Deutscher Qualifikationsrahmen – Warum war und ist er so wichtig für Gewerkschaften?

Hermann Nehls (Gewerkschaftssekretär im Bereich Migrations- und Antirassismuspolitik beim DGB-Bundesvorstand)

Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit der Berufsbildung sollten gestärkt werden

Als Verantwortlicher für Berufsbildungspolitik des DGB hörte ich 2006 zum ersten Mal von meinem europaaffinen ver.di Kollegen Jens Vojta vom Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR). Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass daraus ein Kulturkampf – wie es die Süddeutsche Zeitung 2011 beschrieb – zwischen Allgemein- und Hochschuldbildung auf der einen und beruflicher Bildung auf der anderen Seite erwachsen würde, der bis heute nachwirkt. In den Räumlichkeiten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks diskutierten damals in kleiner Runde Vertreterinnen und Vertreter des DIHK, ZDH und des DGB die neusten Instrumente der Europäischen Kommission.

Alles, was uns präsentiert wurde, wirkte sehr technisch. Die Kommission wollte einen europäischen Arbeitsmarkt und Bildungsraum mit mehr Transparenz und Mobilität schaffen. Nachdem der Versuch gescheitert war, dieses Ziel über ein Leistungspunktesystem für die berufliche Bildung herzustellen, sollte der EQR als neues Instrument über die Methode der offenen Koordinierung entwickelt werden. Die Schlüsselbegriffe waren Kompetenzorientierung und lebenslanges Lernen. Während die Arbeitgeberseite die Einführung eines EQR grundsätzlich begrüßte[1], war die Stimmung auf der Gewerkschaftsseite von Skepsis geprägt. Wir fürchteten, dass die berufliche Bildung vor dem Hintergrund der mehrheitlich akademisch ausgerichteten Bildungssysteme in Europa ins Hintertreffen geraten könnte und der Druck in Richtung Modularisierung stärker werden würde[2].

Gleichwohl verständigten sich der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften auf eine Position mit der wir uns an der Entwicklung eines Qualifikationsrahmens beteiligen wollten. Im Zentrum standen dabei Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung, Transparenz und Durchlässigkeit in der Bildung, Anerkennung von Berufserfahrung und lebensbegleitendes Lernen. Die Gewerkschaften hatten immer wieder kritisiert, dass die Durchlässigkeit zwischen den unterschiedlichen Bildungseinrichtungen und -systemen unzureichend war. Der Prozess, der folgte, war ein Ringen in Arbeitsgruppen mit der Arbeitgeberseite, der Hochschulrektorenkonferenz und der Kultusministerkonferenz um die Konstruktion, Begriffe und Definitionen des DQR. Nach außen drang davon wenig. Was an die Öffentlichkeit gelang, war die Auseinandersetzung mit der KMK, die das Abitur im achtstufigen Qualifikationsrahmen unbedingt ein Niveau über der Berufsausbildung haben wollte. [3] Dieses Thema ist glücklicherweise vom Tisch.

Was waren die zentralen Punkte der Auseinandersetzung?

Zielsetzung des DQR: Auf den ersten Blick schien zwischen den in Deutschland beteiligten Akteuren die größte Übereinstimmung im Hinblick auf die Ziele eines DQR vorzuliegen. So hatte beispielsweise die Arbeitsgruppe des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) zur Erarbeitung eines Deutschen Qualifikationsrahmens, an der Vertreter der Arbeitgeberseite, der Ministerien und der Gewerkschaften teilnahmen, einen Konsens darüber erzielt, welche Ziele verfolgt werden sollten. Die Ausrichtung entsprach im Wesentlichen der des EQR. Die Spitzenverbände der Wirtschaft ergänzten den Zielkanon allerdings um den Hinweis, dass ein EQR nur dann gelingen könne, „wenn er am Bedarf der Wirtschaft und am Nutzen für die Unternehmen ausgerichtet ist“.[4] Ähnlich äußerten sich Branchenverbände der Metall- und Elektroindustrie: Entscheidend seien die Einordnung von Kompetenzen und beruflicher Handlungsfähigkeit sowie die Orientierung an den qualifikatorischen Anforderungen des Beschäftigungssystems.[5] Die Gewerkschaften kritisierten diese Positionen als einseitige utilitaristische Ausrichtung, die die gesellschaftliche Dimension von Bildung, auch beruflicher Bildung, ausblendet.

Gestaltung des Deutschen Qualifikationsrahmens: Die Gewerkschaften haben sich besonders dafür stark gemacht, dass es einen Qualifikationsrahmen für Deutschland gibt, der sich in seiner Architektur und Terminologie deutlich vom EQR-Ansatz unterscheidet. Während der EQR auf drei Säulen beruht (Wissen, Fertigkeiten und Kompetenz), kommt die zentrale Stellung der Handlungskompetenz im DQR durch die Beschreibung der Anforderungssituation des jeweiligen Niveaus und einer Viersäulenstruktur (Wissen, Fertigkeiten, Sozialkompetenz und Selbstständigkeit) besser zum Ausdruck. Die Vier-Säulen-Struktur war im Arbeitskreis DQR, in dem Repräsentanten aller Bildungsbereiche einschließlich der Arbeitgeberseite und der Gewerkschaften seit 2006 an der Entwicklung des DQR arbeiten, lange Zeit umstritten. Während die Vertreterinnen und Vertreter der Ministerien, der Kultusministerkonferenz (KMK) und der Hochschulseite eine engere Ausrichtung am EQR, also eine Drei-Säulen-Struktur favorisierten, konnten sich am Ende die Gewerkschaften gemeinsam mit der Arbeitgeberseite mit der Vier-Säulen-Struktur durchsetzen. Hierdurch sollte Handlungskompetenz besser abgebildet werden können. Die Zuordnung von beruflichen Qualifikationen auf den höheren Niveaus ist so viel besser möglich, weil berufliches Wissen stärker Berücksichtigung findet.

Länder, die die Terminologie und Systematik des EQR übernommen haben, schließen beruflich Qualifizierte faktisch von den Niveaus 6, 7 und 8 aus. Diese Niveaus sind vornehmlich Absolventinnen und Absolventen der Hochschule (Bachelor, Master und Doktor) vorbehalten. Dies widerspricht dem Anliegen des EQR, Transparenz und Mobilität durch eine bildungsbereichsübergreifende Zuordnung für allgemeine, hochschulische und berufliche Bildung auf allen Niveaus zu fördern.

Kompetenzdefinition: Die Gewerkschaften haben sich in der Arbeitsgruppe des Hauptausschusses des BIBB auch in der Frage der Kompetenzdefinition durchgesetzt. Die Gewerkschaften machten sich für einen Kompetenzbegriff stark, der berufliche, personale und gesellschaftliche Dimensionen beinhalten sollte. Berufliche Handlungsfähigkeit und persönliche Entwicklung der Beschäftigten unter Einschluss von Planungs- und Entscheidungsfähigkeit, ganzheitliche Arbeitsaufgaben, die Anforderungen des Arbeitsmarktes unter dem Aspekt langfristiger Verwertbarkeit der Qualifikationen, Mitwirkung an betrieblichen und gesellschaftlich-sozialen Prozessen und reflexive Handlungsfähigkeit waren dabei zentrale Bezugspunkte.

Handlungskompetenz sollte als Einheit von Fach-, Sozial- und Human- bzw. personaler Kompetenz definiert werden. Dies dient der Bewältigung unterschiedlich komplexer Anforderungen in Arbeits- und Lernsituationen. Sie versetzt damit, basierend auf Wissen und Erfahrung, Menschen in die Lage, gefundene Lösungen zu bewerten und die eigene Handlungsfähigkeit weiterzuentwickeln. „Eine umfassende Handlungskompetenz ist unabdingbare Voraussetzung für Beruflichkeit, nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit und fördert die gesellschaftliche Teilhabe“, heißt es in der Definition des BIBB Hauptausschusses.[6] Der Kompetenzbegriff des EQF ist wesentlich enger gefasst und fokussiert lediglich auf die Übernahme von Verantwortung.

Zuordnung zu den Niveaus des DQR: Bei der Zuordnung von Qualifikationsprofilen standen vor allem Fragen des Verhältnisses von hochschulischen und beruflichen Aufstiegsfortbildungsgängen und die Frage des Verhältnisses von allgemein schulischer und beruflicher Bildung im Vordergrund. Der DQR enthält bildungsbereichsübergreifende Deskriptoren für die Zuordnung zu allen Niveaus. Dies schließt auch die in Europa heiß umkämpften Niveaus 6, 7 und 8 ein. Während diese Niveaus in den meisten Mitgliedstaaten von der Hochschule dominiert werden und Bachelor, Master und PhD hier ein Alleinstellungsmerkmal haben, sind im DQR die Voraussetzungen geschaffen worden, beruflich Qualifizierte auch ohne Hochschulbesuch den höchsten Niveaus zuzuordnen.

Die Gewerkschaften haben sich dafür eingesetzt, dass Meister und Fachwirte ebenso wie Bachelor dem Niveau 6 zugeordnet werden. Ab Niveau 6 beinhaltet die DQR-Matrix in der Kategorie Wissen eine Formulierung, die eine Zuordnung sowohl von hochschulisch (wissenschaftliche Grundlagen), wie auch von beruflich Qualifizierten (berufliches Wissen) möglich macht. Damit konnten verschiedene Qualifikationswege als gleichwertig, aber nicht gleichartig dargestellt und zugeordnet werden. Zwischenzeitlich wurden Fortbildungsberufe wie der Betriebswirt nach dem Berufsbildungsgesetz (Geprüfter), der Betriebswirt nach der Handwerksordnung (Geprüfter), der Technische Betriebswirt (Geprüfter) und der Berufspädagoge (Geprüfter) dem Niveau 7 zugeordnet. [7]

Warum ist der DQR immer noch wichtig für die Gewerkschaften?

Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung zu stärken und Transparenz und Durchlässigkeit zu fördern, waren zentrale Anliegen der Gewerkschaften bei der Entwicklung des DQR. Damit sollten die beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten für die Beschäftigten verbessert werden. Die bisherige Bilanz ist gemischt. Durch die bildungsbereichsübergreifende DQR-Matrix werden beruflich Qualifizierte wie Meister, Fachwirte und Betriebswirte (Geprüft) den Niveaus 6 und 7 zugeordnet, Niveaus, die in anderen Mitgliedstaaten üblicherweise nur hochschulisch Qualifizierten vorbehalten sind. Beruflich Qualifizierte sind damit in der DQR-Logik auf Augenhöhe mit hochschulisch Qualifizierten. Das ist gesellschafts- und bildungspolitisch ein Durchbruch. Es verbessert das gesellschaftliche Ansehen und die Attraktivität der Berufsbildung. Doch es ist noch viel mehr zu tun. Hier einige Hinweise:

Die Implementierung des DQR ist bisher nur unzureichend erfolgt. Es gibt keine gesetzliche Grundlage, wonach Schulen und Hochschulen das DQR Niveau auf den Zeugnissen ausweisen müssen. Einzig die Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern vermerken das DQR Niveau in ihren Abschlusszeugnissen. Welche Relevanz daraus erwächst, zeigte eine Online-Umfrage[8] des DIHK 2016 zur Bekanntheit des DQR bei Unternehmen. 11.000 Unternehmen wurden seinerzeit im Rahmen einer Umfrage zu Aus- und Weiterbildung auch zum DQR befragt. 20 Prozent der befragten Unternehmensvertreter hätten vom DQR gehört. Insbesondere die Frage nach der Relevanz des DQR bei der Vergleichbarkeit von Abschlüssen würde von diesen Unternehmen mit 51 Prozent positiv beantwortet. Bei der letzten Befragung wären es erst 43 Prozent gewesen. Auch zeigte sich, dass der DQR von den Unternehmen für die Einstellung von Personal und bei Vergütungsfragen herangezogen würde.

Das BMBF[9] sieht ein zentrales Element der BBiG-Novelle in der Einführung transparenter Fortbildungsstufen für die höherqualifizierende Berufsbildung. Abschlüsse können künftig die Bezeichnungen „Geprüfte/r Berufsspezialist/in“, „Bachelor Professional“ oder „Master Professional“ tragen. Die Gleichwertigkeit von beruflicher Fortbildung und Studium würde dadurch besser sichtbar gemacht. Gleichwertigkeit von beruflicher und hochschulischer Bildung erwächst aber nicht aus der bloßen Titelvergabe. Der DQR muss stärker als bisher die Ordnungsarbeit der beruflichen Fortbildung beeinflussen. Fortbildungsordnungen sollten künftig einen am DQR orientierten Rahmenplan erhalten, so dass deutlich zwischen den zu vermittelnden Inhalten und den Prüfungen getrennt werden kann. Das verbessert die Qualität der beruflichen Fortbildung und die Akzeptanz der Abschlüsse auch gegenüber der Hochschule.  Darüber hinaus sollten Prüfungen in der Fortbildung mit Blick auf den DQR unter Berücksichtigung des Anwendungskontextes kompetenzorientiert durchgeführt werden. Gleiches gilt für die berufliche Ausbildung. Auch hier sollten sich Ausbildungsordnungen (sowie Rahmenlehrpläne) stärker am DQR orientieren und das Kompetenzverständnis des DQR zu Grunde gelegt werden.

Was darüber hinaus noch zu tun ist: Der Deutsche Qualifikationsrahmen bietet die Chance, die Anerkennung von non-formalem und informellem Lernen in das Qualifikationssystem systematisch einzubinden. Notwendig ist auch hier ein formeller Rahmen, in dem die Anerkennung von non-formalem und informellem Lernen vollzogen wird. Informell erworbene Kompetenzen spielen vor allem im Bereich der beruflichen Weiterbildung eine erhebliche Rolle. Deren Anerkennung hängt vom Wohlwollen der Arbeitgeber ab, Betriebs- und Personalräte haben hier kaum Handlungsmöglichkeiten. Es geht um die Bewertung von Berufserfahrungen, die im Verlauf der Tätigkeit gemacht werden. Ein Qualifikationsrahmen, der non formal und informell erworbene Kompetenzen mit einbezieht, ermöglicht eine entsprechende Zuordnung auch ohne formale Abschlüsse.

[1] Brunner, S./Esser, F. H./Kloas, P.-W. (2006): Der Europäische Qualifikationsrahmen – Bewertung durch die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft, in: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 35 (2), S. 14 – 17.

[2] Drexel, I. (2005): Das Duale System und Europa. Ein Gutachten im Auftrag von ver.di und IG Metall, Berlin/Frankfurt am Main

[3] Siehe: https://www.sueddeutsche.de/karriere/streit-um-abschluesse-abitur-soll-mehr-wert-sein-als-ausbildung-1.1166149

[4] Siehe: Brunner, S. u. a., a.a.O.

[5] Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien/Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie/Verband Deutscher Maschinen und Anlagenbau/Zentralverband Elektrotechnik und Elektronikindustrie (Hrsg.) (2007): Die Anforderungen des Beschäftigungssystems – Ein Beitrag zur Gestaltung des Deutschen Qualifikationsrahmens, Berlin/Frankfurt a. M.

[6] Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung, Arbeitsgruppe DQR/ECVET (2007): Leitlinien zur Gestaltung eines DQR, unveröffentlichtes Dokument. Siehe auch Ders. [o.J.]: Empfehlungen zur Erarbeitung eines deutschen Qualifikationsrahmens, www.bibb.de.

[7] Liste der zugeordneten Qualifikationen: https://www.dqr.de/media/content/Liste%20der%20zugeordneten%20Qualifikationen_01082017.pdf

[8] Vgl. BMBF: https://www.dqr.de/content/2727.php

[9]https://www.bmbf.de/de/die-novellierung-des-berufsbildungsgesetzes-bbig-10024.html

Autor

  • Hermann Nehls

    Hermann Nehls, geboren 1955 in Rostock, arbeitet beim DGB Bundesvorstand. Von 2014 bis 2017 war er Sozialreferent an der Deutschen Botschaft in Washington. Davor leitete er das Referat für Grundsatzfragen der beruflichen Aus- und Weiterbildung beim DGB Bundesvorstand. Seine berufliche Karriere begann er mit einer Ausbildung zum Industriemechaniker. Er arbeitete unter anderem als Sozialsekretär bei der Evangelischen Kirche (Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt) und war Leiter der DGB Jugendbildungsstätte Flecken–Zechlin in Brandenburg.