Jeanette Schnell (Leiterin der Referate Frühkindliche Bildung, Schulpolitik, Inklusion, Alphabetisierung und Grundbildung beim DGB-Bundesvorstand)
Warum ist Berufsorientierung ein dauerhaft relevantes Thema?
Weil es um mehr geht als um den ersten Job. Die Wahl einer Ausbildung oder eines Studiums ist für junge Menschen ein bedeutender Schritt. Er leitet einen neuen Lebensabschnitt ein und legt den Grundstein für die künftige Erwerbstätigkeit. Der Entscheidung für einen Beruf geht in der Regel ein längerer Prozess voraus, in dem persönliche Interessen, Fähigkeiten und Werte mit den Anforderungen und Möglichkeiten der Arbeitswelt abgeglichen werden. Am Ende sollen junge Menschen bereit und in der Lage sein, eine passende Anschlussoption zu wählen.
Die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung für die Berufswahl sind heute vielfältiger denn je. Waren es früher vor allem der reguläre Unterricht, spezielle Berufsorientierungsveranstaltungen, Familie und Freunde, spielen heute Social Media, Influencer und digitale Tools die weitaus größere Rolle. Hinzu kommen gezielte Kampagnen von Arbeitgebern, die um den Nachwuchs werben. Doch trotz dieser Fülle an Quellen fühlen sich viele Jugendliche bei der Berufswahl überfordert. Um sich in diesem Dschungel zurechtzufinden, benötigen sie eine ausgeprägte Informations- und Medienkompetenz. Sie müssen relevante Inhalte erkennen, bewerten und auf ihre individuelle Situation beziehen können. Gleichzeitig ist Selbstreflexion gefragt, um sich der eigenen Interessen und Stärken bewusst zu werden. Praktische Erfahrungen in der Berufs- und Arbeitswelt sind unerlässlich, um die eigenen Vorstellungen und Wünsche realistisch mit der Praxis abgleichen zu können. Handlungskompetenz ist erforderlich, um die nächsten notwendigen Schritte aktiv planen und umsetzen zu können. Und schließlich braucht es Entscheidungskompetenz, um eine bewusste Wahl treffen zu können. All dies macht Berufswahlkompetenz aus.
Hinzu kommt, dass die Erwartungen von gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Akteuren an schulische Berufsorientierung sehr hoch sind und mitunter auch weit auseinander gehen: Während die einen darin vor allem ein Instrument sehen, um für bestimmte Ausbildungs- oder Mangelberufe zu werben, gehört sie für andere zur Allgemeinbildung, die auf eine komplexe Arbeitswelt vorbereiten soll, in der der Wandel die Konstante ist, in der es keine „Lebensberufe“ mehr gibt und in der kontinuierliche Fort- und Weiterbildung ebenso wichtig ist, wie eine fundierte Erstausbildung.
Im Rahmen einer umfassenden Berufsorientierung gilt es, diese unterschiedlichen Erwartungen und Interessen zu thematisieren und gleichzeitig die politischen, ökologischen, technologischen und sozialen Wirkungszusammenhänge der heutigen Wirtschafts- und Arbeitswelt darzustellen. Daneben muss Berufsorientierung ergebnisoffen, praxisnah, kompetenzorientiert und individuell fördernd gestaltet werden. Für eine derart umfassend ausgerichtete Berufsorientierung benötigen Schulen ein strukturiertes Berufsorientierungskonzept, verlässliche Kooperationen mit außerschulischen Partnern sowie eine Qualifizierung und zeitliche Ressourcen für die verantwortlichen Lehrkräfte.
Für den DGB ist Berufsorientierung ein Bildungsthema.
Denn es geht um mehr als um den erfolgreichen Übergang von der Schule in den Beruf. Es geht um elementare Fragen wie: Wer bin ich? Was kann ich? Wie möchte ich arbeiten und leben? Wie zukunftssicher ist meine heutige Wahl? Berufsorientierung ist ein Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung, zur Selbstverwirklichung und zur aktiven Gestaltung der eigenen Zukunft, der Gesellschaft und der Arbeitswelt. Junge Menschen sollen nicht nur ihre individuellen Fähigkeiten kennen, sondern auch über ihre Rechte als Arbeitnehmer*innen informiert und darin gestärkt werden. Wer gut orientiert ist und selbstbewusst ins Berufsleben startet, ist motivierter und auch eher bereit, Verantwortung zu übernehmen und sich zu engagieren. So wird Berufsorientierung zum Schlüssel für Teilhabe, Chancengleichheit und eine demokratische Arbeitswelt.
Wissensvermittlung orientiert sich an der individuellen Lebenswirklichkeit junger Menschen und verknüpft diese mit ihren verschiedenen Rollen in der Arbeitswelt: sei es als Beschäftigte, als Konsument*innen in der Wirtschaft oder als engagierte Bürger*innen in der Zivilgesellschaft. Durch die Auseinandersetzung mit Themen wie Mitbestimmung, Lohn- und Tarifpolitik, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung sollen junge Menschen befähigt werden, ihre politische und gesellschaftliche Position zu reflektieren, sich selbst zu verorten und eigene Wertvorstellungen zu entwickeln. Berufsorientierung ist daher immer auch Lebensweltorientierung und politische Bildung.
Berufsorientierung sollte spätestens ab Klasse 7 in allen Schulformen als Querschnittsaufgabe verankert sein. Auch Praktika sind von großer Bedeutung, da sie die Möglichkeit bieten, die eigenen Wünsche und Vorstellungen mit der Realität der Arbeitswelt abzugleichen. Alle Schüler*innen (einheitliche Schreibweise) sollten daher ausreichend praktische Erfahrungen sammeln können. Damit Praxisphasen einen positiven Einfluss auf den Orientierungsprozess haben, müssen sie von hoher Qualität sein. Wissenschaftlich fundierte Qualitätsstandards für die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Praktika sind aus Sicht des DGB längst überfällig. Dies begründet der DGB in seiner Position „Mehr Qualität und bessere Praxis in der Berufsorientierung – Wirkungsvolle Maßnahmen aus gewerkschaftlicher Sicht“.
Der DGB setzt auf Berufswahlkompetenz. Der Begriff der „Ausbildungsreife“ greift zu kurz.
Denn dieser suggeriert: Du bist jetzt reif oder du bist es nicht. Es ist eine Momentaufnahme. Und wer bestimmt, was „reif“ ist? Der DGB kritisiert das Konzept der Ausbildungsreife als normativ und defizitorientiert. Zudem wird die Verantwortung für einen erfolgreichen Einstieg in die Ausbildung einseitig den Jugendlichen zugeschrieben. Andere Kritiker*innen vermuten, dass die Klagen über eine vermeintlich mangelnde Ausbildungsreife Arbeitgebern als Rechtfertigung dafür dienen könnte, ihr Ausbildungsangebot quantitativ und qualitativ nicht am tatsächlichen Bedarf der Jugendlichen auszurichten. Dennoch hat das Konzept der Ausbildungsreife 2004 Eingang in den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs gefunden. Um Ausbildungsreife messen zu können, hat die Bundesagentur für Arbeit 2006 gemeinsam mit der Wirtschaft und weiteren Partnern einen Kriterienkatalog entwickelt, der zentrale Kompetenzen wie Leistungsbereitschaft, kognitive Grundfähigkeiten, soziale Kompetenzen und körperliche Belastbarkeit standardisiert erfassen sollte.
Doch spätestens seit sich die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ mit den Begriffen Ausbildungsreife, Berufswahlkompetenz, Ausbildungsstartkompetenz befasst hat, steht fest: Das Konzept der Ausbildungsreife ist wissenschaftlich und pädagogisch nicht fundiert; es hat nichts mit Bildung zu tun. Ein Teil der Enquete-Kommission kritisierte eine mangelnde Objektivität bei der Ermittlung von Ausbildungsreife. Auch ließen sich die Schwierigkeiten beim Übergang von der Schule in Ausbildung nicht auf individuelle, momentane Merkmale der Jugendlichen reduzieren. Vielmehr gebe es verschiedene Faktoren (die gesamtwirtschaftliche Situation, die Lage auf dem Ausbildungsmarkt, das Rekrutierungsverhalten der Betriebe und Unternehmen usw.), die für den erfolgreichen Übergang in Ausbildung entscheidend seien und im Konzept der Ausbildungsreife nicht berücksichtigt würden. Mehr noch! Teile der Kommission plädierten für einen klaren Perspektivwechsel: weg von der Ausbildungsreife – hin zur Förderung von Berufswahlkompetenz. Damit wurde eine langjährige Forderung der Gewerkschaften bestätigt.
Berufswahlkompetenz ist auf Langfristigkeit angelegt, sie definiert die Fähigkeit und Bereitschaft, die Berufswahl so zu bewältigen, dass sie den eigenen Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten sowie den Anforderungen der beruflichen Tätigkeit gerecht wird und unter den gegebenen Rahmenbedingungen realisierbar ist. Sie ist Grundlage dafür, dass sich Menschen in einer komplexen und dynamischen Arbeitswelt immer wieder neu informieren und orientieren und schließlich reflektierte Entscheidungen über ihren beruflichen Weg treffen können. Berufswahlkompetenz ist eine Schlüsselkompetenz für ein selbstbestimmtes Erwerbsleben.
Berufsorientierung kann viel, aber sie kann nicht alles lösen.
Berufsorientierung kann Ausbildungs- und Studienabbrüchen vorbeugen und Chancengleichheit fördern. In einer Wirtschafts- und Arbeitswelt, in der Zugänge zu Berufen und Karrierewegen stark von Faktoren wie Herkunft, Geschlecht oder sozialem Hintergrund abhängen, kann eine diskriminierungs-, klischee- und barrierefreie Berufsorientierung dazu beitragen, dass alle Jugendlichen vergleichbare Chancen auf einen erfolgreichen Berufseinstieg haben. Gute Berufsorientierungskonzepte legen ein Augenmerk auf Inklusion und Diversität und damit auf individuelle Bedarfe. Entsprechend sind Sensibilisierungs- und Qualifizierungsangebote für alle in der Berufs- und Studienorientierung Tätigen unentbehrlich, um eine Berufsorientierung zu gewährleisten, die möglichst allen Jugendlichen gerecht wird.
Berufsorientierung kann wichtige Impulse geben, Wege aufzeigen und individuell bei der Praktikumssuche und der Berufswahlentscheidung unterstützen. Sie kann aber nicht alle Unsicherheiten und offenen Fragen beim Übergang von der Schule ins Berufsleben lösen. In einer Welt, in der sich Berufsbilder und Arbeitsmärkte durch Digitalisierung, Flexibilisierung, Klimawandel oder den demografischen Wandel rasant verändern, kann Berufsorientierung – wie der Name schon sagt – bestenfalls Orientierung geben. Auch ist zu berücksichtigen, dass viele Jugendliche erst im Laufe der Zeit durch persönliche Entwicklung, Erfahrungen oder Umwege zu einer klareren Vorstellung über ihre beruflichen Wünsche gelangen. Eine ausgeprägte Berufswahlkompetenz kann diesen Prozess unterstützen. Klar ist aber auch: Selbst die beste Berufsorientierung kann die strukturellen Probleme auf dem Ausbildungsmarkt nicht lösen. Solange Ausbildungsbedingungen unattraktiv sind, wird auch die Zahl der Auszubildenden nicht steigen.