demokratie.[1] Durch die mögliche Wiederwahl von Donald Trump sowie das Erstarken der AfD in Deutschland, um nur zwei Beispiele zu nennen, sind Kipppunkte der Ent-Demokratisierung reale Möglichkeiten geworden. Dies ist aus meiner Sicht die gegenwärtig größte Herausforderung auch für globale ökosoziale Verantwortung. Politiker, die diese ablehnen, haben Rückenwind.
Was mir am meisten Sorge bereitet: Dass sich viele Bürger*innen auch in Deutschland in dem Gefühl der Überforderung angesichts der multiplen Krisen in einen demokratiefeindlichen Irrationalismus zurückziehen. Verschwörungstheorien, die einem vernünftigen demokratischen Diskurs und den Regeln demokratischer Kompromissbildung nicht mehr zugänglich sind, breiten sich aus. Mutiger Klimaschutz ist in Deutschland und in vielen anderen Ländern weltweit nicht mehr konsensfähig. Vergangenen Montag hat Bundespräsident Walter Steinmeier die zweite Novelle des Klimaschutzgesetztes unterschrieben, was mehr oder weniger einer Kapitulation vor den Lobbygruppen aus dem Verkehrs- und dem Landwirtschaftssektor gleichkommt.
(Rechts-)Populistische und rechtsextreme Strömungen leugnen vielfach den menschengemachten Klimawandel, machen sich die Unsicherheit der Menschen zunutze und instrumentalisieren die Kritik an der Klima- und Nachhaltigkeitspolitik für ihre Zwecke.[2] Andere setzen die Politik durch neue Formen des zivilen Ungehorsams unter Druck (z.B. durch Hungerstreiks). Ist dies Ausdruck einer Demokratisierung der Demokratie oder des Versuchs einer Nötigung, die die Gesellschaft weiter polarisiert?
„Demokratie und Nachhaltigkeit beeinflussen sich gegenseitig“ – so Rüdiger Hahn, Professor für Nachhaltigkeitsmanagement an der Universität Düsseldorf, in einem Interview: „Wenn wir nicht nachhaltig handeln, werden früher oder später Menschen zurückgelassen – schlechter gestellt. Und zwar durch soziale Ungerechtigkeiten und Chancenungleichheiten oder durch eklatante Umweltschädigungen. Für Demokratien ist so etwas gefährlich, da solche nicht nachhaltigen Tendenzen Unzufriedenheit und Unfrieden schüren und extremistischen Akteuren den Weg ebnen. Das führt dann womöglich zu einem Teufelskreis: Demokratien, in denen zu Extremismus neigende Akteure an der Macht sind, legen meist wenig Fokus auf Nachhaltigkeit. Ich halte eine nachhaltige Entwicklung daher für einen wichtigen Garanten für Demokratie.“[3]
Die Krise der Demokratie und das Stocken der ökosozialen Transformation verstärken sich gegenseitig. Man kann den Zusammenhang aber auch von der positiven Seite her in den Blick nehmen: Die Förderung von Demokratiekompetenz macht auch die Durchsetzung ökosozialer Ziele wahrscheinlicher. So wie umgekehrt auch eine lebendige, ökosozial engagierte Bürgergesellschaft ein Jungbrunnen für lebendige Demokratie ist. Demokratie und sozialökologische Transformation brauchen und fördern sich also wechselseitig. Die positive Korrelation von demokratischer Mitbestimmung und ökosozialer Transformation lässt sich auch auf der Ebene der Unternehmenspraxis empirisch nachweisen.[4]
Dabei gibt es jedoch zugleich ein grundlegendes Spannungsverhältnis: Es ist aus meiner Sicht offensichtlich, dass die planetaren Grenzen die Fähigkeit zu intelligenter Selbstbegrenzung der expansiven Moderne erfordern. Die ungeschriebenen Geschäftsgrundlagen unseres Wirtschafts- und Demokratiemodells sind jedoch, dass wachsende Gewinne umverteilt werden. Dadurch, dass die Möglichkeit, Konsens durch das Versprechen von wachsendem Wohlstand herzustellen, Risse bekommt, wird der gesellschaftliche Zusammenhalt in der Demokratie auf eine harte Probe gestellt. Die Demokratie hat nur Zukunft, wenn sie sich weiterentwickelt und zu intelligenter Selbstbegrenzung fähig wird.
2. Von der libertären Demokratie zur republikanischen Demokratie
Um einen Weg aus dem vermeintlichen Dilemma zwischen Freiheit und nachhaltiger Selbstbegrenzung aufzuzeigen, greift Felix Heidenreich in seinem grundlegenden Buch „Nachhaltigkeit und Demokratie. Eine politische Theorie“[5] auf die republikanische Tradition der Demokratietheorie zurück. „Wo der Liberalismus die Freiheit als individuelle Ungebundenheit feiert, konzipiert der Republikanismus Freiheit als kollektive Selbstbindung. Demokratie besteht dann nicht darin, einem Minimum an Regelungen unterworfen zu sein, sondern sich selbst als Koautor:in kollektiver Selbstbindungen zu verstehen, die den Aufbau nachhaltiger Lebenswelten ermöglichen.“ Mit anderen Worten: Wir müssen die Theorie der Demokratie selbst in eine republikanische Richtung weiterentwickeln, damit sie nachhaltigkeitstauglich wird.[6]
Ein Republikanismus der ökosozialen Transformation impliziert eine Neudeutung des Begriffs der Freiheit, indem dieser auf die Qualität und nicht die Quantität der Optionen zielt.[7] Er meint nicht nur negative Freiheit („Freiheit von“), sondern auch positive Freiheit („Freiheit zu“) sowie die sozialen, kulturellen und ökologischen Bedingungen für die Realisierungschancen von Freiheit. Heidenreich veranschaulicht dies durch das Musizieren im Orchester. Dies schränkt die Möglichkeiten des Spielens erheblich ein, erlaubt zugleich aber eine neue Erfahrung und Qualität der Freiheit als gemeinsames Musizieren. Insofern Nachhaltigkeit qualitative Freiheit meint, ist sie als Politikziel gegenüber den Mitteln und Formen, den Verfahren und Idealen der Demokratie nicht neutral. Es gibt eine Rückwirkung des Politikziels der Nachhaltigkeit auf den Politikmodus.[8]
Die gegenwärtig verbreitete Verachtung für demokratische Institutionen oder Repräsentanten ist hochgefährlich. Trotz aller Enttäuschung über fehlende oder zu träge Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele hat es Vorrang, hier nicht mit einer Politikerschelte in das gleiche Horn wie die AfD zu blasen. Politik, die in den Bahnen des Üblichen, in Parlamenten, Ausschüssen, Anhörungen und Gesetzgebungsverfahren stattfindet, sollte nicht missachtet oder unterschätzt werden. Soziale Innovation von unten sowie Elemente direkter Demokratie sind zwar durchaus ein wichtiges Element zur Demokratisierung der Demokratie, aber kein Allheilmittel. Modelle gelingender Nachhaltigkeit, die aus Graswurzelbewegungen erwachsen, sind zweifellos hilfreich. Aber wichtiger sind skalierbare Praktiken, die nachhaltige Lebenswelten kollektiv bindend durchsetzen, z.B. ein kleiner Tierwohl-Aufschlag für alle Fleischprodukte.
Auch Verbote sollten kein Tabu in einer demokratischen Nachhaltigkeitspolitik sein. Sie können bisweilen Gewohnheiten und Sichtweisen ändern und auf überraschende Weise neue Erfahrungen von Freiheit ermöglichen. Das wurde beispielsweise deutlich beim Rauchverbot in Gaststätten und könnte eine ähnliche Dynamik gewinnen bei einem generellen Tempolimit auf deutschen Autobahnen von 130 km/h.
Die Corona-Krise hat gezeigt, wie weit auch demokratische Staaten in das Privatleben ihrer Bürger*innen im Falle eines Notstands eingreifen können. Solche Eingriffe werden aber nur akzeptiert, wenn sie durch eine hinreichende, bei komplexen Fragen auch wissenschaftlich basierte Begründung vermittelt und kommunikativ plausibilisiert werden. Die Androhung von Repressionen oder Strafen allein reicht nicht aus.
Aus den durchaus sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit Freiheitsbeschränkungen in der Coronakrise sollte man für die ökosoziale Transformation lernen: Da diese sehr viel mit der privaten Lebensführung (etwa im Konsum- und Mobilitätsbereich) zu tun hat, braucht sie notwendig die aktive Unterstützung der Bevölkerung und kann nicht hinreichend gegen deren Willen durchgesetzt werden. Die Umsetzung eines wirkungsvollen Klimaschutzes vor Ort ist auf die vielfältigen Instrumente der Demokratie und in einer lebendigen Zivilgesellschaft angewiesen.[9] Auch Tarifverhandlungen der Gewerkschaften sind ein wichtiges Instrument der Demokratie. Durch den Fachkräftemangel wächst ihnen eine neue Macht zu. Beim Lockführerstreik der GDL wurde die Macht der Gewerkschaft allerdings aus meiner Sicht auf dem Rücken der Bevölkerung und des Gemeinwohls überzogen.
Eine Politik der ökosozialen Transformation lässt sich nicht erfolgreich gegen die Bürger*innen durchsetzen. Das Politische darf sich nicht in den Sachzwängen der (Tages-)Politik auflösen – so bereits Hanna Arendt. Wissenschaft darf nicht als „Kontingenzvermeidungsformel“[10] missbraucht werden, also als Theorie einer vermeintlichen Alternativlosigkeit von Entscheidungen. Nachhaltigkeit ist ein in sich pluralistisches Konzept, ein offener Entscheidungsraum, der oft unterschiedliche Wege offenlässt. Risiken sind immer auch ein soziales Konstrukt, hängen mit Werten und Präferenzen sowie sozialen Faktoren zusammen. Es gilt zu unterscheiden, wo es sich um naturwissenschaftliche Grundlagen handelt, die nach dem Motto „Mit der Natur kann man nicht verhandeln“ eindeutig sind, und wo es unterschiedliche Sichtweisen und Optionen geben kann. Bei der Abwägung zwischen den Risiken von Kernenergie und Kohlekraftwerken gibt es allerdings eine Dilemmasituation, die Raum für politisch zu legitimierende Abwägungen offenhält. Damit bin ich beim dritten Abschnitt:
3. Repolitisierung der Nachhaltigkeit – Wider ihre technokratische Verkürzung
Demokratietheoretische Fragen sind bisher in den Nachhaltigkeitswissenschaften[11] etwa im Vergleich zu empirisch basierter Klima-, Energie oder Mobilitätsforschung erheblich unterrepräsentiert. Dies liegt auch an dem vermeintlich konsensualen Charakter von Nachhaltigkeit als integralem Leitbild. Wenn es Zielkonflikte verdeckt, führt dies zu einer Entpolitisierung des Diskurses. „In vielen Fällen droht der Begriff die Zielkonflikte zu verbergen, die eigentlich einer genuin politischen Auseinandersetzung bedürften, um umfassend legitimierte, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen. In diesem Fall wird die Rede von der Nachhaltigkeit zu einem Instrument der Entpolitisierung, ja, sie kann zu einer regelrechten Ideologie werden, wenn die Zielsetzungen und die Wahl der Mittel als alternativlos dargestellt werden.“[12]
Heidenreich will einen „Beitrag zur Repolitisierung des Nachhaltigkeitsbegriffs leisten und der Frage nachgehen, welche demokratietheoretischen Folgen sich aus dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung ergeben.[13] „Die leitende These lautet, dass das Ziel der nachhaltigen Entwicklung gegenüber den demokratischen Strukturen, Institutionen, Verfahren, ja selbst gegenüber fundamentalen demokratietheoretischen Begriffen wie »Freiheit« nicht neutral ist. Eine nachhaltige Gesellschaft wird nicht auf dieselbe Art und Weise politisch operieren und sich politisch verstehen können wie eine nichtnachhaltige.“[14]
„Mit meiner leitenden These widerspreche ich einer dominanten Sichtweise, die Nachhaltigkeit als primär technische Herausforderung versteht und in den entsprechenden Debatten und Diskursen eine im weitesten Sinne ingenieurwissenschaftlich-technische Rahmung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung erzeugt: Nachhaltigkeit, so eine verbreitete Vorstellung, sei wie ein »End-of-Pipe«-Problem zu behandeln, bei dem durch technische Innovationen, Effizienzsteigerungen und die Erschließung neuer Ressourcen der Umbau zu einer nachhaltigen Lebensweise sozusagen auf der Hinterbühne der Gesellschaft erfolgen könne, ohne für die Bürgerinnen und Bürger wahrnehmbar zu sein. Diese technomorphe Verkürzung des Nachhaltigkeitsbegriffs führt dazu, dass die Nachhaltigkeitsdebatte heute in weiten Teilen ohne eine Beteiligung der Politischen Theorie stattfindet.“[15] Ein Spiegel der Dominanz technischer Zugänge sind die Curricula neuer Studiengänge zu Nachhaltigkeit, in denen politische Theorie und Ethik als Wissenschaften massiv unterrepräsentiert sind. Auch zum Klimawandel gibt es eine massive Asymmetrie zwischen der Fülle an empirischen Untersuchungen und einer sehr geringen Zahl von wissenschaftlichen gerechtigkeitstheoretischen Zugängen. Es fehlt nicht an moralischen Appellen, aber an einer differenzierten Reflexionstheorie der Moral. Der Diskurs um eine ökosoziale Transformation leidet teilweise an einem Übermaß an Moralisierung. Manche fordern deshalb eine „Moralisierungsaskese“. Niklas Luhmann definiert als Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen. Ich möchte es differenzieren und als demokratietheoretische Bildungsaufgabe fassen: Konsensbildung in den Umbrüchen der ökosozialen Transformation braucht einen selbstkritischen Umgang mit der Verwendung moralischer Sprachen. Sie braucht eine Reflexion, wie moralische Imperative zustande kommen und adressiert werden. Sie braucht ein besseres Verstehen, wie Konflikte zustande kommen und wie sie transparent und gerecht ausgehandelt werden können.
Nach dem Mainstream der politischen Theorie wird sich für den Umbau zu einer nachhaltigen Lebensweise zwar vieles ändern müssen, zum Beispiel die Energiepolitik, der Ressourcenverbrauch und das Mobilitätsverhalten; „was sich aber nicht ändern müsse, sind die Begriffe und Verfahren des demokratischen Willensbildungsprozesses.“[16] Aus dieser Sicht würde Nachhaltigkeit unsere Demokratietheorie, unsere politischen Grundbegriffe (zum Beispiel Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde) unberührt lassen. Die nachhaltige Gesellschaft würde sich demnach technisch und vielleicht auch ökonomisch von der gegenwärtigen unterscheiden, nicht jedoch politisch. Eine politische Theorie nachhaltiger Lebenswelten wäre aus dieser Sicht gar nicht nötig, weil technische, soziologische oder städteplanerische Antworten die Transformation vollständig zu bewältigen in der Lage sind. In diesem Sinne meint z.B. Christian Lindner, dass Nachhaltigkeit ein Fall für die Experten sei, und vertritt eine auf Technik und Marktmechanismen verkürzte Lesart von Nachhaltigkeit. Die technokratische Interpretation von Nachhaltigkeit erscheint politisch am ungefährlichsten, während Eingriffe in die Lebensform, wie sie von Suffizienzpolitiken impliziert werden, Widerspruch auslösen.
Die Hoffnung auf eine rein technische Lösung des Nachhaltigkeitsproblems bleibt jedoch illusionär. Uwe Schneidewind spricht von der Notwendigkeit einer „doppelten Entkopplung“: technische Effizienzsteigerung und Veränderung der Werte.[17] Man braucht technische und soziale Innovation, ebenso aber auch eine Kultur der Nachhaltigkeit, wie sie Claus Leggewie und Harald Welzer in dem Projekt „Klimakulturen“ fordern.[18]
Nicht nur Produktionsweisen, Stoffkreisläufe und Infrastrukturen müssen sich ändern, sondern auch Gewohnheiten, Erwartungen und Selbstideale der Bürger*innen sowie Standards in Konsum und Mobilität. Welzer fasst dies als „mentale Infrastrukturen“ zusammen. Es ist jedoch unklar, wie das, was in liberalen Gesellschaften als privat gilt, Gegenstand der Politik sein kann.[19] Der Aufschrei, als die Grünen versuchten, einen Veggie-Day einzuführen, hat paradigmatische Bedeutung.
4. Für eine nachhaltige Demokratisierung der Demokratie
„Demokratie könne keine Nachhaltigkeit“, so wird oft behauptet, wegen ihrer kurzfristigen Orientierung in Wahlperioden, aufgrund des dominanten Schemas der Legitimation durch Wohlstand und weil sie durch zu viele Veto-Spieler gelähmt werde, die sie zu unerträglich langsamen Verfahren zwinge sowie nicht zuletzt durch die Garantie individueller Freiheitsrechte, die klimaschädliche Formen der Selbstentfaltung schütze.[20] „ […] democratic societies have so far failed to promote real change towards sustainability. Fostering transformations towards sustainable development will require democratic reforms and innovations.”[21]
Als Konsequenz dieser Unvereinbarkeitsthese wird von manchen ein postdemokratischer Dezisionismus in der Tradition von Carl Schmitt gefordert, der einen Ausnahmezustand ausruft und Freiheitsrechte einschränkt. Dies wäre z.B. relevant für zu erwartende Umsiedlungsprojekte für möglicherweise mehrere hundert Millionen Klimaflüchtlinge bereits Mitte des Jahrhunderts bei einer „Drei-Grad-Welt“, auf die wir uns zubewegen.[22] Die Herausforderungen, dies demokratisch und friedlich zu lösen, sind gewaltig. Will man nicht demokratietheoretisch kapitulieren, ist jedoch davon auszugehen, dass die Qualitätsansprüche an Demokratie erhöht, nicht gesenkt werden. Nach meiner Auffassung sind neue Institutionen, Verfahren und Ordnungsvorstellungen nötig, um dieses Dilemma zu überwinden. Auch verfassungsrechtliche Grundbegriffe wie „Souveränität“, „Freiheit“ oder „Legitimation“ ändern sich.
Der Umweltjurist und LMU-Kollege Jens Kersten fordert als entscheidendes Instrument für die Ermöglichung und Beschleunigung einer ökosozialen Transformation ein „ökologisches Grundgesetz“.[23] Kernelement ist eine Verankerung von Schutzrechten für Tiere, Pflanzen und Landschaften durch stellvertretend wahrzunehmende Klagerechte. Man kann dies als wesentliches Element einer republikanischen Verknüpfung von Nachhaltigkeit und Demokratie sehen, insofern ökologische Klagerechte die Durchsetzungschancen von Nachhaltigkeit in der Demokratie erhöhen. Mit Claus Leggewie könnte man dies auch als „Modernisierung der Demokratie“ kennzeichnen. Nach diesem Konzept sollten NGOs und soziale Bewegungen ein weitreichendes legislatives Konsultationsrecht erhalten, ferner solle ein mit Wissenschaftler*nnen besetzter „Rat der Weisen“ als eigenständig legitimierte Vorschlagskammer agieren, um in einem „deliberativen Wissensregime“ Parlamente unter Begründungszwang zu setzen und das Gespräch mit Laien zu führen. Mit dem WBGU, dem Nachhaltigkeitsrat, dem Sachverständigenrat für Umweltfragen und dem Bioökonomierat ist Deutschland hinsichtlich der Verzahnung von Wissenschaft und Politik relativ gut ausgestattet. Es fehlt an der Umsetzung.
Elke Seefried warnt vor einer Überfrachtung der Nachhaltigkeit, die die Demokratie tendenziell überfordere: Die verschiedenen Akteure in der deutschen Demokratie verbänden „den Begriff der nachhaltigen Entwicklung beziehungsweise Nachhaltigkeit seit den 1980er Jahren mit immer neuen Zielvorstellungen und Werten: Frieden und Sicherheit, Gerechtigkeit zwischen den Generationen, den Geschlechtern und im Nord-Süd-Verhältnis, technische Modernität und Effizienz. Mit der diskursiven Strategie, Nachhaltigkeit zu versprechen, werden auseinanderstrebende Interessen und Ziele oft lediglich verdeckt, aber nicht gelöst oder ausbalanciert. In der Demokratie können konkurrierende Interessen verhandelt, aber nicht alle gleichzeitig bedient werden.“[24] Zielkonflikte und Dilemmata zu benennen ist auch eine Aufgabe der Wissenschaftskommunikation in der nachhaltigen Demokratie. Ich halte hier das Forschungsprojekt zu „Dilemmata der Nachhaltigkeit“ an der Universität Passau für wegweisend.[25] Nachhaltigkeit ist keine Welterlösungsformel für alle denkbaren Ziele, sondern es geht um eine neue Denk- und Handlungsform, systemisches Denken, das Wechselwirkungen berücksichtigt.[26] Systemisches Denken sowie der transparente Umgang mit Zielkonflikten sind wesentliche Elemente der Demokratiekompetenz.
5. Gibt es ein Menschenrecht auf eine saubere, nachhaltige Umwelt?
„Vor dem Hintergrund des Klimawandels ist inzwischen unbestritten, dass eine saubere Umwelt Grundvoraussetzung für ein menschenwürdiges Leben ist. Doch jahrzehntelang waren der Menschenrechtsschutz und der Umweltschutz zwei völkerrechtlich getrennte Bereiche. Erst seit den 1970er-Jahren fand eine schrittweise Annäherung statt. Am 28. Juli 2022 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine wegweisende UN-Resolution, in der das Recht auf Zugang zu einer sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt als ein Menschenrecht anerkannt wird. Am 29. März 2023 folgte eine UN-Resolution, in welcher der Internationale Gerichtshof (IGH) darum gebeten wurde, ein Gutachten über die Verpflichtungen von Staaten zur Bekämpfung der globalen Erwärmung zu erstellen.“[27]
Das bedeutet jedoch noch keineswegs, dass eine saubere Umwelt einklagbar wäre. Denn Resolutionen und Gutachten des IGH sind rechtlich nicht bindend. Sie können allerdings den Weg für verbindliche Beschlüsse ebnen und haben eine starke politische Wirkung. Die Vereinten Nationen fordern die internationale Staatengemeinschaft damit auf, die gegenseitige Abhängigkeit von Menschenrechts- und Umweltschutz anzuerkennen und auf staatlicher Ebene in Form von Gesetzen entsprechend umzusetzen. Auch die Anerkennung von Klimaflüchtlingen, die bisher nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, wäre eine existenzielle, aber hochumstrittene Verbindung von Nachhaltigkeit und Menschenrechten.
In Deutschland ist Umweltschutz zwar seit 1994 ein Staatsziel (vgl. GG Art. 20a). Dieses ist aber nicht mit einem einklagbaren Grundrecht zu verwechseln. Staatsziele stellen Richtlinien und Direktiven des staatlichen Handelns dar, die noch kein subjektives Recht begründen. Der Artikel 20a reicht daher allein nicht aus, um eine Klage einzureichen. Dennoch gibt es weltweit immer häufigere „Klimaklagen“ (derzeit ca. 2.000), bei denen Privatpersonen oft mit der Unterstützung von Umweltorganisationen gegenüber Regierungen und Unternehmen das Recht auf den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen einklagen.
Viele betrachten den Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom März 2021 als wegweisend. Dieser erklärte das Klimaschutzgesetz der damaligen Bundesregierung teilweise für verfassungswidrig, weil es den Klimaschutz zu sehr auf die Zeit nach 2030 verschiebt und damit die junge Generation unverhältnismäßig hoch belaste. Felix Heidenreich sieht die Entscheidung als „neues Paradigma der verfassungsrechtlichen Dynamisierung von Klimapolitik – zumal als Rechtsträger nun auch Personen anerkannt werden, die nicht unmittelbar betroffen sind. Der diesbezügliche Schlüsselbegriff lautet ‚intertemporale Freiheitssicherung‘“[28].
Der Berliner Umweltverfassungsrechtler Christian Calliess fordert schon lange ein Grundrecht auf ein „ökologisches Existenzminimum“ ähnlich dem „sozialen Existenzminimum“. Das BVG halte es mit seinem Beschluss „zumindest für möglich, dass ein solches Grundrecht eine eigenständige Wirkung entfalten kann.“[29]
6. Zur Praxis der Demokratiekompetenz in der Zivilgesellschaft
Demokratiekompetenz ist ganz wesentlich eine Frage der Praxis des bürgerschaftlichen Engagements. Dieses funktioniert nicht in einer Gesellschaft von Egozentriker*innen. Eine Kultur der Nachhaltigkeit setzt deshalb eine Distanz gegenüber dem verbreiteten Leitbild des „unternehmerischen Selbst“, das ganz darauf ausgerichtet ist, seine Optionen zu maximieren, und mit einem neoliberalen Gesellschaftsmodell korreliert, voraus. Heidenreich setzt dem ein „nachhaltiges Selbst“[30] entgegen, das seinen ökologischen Fußabdruck minimieren will und seine Freiheit qualitativ optimiert, in dem es durch kollektive Selbstbindung soziale, kulturelle und ökologische Handlungen ermöglicht, die ihm als isoliertes Individuum nicht möglich wären (vgl. dazu das oben genannte Beispiel des Musizierens im Orchester als Veranschaulichung qualitativer Freiheit).
Nach Hartmut Rosa mündet das Modell des unternehmerischen Selbst in eine programmatische Selbstüberforderung und den ökosozialen Burn-Out. Als Alternative schlägt er Resonanzbeziehungen vor, in denen die soziale, kulturelle und ökologische Resonanz als Glück erlebt wird und als Lebensziel gesucht wird. Das ist kein Maximierungsimperativ, sondern braucht vor allem Beziehungsqualität, Achtsamkeit und eine Schulung der Sinne für genaue Wahrnehmung. Ohne Resonanzbeziehungen und die Bereitschaft zuzuhören und voneinander zu lernen, verkommt die Demokratie aus der Sicht von Hartmut Rosa zum Kampfplatz für die Durchsetzung der eigenen Meinung. Das erleben wir derzeit. Die Grundeinstellung, dass mir andere etwas zu sagen haben und die Offenheit für echte Begegnung und Selbsttranszendenz verbindet Rosa stark mit Religion. Deshalb betitelt er einen inzwischen viel diskutierten Aufsatz „Demokratie braucht Religion“.
Republikanische Freiheit bedeutet, den eigenen Lebenswelten nicht nur ausgesetzt zu sein, sondern sich an ihrer Gestaltung zu beteiligen und ihr*e Mitschöpfer*in zu sein, z. B. bei der Integration von Migrant*innen, bei der Gestaltung von Grünflächen in der Stadt (Green City; Transition Town-Bewegung) oder bei der Verkehrspolitik. Dabei ist vorauszusetzten, dass die Subjekte den Lebenswelten nicht vorausgehen, sondern aus diesen hervorgehen und sie dann mitgestalten können. „Theorien der Subjektivierung beschreiben diese Prozesse der Genese von Subjekten durch und in sozialen [und ökologischen] Beziehungen, indem sie den responsiven Charakter von Subjektivität akzentuieren.“[31]
John Barry fordert in seinem Konzept des Green Republicanism einen verpflichtenden Nachhaltigkeitsdienst für junge Leute. Als Freiwilliges Ökologisches Jahr gibt es bei uns bereits eine Vorform davon. Das wäre zunächst eine spürbare Einschränkung von Freiheit, aber für viele sicherlich eine ganz eigene und wertvolle Erfahrung konkreter Freiheit. Für mich war der Zivildienst durch die Erfahrung, erstmals ganztags als junger Mann etwas Nützliches für die Gesellschaft zu tun, eine sehr bereichernde Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Barry gibt dafür den Slogan aus: Erfahrung von inter-dependence, statt nur in-dependence.[32]
Der grüne Republikanismus wird schon heute in vielfältigen neuen Formen demokratischer Selbstorganisation sichtbar, z.B. durch die Nutzung digitaler Medien für Mitfahrzentralen, AirBnb und eine sharing economy. Auch eine Konsumentendemokratie ist Ausdruck und Medium des grünen Republikanismus, z.B. in der Form einer Mitgestaltung der Angebotspalette durch die Kund*innen. Voraussetzung sind Informationen über den ökosozialen impact der Produkte. Ein wichtiges Instrument für Konsumentendemokratie sind deshalb Gütesiegel. Diese sind für die Verbraucher*innen aber oft nicht leicht zu beurteilen. Hier versucht die Initiative „Siegelklarheit“ Orientierung im Siegeldschungel zu bieten. Demokratiepädagogik könnte das Wissen über die Bewertung von Konsumprodukten und die Möglichkeiten einer „Politik mit dem Einkaufskorb“ fördern. Bei all dem ist der grüne Republikanismus durch ein Zusammenspiel von Akteur*in, Anreizstrukturen und Kultur gekennzeichnet.
So haben beispielsweise die gewerkschaftlichen Kämpfe sämtliche Arbeits- und Lebensverhältnisse zum Inhalt und wollen dies – auch um die Depolitisierung ihrer Mitglieder zu überwinden – repolitisieren, wie die Kooperation von Fridays for Future mit ver.di in der Tarifrunde Nahverkehr 2023 eindrucksvoll gezeigt hat.[33] Dies ist ein Beispiel dafür dass die Akteur*innen der
Mitbestimmung in der Lage sind, Promotor*innen der Energiewende zu sein.
7. Stoffwechselpolitik: Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten
Wenn wir die ökologische Krise verstehen wollen, müssen wir (auch) die Arbeitswelt verstehen. Denn es ist die Arbeit, durch die Gesellschaften ihren Stoffwechsel mit der Natur vollziehen, so Karl Marx. Arbeitspolitik ist daher für Simon Schaupp stets auch Umweltpolitik – oder eben „Stoffwechselpolitik“[34]. Dabei spielt die Natur selbst eine aktive Rolle: Je weiter die Nutzbarmachung von Natur und Umwelt vorangetrieben wird, desto drastischer wirkt sie auf die Arbeitswelt zurück. Wie produktiv diese Perspektive ist, zeigt der Soziologe an einer Vielzahl historischer Beispiele: Ohne Moskitos sind weder Aufstieg noch Niedergang der Plantagenwirtschaft zu verstehen. Die Durchsetzung der Gewerkschaften wurde unter anderem durch die neuen Machthebel möglich, welche die materiellen Eigenschaften der Steinkohle den Beschäftigten an die Hand gaben. Und auch das Fließband wurde nicht zuletzt deshalb eingeführt, weil sich in frühen Schlachtfabriken infolge von Streiks verwesende Tierkadaver stauten.
Soll die Erderwärmung zumindest verlangsamt werden, setzt dies für Schaupp eine Transformation der Arbeitswelt voraus: Wir müssen die Logik der expansiven Nutzbarmachung überwinden und die Autonomie der Natur ernst nehmen.
Die Unternehmen erklären, infolge des Klimawandels habe die Branche zunehmend mit Unsicherheiten zu kämpfen. Insbesondere würden die Projekte immer häufiger durch Extremwetter wie Hitzewellen oder Stürme unterbrochen. Das erfordere eine flexiblere Organisation und vor allem eine Ausweitung der Arbeitszeit an den Tagen, an denen die Baustellen normal betrieben werden können. Der Konflikt dreht sich also darum, wie das Gewerbe auf die Auswirkungen der Erderwärmung reagieren soll. Aus Sicht der Unternehmen sollen die Beschäftigten die Kosten für die Krise tragen, indem sie flexibler und länger arbeiten. Die Beschäftigten wiederum pochen darauf, dass ihnen an Tagen, an denen nicht gearbeitet werden kann, bezahlte Freistellungen zustehen. Die Frage, wie die Kosten des Klimawandels zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgeteilt werden, muss transparent ausgehandelt werden.
Solche Konflikte zeigen, dass die Erderwärmung und die ökologische Krise immense Auswirkungen auf die Arbeitswelt haben. Klimaschutzmaßnahmen spielen hier natürlich ebenfalls eine Rolle. Die Umstellung auf erneuerbare Energien beispielsweise bedeutet zunächst eine Deindustrialisierung: Arbeitsplätze in fossilen.[35] Branchen wie der Kohleförderung und der herkömmlichen Automobilindustrie sollen aufgegeben und durch neue Jobs in Bereichen wie Elektromobilität oder im Dienstleistungssektor ersetzt werden. Nach einer im Mai 2022 veröffentlichten Studie von BUND Bayern, Greenpeace, der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft und IG-Metall kann ein beschleunigter Klima- und Naturschutz in Bayern bis 2030 seine CO2-Emissionen nahezu halbieren und über 340.000 neue Jobs schaffen.[36] Die Potenziale werden aber bei weitem nicht genutzt.
Bisher ist die Arbeitswelt eine der wichtigsten Ursachen der ökologischen Krise. So sind etwa die sechs Schweizer Zementwerke für über fünf Prozent der nationalen CO2-Emissionen verantwortlich. Weltweit verursacht die Zementproduktion mehr CO2 als der Flugverkehr. In Deutschland entstehen zwei Drittel aller Emissionen in der Arbeitswelt. Aber auch die privat konsumierten Güter und Dienstleistungen, die das letzte Drittel ausmachen, müssen zuvor – durch Arbeit – hergestellt werden.
Bei vielen Tätigkeiten geht es unmittelbar um eine Transformation von Natur – nicht nur in der Landwirtschaft, sondern überall da, wo natürliche Rohstoffe verbraucht oder umgewandelt werden. Arbeit kann dabei mit Karl Marx verstanden werden als der gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Natur. Arbeit und Natur stehen in einem Verhältnis unauflöslicher Wechselwirkungen zueinander. Damit wird die Arbeit zu einem zentralen Ort für die Entstehung der ökologischen Krise – und möglicherweise auch für ihre Überwindung.
Dem ökologischen Fußabdruck etwa liegt die Maßeinheit des „globalen Hektars“ zugrunde.[37] Ausgangspunkt ist die natürliche Biokapazität der Erde, also ihre Fähigkeit, biologisch nutzbringendes Material hervorzubringen und von Menschen produzierten Abfall aufzunehmen. Diese Kapazität umfasst Produktionsflächen wie Acker- und Weideland, Fischgründe, bebautes Terrain, aber auch Wälder oder Moore, die CO2-Emissionen binden. In Deutschland liegt der durchschnittliche Flächenverbrauch pro Kopf bei knapp fünf globalen Hektar, in Eritrea bei 0,4. Würden alle Menschen so leben wie die Deutschen, bräuchten wir drei Erden. Berechnungen auf Grundlage des CO2-Fußabdrucks zeigen, dass die zehn reichsten Prozent der Weltbevölkerung für die Hälfte der Emissionen verantwortlich sind. Solche Zahlen relativieren die Ansicht, dass „die Menschheit“ die ökologische Krise verschuldet hat, und unterstreichen, dass sich die Verantwortung auf eine vergleichsweise kleine Gruppe konzentriert.
Die Berechnungen machen außerdem sichtbar, dass ein Großteil des Treibhausgas-Ausstoßes nicht von Privathaushalten, sondern von Unternehmen stammt – und zwar von überraschend wenigen: 100 Unternehmen sind für 71 Prozent der Emissionen seit 1988 verantwortlich.[38] In Bezug auf Einzelpersonen hat der französische Ökonom Lucas Chancel herausgearbeitet, dass 70 Prozent der Emissionen des reichsten Prozents der Menschheit ihren Ursprung in den Investitionen und nicht im Konsum dieser Reichen haben. Bei seinen Berechnungen geht Chancel davon aus, dass Personen nicht nur für das CO2 verantwortlich gemacht werden können, das etwa dem Auspuff ihrer Autos entweicht, sondern auch für jenes, das aus den Schloten von Kohlekraftwerken strömt, die sie mit ihren Investitionen finanzieren.
Während Manager eine besonders exponierte Verantwortungsposition innehaben, sind jedoch stets die Arbeitenden die primären Akteur*innen der Transformation von Energie und Materie.[39] Es ist vor allem die Arbeit, die unsere Umwelt, zum Guten wie zum Schlechten, hervorbringt. Wenn wir die Ursachen der ökologischen Krise verstehen wollen, müssen wir deshalb die Arbeitswelt, die dem Konsum stets vorgelagert ist, ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rücken. Eine politische Perspektive auf die Arbeit bietet etwa das von Soziologen wie Michael Burawoy entwickelte Konzept der Produktionspolitik. Diesem Ansatz verpflichtete Analysen verstehen die Arbeitswelt als das Resultat politischer Aushandlungen sowohl innerhalb der Unternehmen als auch auf der Ebene der institutionellen Regulation. Die ökologische Krise ist zu einem großen Teil das Ergebnis produktionspolitischer Entscheidungen. Dennoch wirkt sie sich auf alle Sphären des menschlichen Zusammenlebens aus – und trifft diejenigen am härtesten, die am wenigsten für sie verantwortlich sind.
Umgekehrt haben die meisten Versuche, die ökologische Krise zu regulieren, ihren Ausgangspunkt nicht im Bereich der Produktionspolitik.[40] In Analysen der Produktionspolitik spielt Natur bislang quasi keine Rolle. Stattdessen wird von einem klar abgegrenzten System der industriellen Beziehungen ausgegangen, in dem institutionalisierte Akteur*innn wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Ministerien nach festgelegten Regeln über Löhne, Arbeitszeiten und Schutzvorschriften verhandeln. Natur kommt dabei maximal als »Kontext« vor. Spätestens in Zeiten der Klimakrise wird ein solches Verständnis problematisch. Die Krise entwickelt eine Dynamik, die, in den Worten von Naomi Klein, alles verändert und daher nicht angemessen als statischer Kontext behandelt werden kann.[41]
Das bedeutet, dass Umweltfragen in Analysen der Produktionspolitik nicht mehr ignoriert werden können, da sie nun selbst Gegenstand der Aushandlungen sind. Daher ist es nicht länger möglich, die Produktionspolitik von der Umweltpolitik zu trennen, weshalb es angemessener erscheint, von Stoffwechselpolitik zu sprechen. Dieser Begriff verweist auf den Umstand, dass die Regulationen der Arbeit und der Natur stets untrennbar miteinander verbunden sind. Unter Stoffwechselpolitik fallen demnach etwa Klimaschutzmaßnahmen, die Umstellungen in der Arbeitswelt nach sich ziehen, aber auch Produktivitätssteigerungen durch den Einsatz fossiler Energien, welche sich ihrerseits auf die natürliche Umwelt auswirken.
Die Stoffwechselpolitik vollzieht sich nicht nur in den Arenen der politischen Regulation, sondern vor allem im Arbeitsprozess selbst, bei dem es in erster Linie um eine Nutzbarmachung der Natur geht: Böden werden in Äcker verwandelt, Pflanzen und Tiere zu höheren Erträgen gezüchtet, Flüsse kanalisiert und die natürliche Energie von Wind, Wasser oder Kohle so eingefangen, dass unsere Arbeit erleichtert wird. Dieser Prozess der Nutzbarmachung ist heute so weit vorangeschritten, dass uns die Natur in ihrer Gesamtheit als eine Ansammlung von »Ökosystemdienstleistungen« erscheint. In vielen Fällen bedeutet diese Subsumption der Natur unter die Prämissen der Arbeit jedoch eine Vernutzung.
8. Kollektive Zuversicht und Handlungsfreude trotz düsterer Aussichten?
Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit in der Mitgestaltung der ökosozialen Transformation ist ein wichtiges Heilmittel gegen die sich angesichts der vielfältigen Rückschläge und Verzögerungen ausbreitende Haltung der Resignation. Die Resignation führt oft zum Rückzug ins bloß Private oder zu einem angstbesetzten Anklagediskurs, nicht selten in Verbindung mit Verschwörungstheorien. Sie ist eine Ursache für die Erosion der Demokratie in der „Angstgesellschaft“ (Bude). Aufgabe ökosozialer Demokratiebildung ist es vor diesem Hintergrund, realistisch und nüchtern die Gefahren zu benennen, aber auch Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Sie muss „auch so etwas wie kollektive Zuversicht und Handlungsfreude mit Blick auf die anstehende Transformation“[42] entwickeln. Ist das realistisch?
Mir fällt der Optimismus derzeit nicht leicht, und zwar vor allem aufgrund der dramatischen Zuspitzung der politischen und militärischen Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten. Der amerikanische Ökonom Nouriel Roubini sprach beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos Mitte Januar davon, er fürchte, dass wir uns auf einen Dritten Weltkrieg zubewegen. Roubini war 2008 bekannt geworden, weil er die Finanzkrise vorhergesagt und relativ exakt ex ante beschrieben hat.
Die Verteidigung von Frieden, Freiheit und Demokratie wird zunehmend zur prekären Voraussetzung, um die Handlungsfähigkeit für ökosoziale Ziele überhaupt aufrecht erhalten zu können.
Ich möchte meinen Impuls mit einer methodisch-wissenschaftstheoretischen und zugleich ganz praktischen Überlegung abschließen: Da sich diese komplexen Zusammenhänge nicht durch eine ideale Theorie der ökosozialen Transformation befriedigend beantworten lassen, vertrete ich einen pragmatistischen oder experimentalistischen Zugang:[43] Vielversprechender als der Weg einer „idealen Theorie der Nachhaltigkeit“ ist eine pragmatistische Herangehensweise, die dem Sein nicht ein abstraktes Sollen gegenüberstellt, sondern Beispiele in der Wirklichkeit aufspürt und deren Gelingensbedingungen herausarbeitet. „Eine solche ‚Rekonstruktion‘ hat dann zwar kein vollständiges, kohärentes, in sich geschlossenes Modell zum Ergebnis, bietet aber einen Werkzeugkasten, gefüllt mit diversen realistischen Optionen.“[44] Die Bedingungen der Umsetzung müssen nicht nachträglich eingepreist werden, sondern sind von Anfang an im Blick. Will die Bildung Hoffnung vermitteln, muss sie gelingende Beispiele ausfindig machen und diese stärken. Die vielfältigen Initiativen für eine ökosoziale Transformation auch bei der IG-Metall sind eine Reallabor für eine neue Art von Demokratiekompetenz.
[1] Merkel, Wolfgang: Im Zwielicht. Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert, Frankfurt 2023.
[2] Nachhaltigkeit und Demokratie https://www.lpb-bw.de/nachhaltigkeit-demokratie.
[3] Hahn, Rüdiger: Demokratie und Nachhaltigkeit beeinflussen sich wechselseitig, in: Studium & Beruf; https://www.umweltdialog.de/de/management/studium-beruf/2020/Demokratie-und-Nachhaltigkeit-beeinflussen-sich-gegenseitig.php (Abruf 23.07.204).
[4] Vgl. Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.): Mitbestimmungsreport 79 (12/2023).
[5] Heidenreich, Felix: Nachhaltigkeit und Demokratie. Eine politische Theorie, Berlin 2023.
[6] Der Republikanismus ist eine gemeinwohlorientierte Politiktheorie, die vor allem seit dem 18. Jahrhundert entfaltet wurde und sich an der „res publica“ orientiert. Der Demokratische Wille wird nicht einfach als Aggregation der individuellen Interessen aufgefasst, sondern als Prozess der öffentlichen Kommunikation, in dem die Individuen gemeinsam eine geteilte und verbindliche Vorstellung des guten Lebens und des Gerechten entwickeln; vgl. Richter, Emanuel: Republikanische Politik. Demokratische Öffentlichkeit und politische Moralität, Reinbek 2004. Im Unterschied zu Heidenreich kann man des Republikanismus jedoch auch als Weiterentwicklung liberaler Gesellschaftstheorie einordnen und muss ihn nicht notwendig als Gegenthese verstehen.
[7] Dierksmeier, Claus: Qualitative Freiheit. Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung, Bielefeld 2016. Das konzeptionelle Problem bei Heidenreich zeigt sich u.a. darin, dass er Dierksmeiers Begriff der qualitativen Freiheit positiv rezipiert – ihm dann aber dessen eigene Verortung als „liberal“ abspricht und ihn stattdessen für den eigenen Republikanismus vereinnahmt.
[8] Heidenreich 2023, 224.
[9] Vgl. dazu das Dossier „Nachhaltigkeit und Demokratie“ der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg: https://www.lpb-bw.de/nachhaltigkeit-demokratie.
[10] Heidenreich 2023, 223.
[11] Vgl. die ausführliche Darstellung in: Heinrichs, Harald/Michelsen, Gerd (Hg.): Nachhaltigkeitswissenschaften, Berlin, Heidelberg 2014.
[12] Heidenreich 2023, 11. Da Nachhaltigkeit sehr wertgeladen ist, kommt es entscheidend darauf an, sie nicht nur in „Feiertagsmanier“ zu kommunizieren. Denn dann erscheinen Werte, so Luhmann, wie Luftballons: an Feiertagen werden sie aufgeblasen, während an Werktagen unauffällig die Luft herausgelassen wird; vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt/M. 1997, S. 341 f.
[13] Heidenreich 2023, 11f. Bruno Latour verdeutlicht die Repolitisierung des Nachhaltigkeitsbegriff durch seine Metapher „Kampf um Gaia“.
[14] Heidenreich 2023, 12.
[15] Heidenreich 2023, 12. Vgl. auch ebd. 13: „Während ingenieurwissenschaftlich, ökonomische, rechtswissenschaftliche und soziologische Perspektiven sehr systematisch miteinander verzahnt werden, bleibt die Frage nach den demokratietheoretischen Implikationen des Begriffs »Nachhaltigkeit« meist ausgeklammert.“ Eine solche Repolitisierung der Nachhaltigkeitsdebatte fordert prominent auch Armin Grunwald in: »Statt Privatisierung: Politisierung der Nachhaltigkeit«, in: GAIA 20:1 (2011), S. 17-19.
[16] Heidenreich 2023, 13f.
[17] Schneidewind, Uwe: Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst des gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt 2018, 54-64.
[18] Leggewie, Claus / Welzer, Harald: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt 3. Auflage 2011.
[19] Vgl. dazu wegweisend Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen, Frankfurt 2014.
[20] Seefried, Elke: Nachhaltigkeit und Demokratie (20.05.2022), in: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/oekologie-und-demokratie/508499/nachhaltigkeit-und-demokratie/ (Abruf 19.01.2024). vgl. auch Heidreich 2022, 30.
[21] Beer, David: Democracy and Sustainability (Forschungsprojekt des IASS); https://www.rifs-potsdam.de/en/research-area/democracy-and-sustainability (Abruf 1.2.2024).
[22] Vgl. Vince, Gaia: The Migration Century, 2023.
[23] Kersten, Jens: Das ökologische Grundgesetzt, München 2022.
[24] Seefried, Elke: Nachhaltigkeit und Demokratie (20.05.2022), in: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/oekologie-und-demokratie/508499/nachhaltigkeit-und-demokratie/ (Abruf 19.01.2024).
[25] Henkel, Anna u.a. (Hg.): Dilemmata der Nachhaltigkeit, Baden-Baden 2023.
[26] Vgl. Vogt, Markus: Nachhaltigkeit definieren. Die sieben häufigsten Irrtümer, in: Müller, Sigrid/ Morciciec, Piotr (Hg.): Interdisziplinäre Nachhaltigkeit. Anregungen zum Weiterdenken 2023, S. 27-41.
[27] Nachhaltigkeit und Demokratie https://www.lpb-bw.de/nachhaltigkeit-demokratie.
[28] Heidenreich 2023, 147 f.
[29] Kaufmann, Annelie (Interview): „Jetzt handeln, sonst droht später Ökodiktatur“; in: Legal Tribune Online. https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg-klimaklage-20a-gg-grundrecht-oekologisches-existenzminimum-klimaschutz-interview/ (Abruf 23.07.2024).
[30] Heidenreich 2023, 231-233.
[31] Heidenreich 2023, 229.
[32] Barry, John: Green republicanism and a ‘Just Transition’ from the tyranny of economic growth; https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13698230.2019.1698134 (Abruf 23.07.2024).
[33] Vgl. Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB): Herausgeforderte Mitbestimmung in der Energiewende, 20.11.2023; https://www.wzb.eu/de/forschung/digitalisierung-und-gesellschaftlicher-wandel/globalisierung-arbeit-und-produktion/projekte/blog-postpandemische-konstellation/herausgeforderte-mitbestimmung-in-der-energiewende (Abruf 18.07.2024).
[34] Schaupp, Simon: Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten, Berlin 2024.
[35] Vgl. Schaupp 2024, 9.
[36] Vgl. BUND Bayern/Greenpeace/Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft/IG-Metall: Pressemitteilung: Bayern-Studie: Über 340.000 Jobs durch mehr Klima- und Naturschutz, 12. Mai 2022; https://presseportal.greenpeace.de/214402-bayern-studie-uber-340-000-jobs-durch-mehr-klima-und-naturschutz ( Abruf 18.7.2024).
[37] Vgl. zum Folgenden Schaupp 2024, 11.
[38] Schaupp 2024, 12.
[39] Vgl. zum Folgenden Schaupp 2024, 13.
[40] Vgl. Schaupp 2024. 14.
[41] Klein, Naomi: Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima, Frankfurt 2016.
[42] Heidenreich 2023, 241.
[43] Vgl. Brunkhorst, Hauke: Demokratischer Experimentalismus. Politik in der komplexen Gesellschaft, Frankfurt/Berlin 1998; Jonas, Hans: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt/Berlin 2016.
[44] Heidenreich 2023, 29.