Marianne Demmer (Mitglied im Hochschulrat der Universität Siegen)

Bei einer Diskussion über die Schwierigkeiten, in Deutschland ein im umfassenden Sinne inklusives Schulsystem zu verwirklichen, seufzte eine Kollegin: „In den siebziger Jahren waren wir schon mal weiter“… Der Eindruck, dass wir uns in Deutschland seit nunmehr 50 Jahren in einer schulpolitischen Stagnationsphase befinden, ist im Kreise engagierter Schulreformer:innen – von denen es allen Rückschlägen zum Trotz immer noch einige gibt –  weit verbreitet. Aber ist diese Wahrnehmung auch richtig und woher kommt der Eindruck, dass wir in den siebziger Jahren „schon mal weiter“ waren? Anders gefragt: Besteht begründete Hoffnung, dass auch in Deutschland in nicht allzu ferner Zukunft eine grundlegende Schulreform hinzubekommen ist, die ein Schulsystem ermöglicht, das inklusiv, demokratisch, bildungsgerecht, chancengleich und qualitativ hochwertig ist.

„Waren wir schon mal weiter“?

Beim Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen und bildungspolitischen Debatten, die in der „alten“ Bundesrepublik seit Ende des zweiten Weltkriegs geführt wurden und werden, kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass wir in den 1960er/1970er Jahren schulpolitisch „schon mal weiter“ waren, wenn der Maßstab eine grundlegende Schulreform ist, bei der Kinder und Jugendliche mindestens bis zum Ende der Schulpflicht gemeinsam unterrichtet und nicht mehr mit 10 oder12 Jahren auf unterschiedlich anspruchsvolle Schulformen und Bildungsgänge aufgeteilt oder in Sonder-/Förderschulen untergebracht werden. Die viel zu frühe Aufteilung signalisiert 10jährigen Kindern,  ob sie einmal „alle“ Berufe ergreifen können oder ob sie sich mit dem zufrieden geben müssen, was die gut Qualifizierten nicht wollen, ob sie eher Maurer oder Ärztin werden oder „Harzer“. Denn auf die Antwort „Ich werde mal Harzer“ muss gefasst sein,  wer junge Menschen an Sonder-/Förderschulen nach ihrem Berufswunsch fragt. Legt man also den Maßstab einer grundlegenden und umfassenden Schulreform an, waren wir in den siebziger Jahren – zumindest nach der Papierform – „schon mal weiter“. Denn damals schien es gesellschaftliche und politische Mehrheiten für eine grundlegende und umfassende Schulreform zu geben.

Forderungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Bildungspolitik

Als der DGB am 07. März 1972 seine umfassenden und weitsichtigen Forderungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Bildungspolitik  verabschiedete, war die Regierung Brandt seit drei Jahren im Amt. 1969 hatte „das sozialdemokratische Jahrzehnt“[1] begonnen, um einen Buchtitel von Bernd Faulenbach zu zitieren. „Mehr Demokratie wagen“, die Ankündigung einer Neuen Ostpolitik sowie das Versprechen, die Bildungs-, Hochschul- und Wissenschaftspolitik zum zentralen innenpolitischen Schwerpunkt der sozialliberalen Koalition zu machen, hatten in großen Teilen der Bevölkerung, allen voran bei der gegen die verkrusteten Verhältnisse der 1950er Jahre aufbegehrenden Jugend große Hoffnungen auf eine umfassende Modernisierung des gesamten politischen und gesellschaftlichen Lebens geweckt. Dem Bildungsbereich wurde dabei eine zentrale Bedeutung zugeschrieben bis dahin, in ihm den Hauptakteur einer radikalen gesellschaftlichen Umgestaltung zu sehen. Diese überfordernden Ansprüche zeigen sich in anderer Gestalt auch heute noch – ein halbes Jahrhundert später – zwar deutlich abgekühlt, aber immer noch überfordernd.  Etwa wenn bei jeder neuen politischen oder ökonomischen Herausforderung ein entsprechendes Unterrichtsfach  gefordert wird, ohne zu sagen, welche Bildungsinhalte oder Fächer stattdessen entfallen sollen. Aktuelle Beispiele: Wirtschaft und Digitalisierung.  Oder wenn bei gesellschaftlich induzierten Problemlagen, sei es Jugendkriminalität oder Judenfeindlichkeit als erstes die Schule adressiert wird, die gegen halten und es richten soll.

Maria Weber, die kompetente, engagierte und streitbare Frau[2], im DGB-Bundesvorstand  für Bildungsfragen zuständig, brachte das Spannungsfeld, in dem sich die gesellschaftspolitische Bedeutung von Bildung bewegt,  im Vorwort zu den Forderungen des DGB auf den Punkt. Sie schrieb:

„Der DGB geht davon aus, daß mehr Demokratie zwar nicht allein durch Bildung, aber ebenso wenig ohne Hebung des allgemeinen Bildungsstandes erreichbar ist. Der DGB lehnt eine Bildungsreform ab, die lediglich eine rationellere Vermittlung ökonomisch verwertbaren Sachwissens anstrebt.“

In dieser Aussage klang die gesamte bildungspolitische Programmatik des DGB an: Abgeleitet vom Demokratie- und Sozialstaatsversprechen des Grundgesetzes verlangte der DGB im Interesse der von ihm vertretenen arbeitenden Menschen eine Bildung, die „aktive Mitwirkung des einzelnen und volle Mitbestimmung“ in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft möglich machen sollte und den Menschen nicht auf einen wirtschaftlich verwertbaren homo oeconomicus reduziert. Im Vorwort heißt es:

„Volle Chancengleichheit und Demokratisierung in allen Lebensbereichen sind die unabdingbare Voraussetzung dafür, daß die Arbeitnehmer ihre Rolle als gesellschaftliche (kursiv MD) Kraft wahrnehmen können.“[3]

Im Unterschied zum Obrigkeitsstaat, als die Arbeitnehmerorganisationen im Interesse der arbeitenden Menschen eigene Bildungsvereine zur „Hebung des allgemeinen Bildungsstandes“ unterhielten, hielt der DGB 1972 das Bildungswesen im demokratischen Staat für die richtige Adresse, um ein Konzept von Allgemeinbildung zu entwickeln, das sich an den Interessen der arbeitenden Menschen orientiert. Denn – so der bis heute gültige Befund im Vorwort zu den DGB-Forderungen zur Bildungspolitik:

„Der bestehende Bildungsnotstand[4] in der Bundesrepublik Deutschland benachteiligt in erster Linie die Kinder von Arbeitnehmern, die nicht in der Lage sind, die Mängel des öffentlichen Schulwesens durch familiäre Erziehung zu kompensieren.“

Die Forderung nach „kompensatorischer“ Erziehung, eine einleuchtende Schlussfolgerung aus diesem Befund, hat Erziehungswissenschaftler:innen seitdem über Jahrzehnte beschäftigt. Die mittelmäßigen PISA-Ergebnisse für Deutschland (ab 2001) haben die Debatte noch einmal kräftig befeuert, aber insgesamt zu einem Flickenteppich von Programmen und Unterstützungsmaßnahmen geführt, die vielleicht gut gemeint, vielleicht aber auch nur als „Tätigkeitsnachweise“ von gestressten Kultusminister:innen gedacht sind.[5]

Kompensationsmaßnahmen – oft nicht einmal gut gemacht

Trotz ständiger Mahnungen aus Gewerkschaften, Wirtschaft und Wissenschaft, die systematische Förderung der „Kellerkinder“ (Klaus Klemm) endlich ins Zentrum ihrer Politik zu stellen, brauchte die KMK bis zum 4. März 2010, um mit einem Beschluss zur „Förderstrategie für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler“[6]  zu reagieren. Vielleicht hätte es noch länger gedauert, wäre nicht ein interner Bericht des wissenschaftlichen Beirats für die Bund‐Länder‐Steuerungsgruppe der Gemeinschaftsaufgabe „Feststellung der Leistungsfähigkeit im internationalen Vergleich“ an die Öffentlichkeit gelangt. In dem Bericht, der unter dem Vorsitz von Jürgen Baumert entstand, wurde mit seltener Deutlichkeit der KMK Untätigkeit in der zentralen Frage der Bildungsbenachteiligung bescheinigt und eine Fokussierung der Ressourcen auf diese Frage nahe gelegt. Unter der Überschrift „Blauer Brief für Kultusminister“ berichtete die ZEIT am 05.06.2008 aus dem Bericht, der in der KMK für große Aufregung sorgte.

Als Ziel der „auf mehrere Jahre angelegten“ Förderstrategie (genauer festlegen wollte man sich nicht), wurde die Halbierung der Zahl der Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss proklamiert. Eine erste Evaluation aus dem Jahr 2018[7] gab in dieser Hinsicht ebenso wie bei den erreichten Kompetenzen keinen Anlass zur Hoffnung. Bezogen auf das Bezugsjahr 2006, als der Anteil derer, die die Schule ohne Hauptschulabschluss verließen, im bundesdeutschen Mittel nach Angaben des statistischen Bundesamts bei 8 Prozent der gleichaltrigen Wohnbevölkerung lag, sank der Anteil zwar auf 6,8 Prozent in 2018, allerdings mit der bemerkenswerten Maßgabe, dass er seit 2010, dem Jahr, in welchem die Förderstrategie beschlossen wurde, von damals 6 Prozent wieder kontinuierlich angestiegen ist.

Mittlerweile zeichnen sich Veränderungen in der Förderstrategie bildungsbenachteiligter junger Menschen ab. Mit dem Projekt Schule macht stark. Gemeinsame Initiative von Bund und Ländern zur Unterstützung von Schulen in sozial schwierigen Lagen vom 23.10.2019[8] wird nunmehr der Schwerpunkt von der individuellen zur institutionellen Förderung verlagert. Für eine Laufzeit von insgesamt 10 Jahren werden insgesamt 125 Millionen Euro bereitgestellt, mit denen Schulentwicklungs- und Forschungsprojekte finanziert werden sollen.

Alle diese kompensatorischen Förderanstrengungen – seien sie auf den einzelnen benachteiligten jungen Menschen oder die Institution gerichtet – blenden zweierlei aus: Welche Auswirkungen eine Kindheit und Jugend in Armut und prekären Lebenslagen für Lernen und Bildungsbemühungen haben sowie die zusätzliche Benachteiligung durch die selektive  Schulstruktur. Während der Pandemie-Zeit wurde dies wie im Brennglas sichtbar und die Zweifel an der Wirksamkeit kompensatorischer Einzelmaßnahmen erhielten neue Nahrung.

Durch Bildung lässt sich systembedingte Armut, die durch die Art kapitalistischen Wirtschaftens erzeugt wird, nicht beseitigen. Was nicht gegen Kompensationsmaßnahmen spricht, sondern dafür, dass sie früh ansetzen, kontinuierlich weitergeführt und das familiäre Umfeld einbeziehen müssen. Mit einem Wort: Sie müssen gut gemacht und finanziell großzügig ausgestattet sein. Ein bisschen Unterstützung hier und aufmunternde Worte da bleiben wirkungslos

Gesellschaftliche Weiterentwicklung durch Demokratisierung, Partizipation und die integrierte Gesamtschule

Armut war in den ersten Jahrzehnten der jungen Bundesrepublik auch für den DGB kein vordringliches Thema. In Zeiten von Vollbeschäftigung, mit dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft und des Wohlfahrtsstaats verband sich allgemein die Hoffnung, Armut als gesellschaftliches Problem „bezwungen“ zu haben. Es war deshalb folgerichtig, die gesellschaftliche Weiterentwicklung vor allem durch umfassende Demokratisierung aller Lebensbereiche, durch Partizipation und Mitbestimmung, in Angriff zu nehmen. Für den DGB war es deshalb auch folgerichtig, ein Schulwesen zu fordern, das diesen Ansprüchen gerecht werden konnte.  Und dies konnte mit der integrierten Gesamtschule nur ein Schulwesen sein, in dem Kinder nicht früh selektiert werden, sondern lange gemeinsam lernen, in welchem der Gegensatz von beruflichem und akademischem Lernen überwunden wird und die Interessen der arbeitenden Menschen und ihrer Kinder im Mittelpunkt des Curriculums stehen.

Diese Forderungen des DGB entsprachen weitgehend dem Stand der Bildungsreformdebatten, wie sie sich seit den 1950er Jahren entwickelt hatten. Allerdings hatte sich bereits in der Arbeit des pluralistisch zusammengesetzten Deutschen Bildungsrats gezeigt, dass die Ersetzung des hierarchisch gegliederten Schulsystems durch integrierte Gesamtschulen weder in der Bildungskommission des Rats selbst noch innerhalb der Gesellschaft einigungsfähig war. Der seit 1965 erarbeitete „Strukturplan für das Bildungswesen“ konnte 1970 nur deshalb veröffentlich werden, weil keine Empfehlung zur Gesamtschule ausgesprochen wurde. Dieser Konflikt war zwei Jahre zuvor seitens der KMK durch die Einigung auf ein Experimentalprogramm entschärft worden, das den Bundesländern ermöglichte, integrierte Gesamtschulen als Schulversuche einzuführen.

Trotz Experimentalprogramm – der Kampf gegen Gesamtschulen wird unnachgiebig geführt

Allerdings erwies sich die Hoffnung als trügerisch, dass durch die Schulversuche die „ideologische Polemik um die Gesamtschule“[9] dauerhaft zurückgedrängt werden könnte. Im Gegenteil: In den Bundesländern, die zahlreiche Gesamtschulen als Schulversuche einführten und noch dazu – wie in Hessen – mit den Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre  und Deutsch eine umstrittene Curriculumreform in Gang setzten,  tobte 1972/1973 der Kampf um die Gesamtschule so heftig, dass die regierende Koalition aus SPD und (linksliberaler) FDP bei den Wahlen erhebliche Stimmenverluste hinnehmen musste und die FDP ihre weitere Regierungsbeteiligung davon abhängig machte, dass der amtierende Kultusminister von Friedeburg, eine Galionsfigur der Bildungsreform, der nächsten Regierung nicht wieder angehörte. 1974 trat von Friedeburg zurück.

Die DGB-Forderungen zur Bildungspolitik fielen in diese Phase heftigster schulpolitischer Kämpfe, die sich quasi vor der Haustür des in Frankfurt ansässigen DGB abspielten. Die Aussage von Maria Weber im Vorwort, wonach zwar Fortschritte in Richtung einer „hochindustrialisierten Gesellschaft“ nach freiheitlich-demokratischen und sozialen Grundsätzen unverkennbar seien, dass sich aber „doch auch Gegenströmungen bemerkbar“ machten, kann als dezenter Hinweis verstanden werden, dass der DGB sich veranlasst sah, in den bestehenden Auseinandersetzungen eine aktive Rolle zu spielen. Hinzu kam, dass der vom Deutschen Bildungsrat vorgelegte Strukturplan vor allem in der Gesamtschulfrage deutlich hinter den Vorstellungen von DGB und SPD zurückblieb.

Die schulformunabhängige Orientierungsstufe

Der Strukturplan sah lediglich eine Empfehlung für eine zweijährige Orientierungsstufe vor, deren Organisationsform weitgehend offen blieb: Entweder die Anbindung an die vierjährige Grundschule oder an die Sekundarstufe I, wenn diese als integrierte oder kooperative Gesamtschulen oder in Schulzentren geführt wurden. Gerade die Schulzentren eröffneten jedoch die Möglichkeit, die Orientierungsstufe an traditionelle Schulformen anzugliedern, obwohl im Strukturplan der schulformbezogenen Förderstufe eine eindeutige Absage erteilt wurde. Die hier aufziehende Problematik wurde in den DGB-Empfehlungen gesehen. Zur Orientierungsstufe hieß es:

„Der DGB sieht in der Orientierungsstufe eine Übergangseinrichtung zur Gesamtschule. Als Irreführung der Öffentlichkeit betrachtet er es, wenn Einrichtungen dieser Art, die an den bestehenden drei Schulformen nebeneinander geführt werden, unter der Bezeichnung Orientierungsstufe angeboten werden.“

Doch genauso ist es gekommen. Das 5. und 6. Schuljahr firmiert noch heute an den Schulformen des traditionellen Schulsystems mal als Förder- und mal als Orientierungsstufe. Schulartunabhängige Orientierungsstufen gibt es in nennenswerter Zahl nur noch in Berlin, Brandenburg und Hessen, wo sie an Gesamtschulen angebunden sind. Verglichen mit der Gesamtschülerzahl an den Schulformen der Sekundarstufe I besuchen lt. KMK-Statistik im Schuljahr 2020/2021 nicht einmal 3 Prozent der Schüler:innen eine schulformunabhängige Förderstufe.

Auch Übergangseinrichtungen werden erbittert bekämpft – Schulpolitische Misserfolge mit Langzeitwirkung

Wie erbittert die Auseinandersetzungen selbst um eine „Übergangseinrichtung zur Gesamtschule“ (DGB) geführt wurden, lässt sich exemplarisch am Beispiel Niedersachsen zeigen. Hier wurde die schulformunabhängige Orientierungsstufe 1972 an einzelnen Schulen, ab dem Schuljahr 1981/82 dann landesweit eingeführt und nach andauernden Auseinandersetzungen 2004 wieder abgeschafft.

Ähnlich konfliktreich und ergebnislos verlief 1977/1978 der Versuch der sozial-liberalen Regierung in Nordrhein-Westfalen, die sog. Kooperative Schule flächendeckend einzuführen. Nach einem erfolgreichen Volksbegehren der Gegner sah sich der Landtag genötigt, ein von ihm bereits beschlossenes Gesetz wieder aufzuheben.

Den letzten schulpolitischen Misserfolg mit Langzeitwirkung für die beteiligten Parteien handelte sich die schwarz-grüne Koalition 2010 in Hamburg ebenfalls nach einem Bürgerentscheid ein, der sich gegen die Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Schuljahre richtete – in Berlin und Brandenburg die übliche Dauer der Grundschule.

Eine systematische Aufarbeitung der Gründe für das jeweilige Scheitern ist meines Wissens bis heute nicht erfolgt, wäre aber dringend erforderlich, wenn eine grundlegende und umfassende Schulreform in Deutschland eine Chance haben soll. Von den beteiligten Parteien wurden aus dem Scheitern vor allem zwei Schlussfolgerungen gezogen. Erstens: Schulpolitik macht Ärger und man kann Wahlen verlieren. Also lässt man besser die Finger davon.   Und zweitens: das Gymnasium darf bei Strukturveränderungen nicht involviert sein. Letztere Überzeugung wird auch von zahlreichen Erziehungswissenschaftler:innen geteilt – oft genug im Gegensatz zu eigenen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Gymnasium unantastbar – unter Denkmalschutz?

In der jüngeren Wissenschaftler-Generation vertritt z.B. Aladin El-Mafaalani, Professor für Soziologie und Erziehungswissenschaft, dessen Bücher ein breites Publikum erreichen, diese Position. In seinem 2020 erschienenen Buch „Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft“  schreibt er nach einer wort- und faktenreichen Darlegung über die Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen im deutschen Bildungssystem, deren Haupt-Ursache er in der (zu) frühen Entscheidung für oder gegen den Gymnasialbesuch sieht, folgendes:

„Das Gymnasium ist (neben der Grundschule) die einzige Schulform des allgemeinbildenden Schulsystems, die es in allen Bundesländern gibt. Zwar verstärkt Selektion soziale Ungleichheit, allerdings wäre es äußerst ungünstig, die beliebteste und die letzte alle Bundesländer verbindende Schulform abzuschaffen oder umzubenennen. Auch die kreative Idee, ein Einheitsschulsystem mit einer Schulform für alle zu etablieren und diese Schulform »Gymnasium« zu nennen, ist nicht zielführend.“ (S. 212)

Mich überzeugt diese Position und die vorgebrachten Argumente nicht. Aber mittlerweile gelten nur noch solche schulstrukturellen Maßnahmen als politisch durchsetzbar, die das Gymnasium unangetastet lassen. Relativ geräuschlos nutzten zum  Beispiel die östlichen Bundesländer nach der Vereinigung beider deutscher Staaten und der mehr oder weniger (un)freiwilligen Übernahme des hierarchisch gegliederten Schulsystems die vorhandenen Spielräume, um im Sekundarbereich I zweigliedrige Systeme zu etablieren, in denen die Bildungsgänge von Hauptschule und Realschule organisatorisch zusammengeführt wurden. Aber auch zwei- oder dreigliedrige Systeme, in denen neben dem Gymnasium integrierte Gesamtschulen, Gemeinschaftsschulen oder Sekundarschulen mit gymnasialen Oberstufen bestehen, führten nicht zu Schulkämpfen.

Gymnasiallobby mit Identitätskrise in der Defensive

Die Gymnasiallobby, die jahrzehntelang das Abiturprivileg mit Zähnen und Klauen verteidigt hat,  hat mittlerweile eingesehen, dass der Kampf um das traditionelle hierarchische Schulsystem verloren ist. Angesichts des Runs auf die Gymnasien ist sie mittlerweile bereit, auf das Abiturprivileg zu verzichten und Gesamt- und Gemeinschaftsschulen mit gymnasialer Oberstufe zur eigenen Entlastung neben sich zu akzeptieren. In einem Positionspapier von 2010 erklärte der Philologenverband, der die organisierten Gymnasiallehrer:innen vertritt, zu seinem Sinneswandel völlig ohne Scheu: „Dies (eine weitere Schulform mit  gymnasialer Oberstufe – MD) würde uns nicht zuletzt angesichts des starken Zustroms zum Gymnasium in einigen Bundesländern helfen, unser spezifisch gymnasiales Profil zu erhalten und es nicht aufweichen zu lassen (beispielsweise durch berufsbildende Inhalte, Zurückdrängung des vertieften sprachlichen Unterrichts usw.).“[10] Da der Zustrom zum Gymnasium jedoch nicht abreißt, sah sich der Philologenverband zu weitergehenden Überlegungen genötigt.

2019  wurde ein Positionspapier entwickelt, das zum Ziel hat, die Selektion nach der Grundschule zu verschärfen. Um das „spezifisch gymnasiale Profil“ zu retten und um die „richtigen“ Schüler:innen zu finden bzw. die vermeintlich „falschen“ von vornherein fernzuhalten, soll der Elternwille nicht mehr ausschlaggebend sein. Der Aufwand, der für die zielgenaue Auslese betrieben werden soll, umfasst das ganze Arsenal möglicher Tests und Berichte bis hin zu Probejahr, Probeunterricht und Aufnahmeprüfungen, die den Älteren aus der Zeit vor den Bildungsreformen des letzten Jahrhunderts noch bestens bekannt sein dürften und auch bereits die Teilnehmer der Reichsschulkonferenz 1920 beschäftigten. Die „richtige“ oder gar „gerechte Auslese“ war und ist nach wie vor in der Wissenschaft ein oft diskutiertes Thema und eine pädagogisch äußerst schwierige bzw. gar nicht zu bewältigende Aufgabe für Lehrkräfte. Denn selbst beim besten Willen und den raffiniertesten Auslesearrangements bleibt es ein Fakt, dass Prognosen über die weitere Entwicklung von 10jährigen Jungen und Mädchen große Fehlerquoten aufweisen, dass Grundschulempfehlungen ungerecht sind und dass auch immer auch Willkür möglich ist  – beabsichtigt oder unbeabsichtigt.[11] Dass die Freigabe des Elternwillens die Kinder von bildungsnahen und ökonomisch besser gestellten Eltern bevorteilt, ist nur ein weiteres Argument gegen den frühen Selektionszeitpunkt, nicht jedoch für eine wie auch immer geartete Perfektionierung der Selektionsmaßnahmen.

Bildungsgesamtplan – verabschiedet, aber nicht umgesetzt

Die „Gegenströme“ gegen die Schulreform, auf die der DGB hinwies, wurden endgültig deutlich, als der 1973 dem Deutschen Bundestag von der Bund-Länder-Kommission (BLK) vorgelegte Bildungsgesamtplan in der Frage der Schulstruktur in der Sekundarstufe I mit einem Minderheitenvotum der fünf von CDU/CSU regierten Bundesländer versehen wurde. Der Bildungsgesamtplan selbst entwickelte den Strukturplan des Deutschen Bildungsrats in der Gesamtschulfrage deutlich weiter, indem kurz und bündig festgestellt wurde:

„Ziele und Prinzipien (des Sekundarbereichs I – MD) bedingen die Organisationsform der integrierten Gesamtschule.“[12]

Nicht minder kurz und bündig wurden die Ziele und Prinzipien des Sekundarbereichs I benannt:

„Sicherung einer allgemeinen wissenschaftsorientierten Grundbildung für alle. Vermeidung vorzeitiger Festlegung auf bestimmte Bildungsgänge. Berücksichtigung der Neigung und der Befähigung des einzelnen durch eine zunehmende Wahl- und Leistungsdifferenzierung unter Beibehaltung eines verpflichtenden Kernbereichs gemeinsamer Inhalte.“[13]

Die fünf konservativ regierten Bundesländer widersprachen den Zielen und Prinzipien nicht. Sie zogen vielmehr in Zweifel, dass zu ihrer Realisierung die Organisationsform der integrierten Gesamtschule benötigt würde. Dementsprechend wollten sie erst entscheiden, wenn die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleituntersuchungen zu den Schulversuchen vorlägen. Erst dann könne darüber entschieden werden,

„welches von den Systemen — das reformierte gegliederte Schulwesen, die kooperative Gesamtschule oder die integrierte Gesamtschule — den Vorzug verdient oder ob gegebenenfalls die verschiedenen Systeme nebeneinander ihre Berechtigung haben.“

Mit diesen wenigen Worten gelang es den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein ihr Konzept für die schulpolitischen Kämpfe der nächsten 40 Jahre zu skizzieren. Abweichend von den bisher erreichten Kompromissen brachten sie erstmals ein nicht näher ausgeführtes „reformiertes (!) gegliedertes Schulwesen“ ins Spiel sowie das Nebeneinander  von  gegliedertem und Gesamtschulsystem. Ähnlich erging es auch der schulformunabhängigen Orientierungsstufe. Auch hier wurden mit dem Minderheitenvotum sowohl die Kampflinie wie die Kompromissmöglichkeit skizziert. Die Orientierungsstufe sollte den Schulformen des gegliederten Systems angegliedert, aber auch schulformunabhängig geführt werden können.[14]

Curriculum-Revision – das andere große Konfliktfeld

Das hierarchisch gegliederte Schulsystem hatte weder ein gemeinsames Menschenbild noch ein gemeinsames Bildungsverständnis. Die jungen Menschen wurden aufgeteilt nach Begabungstypen, die den beruflichen Anforderungen des Industriezeitalters und den entsprechenden Schultypen entsprachen. Die vermeintlich „praktisch/körperlich“ Begabten verblieben nach der Grundschule in der Volksschule – sie machten in den 1950er Jahren deutlich über 80 Prozent eines Schülerjahrgangs aus – und erhielten dort eine volkstümlich-anschauliche Bildung.

Die weniger als 10 Prozent vermeintlich „theoretisch/erkenntnismäßig“ Begabten wechselten zum Gymnasium und wurden auf der Grundlage eines verkürzten Humboldtschen Bildungsbegriffs wissenschaftspropädeutisch instruiert. Wilhelm von Humboldt selbst entwickelte sein umfassendes Bildungsverständnis nämlich mitnichten für eine kleine Elite, sondern  für die gesamte Bevölkerung. Von ihm stammt diesbezüglich der schöne Satz aus dem Königsberger bzw. Litauischen Schulplan von 1809:

„Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten.“

Auf den Philologenverband von 2010, der durch berufsbildende Inhalte ein Aufweichen des gymnasialen Profils befürchtet (vgl. Anmerkung 8) hätte Humboldt vermutlich mit Verwunderung reagiert. Wer mag sich schon vorstellen, dass ein einleuchtendes Bildungskonzept auch nach 200 Jahren noch nicht Allgemeingut geworden ist. Zudem muss dem Philologenverband die Frage gestellt werden, ob es nicht ein beruhigendes Gefühl ist, wenn ein Chirurg oder eine Chirurgin theoretisch/erkenntnismäßig und praktisch begabt ist. Und ob heutzutage die Heizungsmonteur:in nicht auch in beiden Sphären bewandert sein sollte, wenn sie den Anforderungen moderner Energieversorgung entsprechen will.

Bei den Mittelschulen/Realschulen tut sich die pädagogische Zunft bis heute schwer, die Art der erforderlichen Begabung begrifflich zu fassen. 1920 – in den Debatten der Weimarer Schulkonferenz, galten Realschulen als die richtige Schulform für „technisch/künstlerisch“ Begabte, während die Realschulen in den ersten Jahrzehnten nach Ende des zweiten Weltkriegs eher für Berufe in der mittleren Verwaltungs- und Organisationsebene vorgesehen waren. Realschulen wären demnach für die verwaltungs- und organisatorisch Begabten angemessen gewesen. Die Beispiele machen die Absurdität dieses Konzepts hoffentlich hinreichend deutlich, das jedoch erst durch die Arbeiten Heinrich Roths nachhaltig erschüttert wurde.

Heinrich Roth und der dynamische Begabungsbegriff

Heinrich Roth, 1965 in den Deutschen Bildungsrat berufener Professor für Pädagogik an der Universität in Göttingen, griff mit seinem bereits in den 1950er Jahren entwickelten „dynamischen“ Begabungsbegriff die pädagogisch-psychologische Grundlage der frühen Selektion und des hierarchisch gegliederten Schulsystems frontal an. Der von ihm 1967 in der Reihe „Gutachten und Studien der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats“ herausgegebene Band „Begabung und Lernen“[15] wurde zur Grundlage, um dem Prinzip der Auslese wissenschaftlich abgesichert das Prinzip des Förderns entgegen zu setzen und dies zur Leitschnur für den Strukturplan für das Bildungswesen zu machen. Über die Bedeutung des dynamischen Begabungsbegriffs und des Gutachtenbandes urteilte Hans-Georg Herrlitz 2001 im Rückblick:

„Dieser Plan (Strukturplan für das Bildungswesen – MD) wäre ebenso wie die Empfehlung zur ‚Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen‘ ohne den Gutachten-Band über ‚Begabung und Lernen‘ gar nicht möglich gewesen.“ [16]

Der Slogan „Fördern statt Auslesen“ wurde in der Folge zum Credo der Schulreform, das sich der DGB in seinen bildungspolitischen Forderungen für alle Schulstufen und in allen Bildungsbereichen zu eigen machte.

Die Neukonzeption der Sekundarstufe II

In der Sekundarstufe II sollte ein vielfältiges Angebot praxisorientierter und theoriebezogener Lehrinhalte die Trennung zwischen allgemeinbildendem und berufsbildendem Schulwesen aufheben und die Studierfähigkeit oder eine erste berufliche Qualifikation oder beides vermitteln. Angesichts des derzeitigen Fachkräftemangels gerade auch im Handwerk und der wiederholten Forderung, den Drang zu Gymnasium und Abitur zu bremsen, wünschte man, die Sekundarstufe II wäre entsprechend den Vorstellungen des DGB konzipiert. Dann könnten junge Menschen selbst entscheiden, ob sie einen beruflichen oder akademischen Schwerpunkt wählen. Der Fachkräftemangel an sich wäre auf diese Weise nicht zu beseitigen, aber die Chancen verbesserten sich, Umwege und Abbrüche bei der Berufswahl zu reduzieren.

Lernbereich Arbeitslehre

In den bildungspolitischen  Forderungen des DGB ging es jedoch nicht nur um die Gleichstellung beruflicher und allgemeiner Bildung. Mit der Forderung nach einem Lernbereich Arbeitslehre für alle Schulformen sollten praxis- und berufsbezogene Themen Teil der Allgemeinbildung bereits in der Sekundarstufe I werden. Vehement wendete sich der DGB gegen „alle Versuche (…), die Arbeitslehre auf Hauptschulen zu beschränken oder dort gar in die Beliebigkeit der Wahl des einzelnen Schülers zu stellen“ und aus der Arbeitslehre „ein Instrument zu machen, durch das die Schüler früh den Erfordernissen der Wirtschaft angepaßt werden“.[17] Ein hundertprozentiger Erfolg blieb auch diesen Forderungen des DGB versagt. Arbeitslehre ist verbindlicher Lernbereich nur in Hauptschulen bzw. im Bildungsgang Hauptschule und an Gesamtschulen. Gymnasien – siehe oben –  lehnen den Lernbereich bis auf einige rudimentäre berufsorientierende Elemente mit Vehemenz ab. An Realschulen kann Arbeitslehre zumeist als Wahlpflichtfach gewählt werden. Wenn dies an Stelle der zweiten Fremdsprach geschieht, ist damit in der Regel eine Entscheidung gegen den Übergang zur gymnasialen Oberstufe verbunden. Lerninhalten aus den Bereichen Technik, Wirtschaft und Pflege wird im Hinblick auf das Abitur nach wie vor eine geringere Wertigkeit zugestanden als fremdsprachlichen Lerninhalten.

Die eigentliche Provokation des Lernbereichs Arbeitslehre lag jedoch im dezidiert an Arbeitnehmerinteressen orientierten Ansatz des DGB. In der Arbeitslehre sollte der Anspruch des DGB praktisch Gestalt annehmen für die Forderung nach einem Bildungssystem,

„das Einsichten in gesellschaftliche Interessenkonflikte vermittelt und dazu befähigt, diese Konflikte in demokratischen Formen auszutragen. Dazu gehört auch, Interessen in Solidarität mit anderen zu vertreten.“ (Vorwort zu den Forderungen)

In Punkt 6  der Leitsätze zur Arbeitslehre heißt es:

„Aus gewerkschaftlicher Sicht hat Bildung das Ziel, die Fähigkeiten des einzelnen so zu entwickeln, daß er sein Leben gesellschaftlich gestalten, d. h. mit anderen solidarisch zusammenarbeiten und handeln kann. Bildung muß den künftigen Arbeitnehmer zur Mit- und Selbstbestimmung befähigen.“

In konservativen und Wirtschaftskreisen wurde in solchen Formulierungen die Vorstufe zur revolutionären Gesellschaftsveränderung gesehen. Wurde im Kampf gegen Gesamtschulen häufig der Ost-West-Konflikt bemüht, die Gesamtschule als „kommunistische Kaderschmiede“, der Begriff „Einheitsschule“ als Schimpfwort im Sinne von „Einheitsbrei“ benutzt und mit der Aufforderung „dann geh doch nach drüben“ verbunden, so wurden die „Konfliktpädagogik“, einige  wirtschaftskritische Unterrichtseinheiten im Fach Arbeitslehre sowie die Hessischen Rahmenrichtlinien und antikapitalistisch orientiertes „strategisches Lernen“ während der gesamten 1970er Jahre und 1980er Jahre als Material für Kampagnen genutzt, um den Kommunismus-Vorwurf gegen Gesamtschulen zu untermauern.

Zwischen DGB und Wirtschaftsverbänden begann eine Art Rüstungswettlauf um das politische Bewusstsein in den Köpfen von Schüler:innen und Lehrer:innen. Den Arbeitskreisen Schule-Gewerkschaft setzten die Wirtschaftsverbände ihre finanziell sehr viel besser ausgestatteten Arbeitskreise Schule/Wirtschaft entgegen. Die Arbeitskreise Schule/Wirtschaft gibt es heute noch. Der DGB hat dieses Feld geräumt.

Vorhang auf und Ende offen

Bereits 1972/1973 begann sich abzuzeichnen, dass die Zeiten härter würden und dass die Reformeuphorie der ersten Jahre der Regierung Brandt ein jähes Ende finden könnten. Die zahlenmäßige Expansion in allen Bildungsbereichen sowie die Organisations- und Curriculumreformen im Schul- und Hochschulbereich waren bald gekennzeichnet durch  „schärfste Polarität und größte ideologische Gegensätze“, wie Bernd Faulenbach in seinem Buch „Das sozialdemokratische Jahrzehnt“[18] schreibt. Die Wirtschaftsrezession, geringere Staatseinnahmen und die Erosion der Regierung Brandt taten ein Übriges, um die Konservativen wieder in die Vorhand zu bringen und die Bildungsreformer:innen in jahrelangen zermürbenden „Grabenkämpfen“ aufzureiben und zu verschleißen.

Was also ist von den  Reformplänen der siebziger Jahre geblieben? Waren wir „schon mal weiter“? habe ich am Anfang gefragt. Hinsichtlich der Gesamtschau auf das Bildungs- und Wissenschaftssystem, aber auch hinsichtlich des Engagements und der Begeisterung, sich für schulpolitische Reformen einzusetzen, waren wir schon mal weiter. Vielleicht beschreibt es die Vorgänge am treffendsten, wenn man die Reformphase der 1960er/1070er Jahre als Drehbuch betrachtet,  an dessen Umsetzung immer noch gearbeitet wird und für dessen Uraufführung seit nunmehr 50 Jahren geprobt wird. Einzelne Passagen wurden zwischenzeitlich umgeschrieben, ohne jedoch das Grundanliegen und die Story substanziell zu verändern.

Ansonsten fällt meine Antwort ambivalent aus.

Die Grundsätze und Ideen der Reformphase, der Wille zur demokratischen Umgestaltung des Schulwesens, das Festhalten an Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit als Ziele sind bis heute lebendig geblieben und sind nach wie vor Gegenstand wissenschaftlicher, pädagogischer und  (schul-) politischer Debatten und Auseinandersetzungen. Die pädagogischen Beziehungen, die Formen, in denen gelehrt und gelernt wird, haben kooperative und partizipative Züge angenommen. Ganztagsschulen sind heute selbstverständlich.  Die Gesamtschulen konnten sich gegen alle Widerstände behaupten und haben gelernt, mit einer heterogenen Schülerschaft und vielfältigen Herausforderungen umzugehen. Die Verfechter und Bewahrer der frühen Selektion und des traditionellen Schulsystems geraten zunehmend in die Defensive.

Andererseits: Die grundsätzliche Umgestaltung des Schulwesens konnte bis heute nicht durchgesetzt werden, mehr Chancengleichheit nicht erreicht werden.  Das Schulsystem ist in ein Wettbewerbssystem transformiert worden, in dem nicht nur um Schüler:innen und Kennziffern bei Leistungsvergleichen, sondern auch um Lehrkräfte und anderes pädagogisches Personal konkurriert wird. Die Modernisierung des Curriculums, seine Anpassung an die Anforderungen der technologischen Entwicklung, an die Herausforderungen des Klimawandels, der alternden Gesellschaft und die zunehmende gesellschaftliche Spaltung, ist überfällig.

Dies alles zusammen betrachtet bleibt für mich als Schlussfolgerung:

  • Wir brauchen eine neue und grundsätzliche gesellschaftliche Debatte zur Weiterentwicklung des Schulsystems, deren Schwerpunkte, Zielrichtung und Verfahren für mich erst in Umrissen erkennbar ist. Aber das gegenwärtige System führt strukturell und inhaltlich unausweichlich in die Sackgasse, weil es die vorhandene soziale Ungerechtigkeit und zunehmende gesellschaftliche Spaltungen verstärkt statt sie abzumildern. Eine neuerliche große bildungspolitische Anstrengung erscheint mir dringend geboten. Nur die gemeinsame Schule für alle bietet die strukturellen Voraussetzungen, damit die junge Generation unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Herkunft ein Gefühl und Bewusstsein dafür entwickeln kann, sich gemeinsam über soziale Schranken hinweg für ein gutes Leben in Frieden und einer intakten Umwelt zu engagieren.
  • Das Schulsystem sollte in seiner Struktur und Organisation so flexibel sein, dass demografische Entwicklungen und veränderte inhaltliche Notwendigkeiten ohne größeren Aufwand zu bewerkstelligen sind. Auch dafür bietet die gemeinsame Schule für alle mit einer flexibel einsetzbaren Lehrerschaft bessere Voraussetzungen als das derzeitige, weitgehend entweder nach Schulformen oder nach Bildungsgängen organisierte Schulsystem.
  • Das Schulsystem sollte die strukturellen, materiellen und personellen Voraussetzungen haben, um die „Bildungsreserven“ zu mobilisieren, die im „abgehängten“ und vernachlässigten Fünftel der Schülerschaft schlummern. Dies wäre nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Verwirklichung des Rechts auf Bildung, sondern auch im Hinblick auf den sich immer dramatischer zuspitzenden Fachkräftemangel.
  • Um für diese notwendige Debatte gut vorbereitet zu sein, halte ich es für äußerst wichtig, die Erfahrungen mit der Bildungsreform der 1960er/1970er Jahre sowie der Entwicklungen 1990 bis heute gründlich zu analysieren. Eigene Fehler sollten ebenso wenig ausgespart werden wie die Stärken und Strategien der politischen Gegner. Am Ende sollten wir besser über hemmende und begünstigende Faktoren in Reformprozessen Bescheid wissen.

 

 

[1] FAULENBACH, Bernd (2011): Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur Neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969-1982. Bonn: Dietz.

[2] Biografischen Informationen zu Maria Weber in Remeke, Stefan (2010): Maria Weber 1919-2002. Ihrer Zeit voraus. In: frauen/ruhr/geschichte. https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/maria-weber/ [02.08.2020]

[3] Die Schreibweise wurde im Original beibehalten. Auch die durchgängig männliche Form wurde nicht korrigiert (obwohl es manchmal in den Fingern juckte).

[4] Der Begriff Bildungsnotstand kam bereits zu Beginn der 1960er Jahre auf. Er  bezeichnete  grundsätzliche Planungsmängel im Bildungswesen (Lehrermangel, übergroße Klassen soziale Barrieren, schlechter Chancen für Kinder aus der Arbeiterklasse). 1964 prägte Georg Picht den dramatischeren Begriff „Bildungskatastrophe“ in einer mehrteiligen Artikelserie in der Zeitschrift Christ und Welt, die sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit erregte.

[5] Das „Innovationsportal“ des Deutschen Bildungsserver listet zum Beispiel in seiner Datenbank am 31.03.2014 insgesamt 1038 (!) Projekte und Modellversuche des Bundes und der Länder auf, die auf bildungspolitisch innovative Maßnahmen abzielen, sowie relevante Vorhaben freier Träger (z.B. Stiftungen) und internationale bzw. europäische Programme, die reformpolitische Bedeutung haben.

[6] https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2010/2010_03_04-Foerderstrategie-Leistungsschwaechere.pdf [05.02.2023]

[7] https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Bildung/AllgBildung/Individuelle_Foerderung/2020-05-14-Bericht_Foerderstrategie-Leistungsschwache.pdf [05.02.2023]

[8] https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Bildung/AllgBildung/Schule_macht_stark_Bund-Laender-Vereinbarung.pdf [05.02.2023]

[9] Karl Dietrich Erdmann, Vorsitzender der Bildungskommission bis zum 14.02.1970 im Vorwort zum Strukturplan.

[10] Deutscher Philologenverband (2010): DPhV-Positionspapier zur Schulstrukturfrage.  https://www.dphv.de/wp-content/uploads/2020/08/2010-PositionspapierSchulstruktur.pdf [06.02.2023]

Deutscher Philologenverband (2019a): Übergänge kind- und sachgerecht gestalten. https://www.dphv.de/fileadmin/user_upload/DPhV_Positionspapier_UEbergaenge_30.11.19.pdf  [06.02.2023]

[11] Vergleiche hierzu auch Demmer, Marianne (2021): 1920 – 2020: Schulreform in Deutschland. Eine (un)endliche Geschichte?! Schriftenreihe „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie, Heft 7. ISSN 2566-8099. https://www.gew.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=106804&token=0e9aa918d55da8500380e7bcf56432e42565e15f&sdownload=&n=7-Schriftenreihe-Eine-fuer-alle-Nr.7-Marianne-Demmer.pdf.pdf [06.02.2023]

[12] DEUTSCHER BUNDESTAG (1973): Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bildungsgesamtplan. Drucksache 7/1474 vom 20.12.73. https://dserver.bundestag.de/btd/07/014/0701474.pdf  [15.12.2022]

[13] Ebd.

[14] Ebd.

[15] ROTH, Heinrich (1969): Begabung und Lernen – Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen. Stuttgart: Klett.

[16] HERRLITZ, Hans-Georg (2001): Heinrich Roth: „Begabung und Lernen“. Zur aktuellen Bedeutung eines Gutachtenbandes von 1969. In: Die Deutsche Schule Bd. 93 (2001) H. 1, 2001, S. 89-98, hier: S. 95

[17]Leitsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Arbeitslehre. Verabschiedet vom Geschäftsführenden Bundesvorstand des DGB am 14. Februar 1977.

[18] Faulenbach a.a.O. S. 201

Autor

  • Marianne Demmer blickt aus eigenem Erleben auf beinahe 70 Jahre Schulpolitik in Deutschland zurück. Nachhaltig geprägt wurde sie durch die Zeit der Bildungsreform und Studentenbewegung in den 1960er und 1970er Jahren. Von Beruf ist sie Lehrerin. Sie sagt von sich selbst „Ich bin eine typische Bildungsreserve: weiblich, vom Lande und erste Akademikerin in der Familie.“ Als engagierter Verfechterin einer gemeinsamen Schule für alle Kinder sind soziale Gerechtigkeit, Qualität und Chancengleichheit die Leitlinien ihres bildungspolitisches Handelns. Von 1997 bis 2013 war sie hauptberufliches Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und seit 2005 deren stellvertretende Vorsitzende. Seit ihrer Pensionierung ist sie Mitglied im Hochschulrat der Universität Siegen und betreibt in ihrer Siegerländer Heimat die Galerie und Agentur „bild-wort-ding“, in der sie Bildung, Kunst und Kultur zusammenbringt.

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