Prof. Dr. em. Günter Kutscha (Emeritierter Professor für Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung in der Fakultät für Bildungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen)
1. Politische Rahmenbedingungen
Das Thema Gleichwertigkeit und Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung gehört zum „harten Kern“ der Bildungsreformbewegung in der Bundesrepublik Deutschland Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre. Die Diskussion um eine grundlegende Reform des Bildungswesens wurde ausgelöst durch zwei „Alarmrufe“: Der eine war bildungsökonomisch motiviert und angetrieben von der Kritik, dass das Bildungswesen nicht den Anforderungen wirtschaftlichen Wachstums gerecht werde. Diesen Ansatz vertrat Georg Picht in seiner Artikelserie und Buchpublikation „Die deutsche Bildungskatastrophe“ (1964). Der andere Alarmruf galt der Demokratisierung des Bildungswesens und wurde geprägt von Ralf Dahrendorfs Schrift „Bildung ist Bürgerrecht“ (1965). Sie war ein Plädoyer für den „social demand“-Ansatz mit Anspruch auf Gleichheit der Bildungschancen unabhängig vom ökonomischen Bedarf. Beide Ansätze sind in die Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats, namentlich in den „Strukturplan für das Bildungswesen“ (1970) und die Empfehlung zur „Neuordnung der Sekundarstufe II“ (1974) eingeflossen und haben den „Bildungsgesamtplan“ der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (1973) beeinflusst (vgl. Kutscha 2022). Der konzeptuell weitreichendste und in Praxis erprobte Ansatz zur Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung war der Modellversuch Kollegstufe des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Initiative zu diesem Versuch stand im Zusammenhang einer politischen Aufbruchbewegung, für die Leitworte wie „Chancengleichheit“ und „mehr Demokratie wagen“ (unter der Kanzlerschaft von Willi Brand, 1969-1974) in der Bildungspolitik starke Reformimpulse freisetzten (vgl. Friedeburg 1989).
Landespolitischer Ausgangspunkt für die Planung und Einführung des Modellversuchs Kollegstufe NW war die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Heinz Kühn (SPD) zu Beginn der 7. Wahlperiode des Landtags NW (1970): „Für das 11. bis 13. Schuljahr werden Kollegs eingerichtet, in denen Absolventen der Hauptstufe bei differenziertem Bildungsangebot auf Studium und Beruf vorbereitet werden“ (Plenarprotokoll 07/2, Sitzung am 28. Juli 1970, S. 11, zitiert bei Fingerle 2009, S. 226). Dazu wurde vom Kultusminister (Jürgen Girgensohn) eine Planungskommission unter Vorsitz von Herwig Blankertz, damals Professor für Pädagogik und Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, eingerichtet. Die Planungskommission legte 1972 ihre Empfehlung „Kollegstufe NW“ [1] vor (Kultminister NW 1972), auf deren Grundlage die Wissenschaftliche Begleitung Kollegstufe (WBK) in Zusammenarbeit mit den beteiligten Versuchsschulen die Umsetzungspläne und ‑praxen vorbereiteten und nach Prinzipien der Handlungsforschung begleiteten (vgl. Gruschka 1976).
2. Das Konzept des Modellversuchs Kollegstufe NW – Bildungstheoretische Prinzipien, Organisation und curriculare Gestaltung der Kollegschule
2.1 Bildungstheoretische Prinzipien
Das Konzept der Planungskommission Kollegstufe NW zeichnete sich dadurch aus, dass es die zugrunde liegenden organisatorischen und curricularen Optionen bildungstheoretisch begründete (vgl. Kultminister NW 1972, S. 9ff.). Das war bemerkenswert und geht zurück auf die kritische Auseinandersetzung von Herwig Blankertz mit der überlieferten Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung im deutschen Bildungsbereich (vgl. Blankertz 1963). Andere Schulversuche, insbesondere die Modellversuche der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung sahen von einer explizit bildungstheoretischen Legitimation ab (vgl. Dauenhauer/Kell 1990).
Was den gymnasialen Bildungskanon betrifft, so kommt die Planungskommission in ihren bildungstheoretischen Erwägungen zu dem Ergebnis (Kultusminister NW 1972, S. 21 f.), dass ein eindeutiger Kanon von Inhalten, der die Gebildetheit der Person ausdrückt, unmöglich geworden sei. Denn eine inhaltlich eindeutig ausgewiesene Festlegung von Allgemeinbildung wäre abhängig von
- „einer einheitlichen, die politisch-gesellschaftlichen Ordnungen umgreifenden Weltanschauung,
- einem ungebrochenen Verhältnis zum kulturellen Traditionszusammenhang,
- einer relativ unbegrenzten und jedenfalls in ihrer Dynamik überschaubaren Wissenschaftsentwicklung.“
Diese Voraussetzungen seien nicht mehr gegeben. Wären aber keine Inhalte begründbar, denen als solchen das Prädikat der allgemeinen Bildung zukomme, so ließen sich doch allgemeine Lernziele nennen und rechtfertigen, die unabhängig von den zu vermittelnden Unterrichtsinhalten mit Vorrang erstrebt werden müssten. Der Umkreis solcher allgemeinen Lernziele sei im Wesentlichen definiert durch zwei Momente: durch die Wissenschaftsorientiertheit des Lehrens und Lernens in allen Bereichen der Kollegstufe und durch das Prinzip der Kritik. Wissenschaftsorientiertheit des Lehrens und Lernens leitete die Planungskommission ab aus der Verwissenschaftlichung der technischen Zivilisation sowie der beruflichen und außerberuflichen Lebensbereiche; Kritik steht Zusammenhang mit dem Postulat der Erziehung zur Mündigkeit in der demokratischen Gesellschaft.
Mit dem Verzicht auf den im gymnasialen Bildungskanon festgeschriebenen Allgemeinbildungsanspruch und die damit verbundenen Privilegien der Studienzugangsberechtigungen korrespondiert auf Seiten der berufsqualifizierenden Lehrgänge der Anschluss an Programm und Niveau der Wissenschaftspropädeutik. Diese Konsequenz wird mit der Modernisierung technischer Prozesse und der Bewältigung beruflicher Anforderungen in Verbindung gebracht, aber auch – um verallgemeinerbar für alle beruflichen Ausbildungsgänge zu sein – mit der Forderung, den Anspruch auf Befähigung zur Mündigkeit ohne jede Einschränkung für die Jugendbildung in der Sekundarstufe II geltend zu machen. Nur in weitgehender Verknüpfung mit dem Prinzip der Wissenschaftspropädeutik werde sicherzustellen sein, dass die Tendenz des berufskundlichen Unterrichts, von der bloßen Benennung und Klassifikation der Werkregeln zur Orientierung an wissenschaftlichen Methoden überzugehen, auch das kritische Moment einbringt. „Was die Berufsausbilddung in ihrer Ökonomisierung versäumte und das Gymnasium in seiner Ökonomieferne verfehlte, wird vom Unterricht der Kollegstufe thematisiert: die politische Kritik von Wissenschaft und Technologie auch als Instrumente gesellschaftlicher Herrschaft“ (Kultusminister NW 1972, S. 24).
2.2 Organisation
Nach den Empfehlungen der Planungskommission Kollegstufe NW war vorgesehen, die bisherige gymnasiale Oberstufe mit beruflichen Vollzeitschulen und der Teilzeit-Pflichtberufsschule zu einer organisatorisch selbständigen Schulform zu integrieren. „Die Kollegstufe ist das Ende sowohl der gymnasialen Oberstufe als auch der Berufsschule“ (Blankertz 1972a, 44; Blankertz 1972b). Jede Kollegschule sollte eine gymnasiale Oberstufe und eine Pflichtberufsschule enthalten (vgl. Blankertz 1972a, S. 44). „Wenn die Integration berufsqualifizierendender Lehrgänge in der Kollegstufe keine isolierten und dann auch noch chancenloseren Restgruppen als zuvor zurücklassen soll“, so argumentierte die Planungskommission, „muß die gegenwärtige Teilzeitpflichtberufsschule einbezogen werden“ (Kultusminister NW 1972, S. 25).
Die Kollegstufe sollte in 30 Versuchen erprobt werden. Es wurde also davon abgesehen, eine einzelne „Laborschule“ als singulären Testfall zu entwickeln. Nur so ließen sich regionale Besonderheiten beim Auf- und Ausbau der Kollegschule berücksichtigen. Bei der Umsetzung der Planungsvorgaben in den unterschiedlichen Versuchsregionen mit ihren spezifischen schulorganisatorischen Ausgangsvoraussetzungen und schulpolitischen Interessenlagen erwies sich die ursprünglich intendierte „Idealversion“, wonach jeder Kollegstufenversuch mindestens eine gymnasiale Oberstufe und eine Teilzeitberufsschule einschließen solle, als zu invariabel für eine regional angepasste Organisationsentwicklung. Letztlich wurden vier “Entwicklungsmodelle” zur Förderung vorgeschlagen (vgl. Schenk 1983, S. 379 f.):
- Das „Konvergenzsystem“ entspricht dem Konzept, das ursprünglich als einzige Entwicklungsform geplant war. Mindestens eine Berufsschule und ein Gymnasium bilden dabei den Kern einer zukünftigen organisatorisch-pädagogischen Einheit.
- Das „Ausbaumodell“ ermöglicht einem einzelnen Gymnasium oder einer beruflichen Schule sich zur Kollegschule zu entwickeln.
- Das „Aufbaumodell“ sieht die Neueinrichtung anstelle einer gymnasialen Oberstufe oder beruflichen Schule vor.
- Das „Verbundsystem“ schließlich soll insbesondere ländlichen Regionen die Möglichkeit geben, in Abstimmung mit einem Kollegschulzentrum an örtlich gestreuten Standorten gymnasiale Oberstufen zu erhalten, jedoch integrierte, insbesondere doppeltqualifizierende Bildungsgänge anzubieten.
Wie dem „Bericht zum Kollegschulversuch“ des Kultusministers NW (1992, S. 12) zu entnehmen ist, wurde von den genannten Modellen wie folgt Gebrauch gemacht: Die erste Kollegschule ist 1977 in Düsseldorf als eigenständige und neu aufzubauende Oberstufe einer bestehenden Gesamtschule eingerichtet worden. Dieses Aufbausystem, das die Kollegschule als Oberstufe für eine Schule der Sekundarstufe I vorsieht, wurde nur in Düsseldorf realisiert. Die Planungsvariante eines Konvergenzsystems, in der mindestens eine berufsbildende und eine gymnasiale Einrichtung bis hin zu einer pädagogisch-organisatorischen Einheit für studien- und berufsbezogene Bildungsgänge zusammengeführt werden, ist in der Kollegschule der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel umgesetzt worden. Alle übrigen Kollegschulen entstanden durch Ausbau beruflicher Schulen. Das vierte Modell, das Verbundsystem, sollte einen Arbeitsverbund zwischen Schulen traditioneller Art herstellen. Es wurde nicht umgesetzt.
2.3 Curriculare Gestaltung der Kollegschule
Das Lernangebot in der Kollegschule ist drei Lernbereichen zugeordnet und nach Bildungsgängen strukturiert. Bei den drei Lernbereichen handelt es sich um den Schwerpunktbereich, den obligatorischen Lernbereich und den Wahlbereich. Im Schwerpunktbereich – differenziert nach 17 Schwerpunkten – sind die Bildungsgänge nach angestrebten Fachkompetenzen angesiedelt, darunter sämtliche auf anerkannte Ausbildungsberufe bezogene Berufsschulbildungsgänge des Dualen Systems. Zum Obligatorikbereich gehören die bildungsgangübergreifenden Fächer Deutsch, Gesellschaftslehre mit Geschichte sowie Katholische bzw. Evangelische Religionslehre. Im Wahlbereich schließlich können die Kollegschüler:innen ihren Bildungsgang nach individuellen Bedürfnissen und Interessen ergänzen, erweitern und vertiefen. Sie können ausgewählte Lernangebote anderer Schwerpunkte nutzen, Zusatzqualifikationen oder abschlussbezogene Kompetenzen erwerben.
Dem Lernen in Schwerpunkten maß die Empfehlung der Planungskommission besondere Bedeutung bei. Schwerpunkte sind strukturiert durch den Bezug auf wissenschaftliche Leitdisziplinen und die Zuordnung fachlich und beruflich affiner Bildungsgänge für den Erwerb der jeweils erstrebten Fachkompetenzen. Daraus ergeben sich zwei Folgerungen (Blankertz 1974, S. A 19), nämlich
- „erstens, dass die Wahl des Schwerpunktes dem Lernenden überlassen bleibt und
- zweitens, dass der Schwerpunkt selbst durch curriculare Vorgaben definiert ist.“
Die einzelnen Schwerpunkte sind integriert nach wissenschafts- und berufsbezogener Grundbildung sowie mit zunehmender Spezialisierung nach Akzentuierungen und abschlussbezogenen Profilen auf unterschiedlichen Leistungsniveaus – bis hin zu doppeltqualifizierenden Abschlüssen mit Berufsabschluss und allgemeiner Hochschulreife – strukturiert. Curriculare Integration bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Abschlüsse der berufs- und studienbezogenen Bildungsgänge in der Sekundarstufe II nacheinander oder auch gleichzeitig erworben werden können und schwerpunktbezogene Bildungsgänge horizontal und vertikal durchlässig sind. Hierfür sind nach dem Kollegschulkonzept drei Voraussetzungen erforderlich:
- Konsequente Umsetzung des Prinzips wissenschaftspropädeutischen Lehrens und Lernen in Verbindung mit Berufspragmatik und kritischer Reflexion wissenschaftlicher und beruflicher Zusammenhänge: Wissenschaftspropädeutik intendiert gleichzeitige Einübung in und Überwindung von Spezialisierung und zielt darauf ab, den für Durchlässigkeit erforderlichen Transfer zu sichern. Wissenschaftspropädeutik und Berufspragmatik schließen sich nicht aus. Der Unterricht müsse so angelegt sein, heißt es in den Schriften zum Kollegstufenversuch, dass er die Schüler und Schülerinnen zu einer aktiven Auseinandersetzung mit den in der beruflichen Praxis gestellten Aufgaben und Problemen führe. Übereinstimmend wird konstatiert, dass es bei der Bearbeitung komplexer Problemstellungen aus der Berufspraxis nicht um die abbildhafte Deduktion von Unterrichtswissen aus wissenschaftlichen Theorien gehe (Abbilddidaktik), sondern um die Erschließung beruflicher Erfahrungen mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse unter dem Anspruch, dass die fachliche und überfachliche Erschließung beruflicher Praxis nicht hinter den Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse zurückfallen dürfe.
- Schwerpunktbezogene Grundbildung als Basis fundierter Spezialisierung und fachlicher Kompetenzentwicklung: Sie bezieht sich in allen Schwerpunkten sowohl auf die darin einbezogenen Wissenschaften als auch auf Berufe (vgl. Schenk/Kell 1978). Darin unterscheidet sich schwerpunktbezogene Grundbildung von wissenschaftlicher Grundbildung einerseits (vgl. Kutscha 1978) und beruflicher Grundbildung bzw. Berufsgrundbildungsjahr andererseits. Sie ist der Versuch, den Zugang zu den speziellen Bildungsgängen eines Schwerpunkts in der Interdependenz von Wissenschaftspropädeutik und Berufspragmatik zu eröffnen. Ein Beispiel dafür ist das Grundbildungskonzept für den Schwerpunkt Wirtschaftswissenschaften, das in Form eines Strukturgitters den Zusammenhang von einzel- und gesamtwirtschaftlicher Rationalität herzustellen und als Grundlage für die Reflexion güterwirtschaftlicher, geldwirtschaftlicher und informationeller Transaktionen in den dem Schwerpunkt zugeordneten einzelberuflichen, vollzeitschulischen und doppeltqualifizierenden Bildungsgängen zu erschließen versucht (Kutscha 1976). Der Zusammenhang von Berufspragmatik, Wissenschaftspropädeutik und Kritik war konstitutiv für die schwerpunktbezogene Grundbildung. Berufspragmatik stand primär für die Ausrichtung auf berufliche Handlungssituationen, Wissenschaftspropädeutik für die analytische Durchdringung und das Prinzip der kritischen Reflexion von Wissenschaft und Praxis.
- Die Wahl der Schwerpunkte für die studien- und berufsbezogene Kompetenzentwicklung und innerhalb der einzelnen Schwerpunkte die Verbindung von Integration und Differenzierung – speziell im Zusammenhang mit dem Erwerb doppeltqualifizierender Abschlüsse – erfordert nicht zuletzt unterrichtsorganisatorische Regelungen, die von der herkömmlichen Unterrichtspraxis an Gymnasien und beruflichen Schulen abweichen. Dazu gehören nach den Empfehlungen der Planungskommission insbesondere die Einführung des Blockunterrichts im Rahmen eines in Trimestern untergliederten Schuljahres und die Flexibilisierung des Unterrichtsangebots in Form von Kursen. Die Trimester-Einteilung sollte insbesondere die Abstimmung des Blockunterrichts mit der betrieblichen Berufsausbildung im Dualen System erleichtern, und die Auflösung des Klassenunterrichts in ein Kurssystem schien unverzichtbar, um individuelle Schwerpunktbildung zu ermöglichen.
3. Umsetzung und Beendigung des Kollegstufenversuchs – Versuch einer Gesamtbeurteilung
Der Modellversuch Kollegstufe NW bzw. schulrechtlich korrekt Kollegschule NW wurde mit Wirkung vom 1. August 1998 durch das Gesetz zur Änderung des nordrhein-westfälischen Schulverwaltungsgesetzes beendet. Das Gesetz hatte nach Auskunft der zuständigen Schulministerin die Aufgabe, „nach 20 Jahren den Kollegschulversuch abzuschließen und 42 Kollegschulen des Landes mit 331 berufsbildenden Schulen unter dem Titel ‚Berufskolleg‘ zusammenzuführen“ (zitiert nach Fingerle 2009, S. 247). Der Modellversuch galt mithin nicht als „gescheitert“, sondern wurde von Seiten der Kultusadministration präsentiert als Beitrag zur Weiterentwicklung des beruflichen Schulwesens unter der neuen Bezeichnung ‚Berufskolleg‘.
Diese Interpretation ist zwiespältig. Legt man den Maßstab von Blankertz, dem Leiter der Planungskommission Kollegstufe NW, an, zielte der Modellversuch auf das „Ende der gymnasialen und der Berufsschulen“ ab (Blankertz 1972b). Davon konnte bei Abschluss des Modellversuchs nicht die Rede sein. An sämtlichen Standorten des Kollegschulversuchs wurde kein einziges Gymnasium geschlossen. Mit wenigen Ausnahmen wurde der Kollegschulversuch in der Organisationsform des „Ausbaumodells“ durchgeführt (siehe oben), und zwar an berufsbildenden Schulen. Das veranlasste die im Auftrag des Kultusministeriums NW Anfang der 90er Jahre tätige Kienbaum Unternehmensberatung zu der Schlussfolgerung, den Modellversuch Kollegschule auslaufen zu lassen. „Der Unterschied zwischen Kollegschule und Beruflicher Schule stellt sich derzeit mehr hinsichtlich der politischen Zielsetzung als hinsichtlich der schulischen Realität. Der Versuch, hier ‚in einem differenzierten Unterrichtssystem studien- und berufsbezogene Bildungsgänge zu Abschlüssen der Sekundarstufe II‘ zu ermöglichen (§ 4b Absatz 2 SchVG), ist auf einen relativ geringen Schüleranteil (15 % Doppelqualifikationen mit Studienbefähigung) beschränkt geblieben und hat nicht in allen Landesteilen zu Angeboten geführt“ (zitiert nach Fingerle 2009, S. 237). Für die Opposition im Landtag war das ein wichtiges Argument, die Beendigung des Kollegschulversuchs einzufordern.
Sieht man davon ab zu klären, mit welcher pädagogischen Kompetenz das Kienbaum-Gutachten seine Beurteilung gebildet hat, bleibt festzuhalten, dass der Kollegschulversuch sich eindeutig auf die Reform der beteiligten berufsbildender Schulen konzentrierte. In der politischen Auseinandersetzung um die Fortführung des Kollegschulversuchs kündigte der Kultusminister NW einen „Bericht zum Kollegschulversuch“ an, der Ende 1992 dem Landtag vorgelegt wurde (Kultusminister NW 1992). Auffallend ist, dass dieser Bericht (113 Seiten) auf die organisatorische Integration von gymnasialer Oberstufe und beruflichen Schulen nicht Bezug nimmt. Die Ausführungen zur curricularen Integration beziehen sich ausschließlich auf das Ausbaumodell der Kollegschule an beruflichen Schulen. Dabei wird das System der 17 Schwerpunkte, das in den 1970er Jahren entwickelt wurde, positiv bewertet. Es habe sich als Ordnungsmittel für die Bildungsgänge der Kollegschule und deren inhaltliche Verknüpfung über alle Abschlussebenen bewährt (Kultusminister NW 1992, S. 89). Das gelte auch für das im Kollegschulversuch erprobte Angebot an doppeltqualifizierenden Bildungsgängen. Doppeltqualifikation wird als „äußeres Erkennungsmerkmal“ für die Kollegschule bezeichnet (ebenda, S. 9). Zugleich wird mit Bezug auf eine Auswertungsstudie von Dauenhauer/Kell (1990) darauf verwiesen, „dass die im Kollegschulversuch entwickelten doppeltqualifizierenden Bildungsgänge die Kriterien erfüllen, die sich in den zahlreichen von der BLK (Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung, G.K.) geförderten Projekten zur Integration beruflicher und allgemeiner Bildung herausgebildet haben und die Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung erreichen lassen“ (Kultusminister NW 1992, S. 78).
Der „Bericht zum Kollegschulversuch“ legt (im Sinne des Kienbaum-Gutachtens) in der Tat die Frage nahe, wodurch sich das im Laufe von ca. zwanzig Jahren erprobte Konzept der Planungskommission Kollegstufe NW vom Regelsystem, wie es sich während der 1970er/80er Jahre entwickelte, unterscheidet. Ähnlich wie bei der Kollegschule gingen die Reformüberlegungen bei den beruflichen Schulen davon aus (Kultusminister NW 1992, S. 59),
- „die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung zu fördern,
- die allgemeinbildenden und beruflichen Lernangebote zu verzahnen,
- den Zugang zur Hochschule auch über Bildungsgänge zu vermitteln, deren bisherigen Hauptakzente in der Vermittlung von beruflichen Qualifikationen gelegen haben,
- die Teilzeitberufsschule in das Ensemble der beruflichen Bildungsgänge zu integrieren.“
Diese – in der Phase der Bildungsreform vom Deutschen Bildungsrat beeinflussten – Modernisierungsperspektiven wurden in nahezu allen Ländern der Bundesrepublik mit bildungspolitisch unterschiedlicher Akzentuierung angestrebt und mehr oder weniger auch umgesetzt. Entgegen dem Anschein von Stagnation waren – so Busemeyer (2009) – gleichwohl „inkrementelle“ Änderungen zu konstatieren, die in längerfristiger Sicht und in ihren Auswirkungen auf den Wandel des Dualen Systems nicht unterschätzt würden dürften. „Wandel trotz Reformstau“, so das Fazit bei Busemeyer. Der Kollegschulversuch erhöhte mit seinen spezifischen Zielsetzungen möglicherweise den Druck auf Reformaktivitäten im Regelschulsystem des Landes Nordrhein-Westfalen, löste aber auf organisatorisch-systemischer Ebene den politisch und pädagogisch angestrebten Integrationsansatz nicht ein.
Dafür gibt es Gründe. Sie haben zu tun mit der – auch bei internationalen Vergleichen zu beobachtenden – „Pfadabhängigkeit“ von Bildungsreformen (vgl. Frommberger/Schmees 2020). Die systemische Änderung des Bildungssystems, wie sie mit dem Konzept des Kollegstufenversuchs und der organisatorischen Integration von gymnasialer Oberstufe und beruflichen Schulwesen in Form einer eigenständigen Schulform angestrebt wurde, war mit der „Pfadabhängigkeit“ historisch verankerter und institutionell wirksamer Strukturen konfrontiert. Aus Sicht der Pfadabhängigkeit bauen Reformen jedweder Art notwendigerweise auf dem bereits Bestehenden auf und sind nur als dessen Weiterentwicklungen zu verstehen. Das Konzept der Pfadabhängigkeit dient der Erklärung, weshalb Entscheidungen oder Vorgänge in der Vergangenheit bis zu einem gewissen Grad künftige Entscheidungsspielräume einengen oder zunichte machen können. Ein Beispiel dafür ist die preußische Bildungsreform und die Ausrichtung des Gymnasiums auf den allgemeinen Bildungskanon und das Abitur als rechtliche Zugangsvoraussetzung für das Hochschulstudium in der Funktion der Vorbereitung auf höhere Beamtenlaufbahnen.. Das damit verbundene ökonomische, insbesondere soziale und kulturelle Kapital (Bourdieu 1992) und dessen Akkumulation in Form herkunftsbedingter Bildungsprivilegien ist offensichtlich durch didaktisch-curriculare Innovationen und politisch-administrative Maßnahmen, nachhaltige Systemveränderungen im Bildungssystem durchzuführen, nicht aus der Welt zu schaffen.
Das Gymnasium hat vor diesem berechtigungs- und beschäftigungspolitischen Hintergrund den Kollegschulversuch überlebt – ohne Schaden zu nehmen. Die Bestandserhaltung der gymnasialen Oberstufe außerhalb des Kollegschulversuchs und deren Regelung durch Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz (KMK) limitierten die Möglichkeiten für die Gestaltung von Bildungsgängen mit doppeltqualifizierenden Abschlüssen erheblich. Im Grunde wurde das systemübergreifende Kollegstufenkonzept durch das Festhalten an Regularien aus dem Regelschulsystem unterlaufen. Das deutlichste Beispiel dafür waren die sogenannten „Normenbücher“ der KMK, mit denen inhaltliche und formale Auflagen für den Erwerb der Allgemeinen Hochschulreife verbunden waren. In ihrer dritten und letzten Empfehlung forderte die Planungskommission Kollegstufe NW (1975) dringend die Anerkennung und Sicherung eigener Abschlüsse für den Kollegschulversuch in aller Deutlichkeit mit dem Argument ein: „Die Hauptphase des Versuches kann nicht gelingen, wenn die Kollegschule unter die restriktiven Bedingungen von Normenbüchern gestellt wird, die die Anforderungen des zu reformierenden Bildungssystems festschreiben“ (Planungskommission Kollegstufe NW 1975, S. 22) [2]. Entsprechende Empfehlungen wurden nicht berücksichtigt und schränkten entscheidend den Innovationsspielraum des Kollegschulversuchs ein.
Für das berufliche Schulwesen bot das Kollegschulkonzept die Chance, ihren – im Vergleich zum Gymnasium inferioren Status durch Einführung doppeltqualifizierender Bildungsgänge zu verbessern. Dabei blieb es allerdings dem strukturellen Zusammenhang vollzeit- und teilzeitschulischer Bildungsgänge, die im Laufe von Jahrzehnten entwickelt wurden, institutionell verhaftet. Zur politischen und pädagogischen Begründung des Kollegschulversuchs konnten zwar erhebliche Defizite sowohl auf Seiten der gymnasialen Oberstufe (z.B. Inflexibilität des allgemeinen Bildungskanons) als auch auf Seiten er der beruflichen Schulen, insbesondere der Teilzeitberufsschule im Dualen System aufgeboten werden (z.B. Undurchlässigkeit infolge gravierender Qualitätsmängel und fehlender Wissenschaftsorientierung) (vgl. Blankertz 1972a). Aber diese Defizite ließen sich zeitglich mit der Entwicklung des Kollegschulversuchs innerhalb der institutionell voneinander abgeschotteten gymnasialen und beruflichen Schulbereiche systemintern als pfadkonforme „Reform“-Projekte bearbeiten. Das gilt zum Beispiel für die Aufhebung der herkömmlichen Gymnasialzweige zugunsten der differenzierten gymnasialen Oberstufe in Verbindung mit der Einführung neuer technik- und wirtschaftsaffiner Fächer und Leistungskurse und ebenso für grundlegende Innovationen in der betrieblichen Berufsausbildung (z.B. Einführung des Konzepts beruflicher Handlungskompetenzen durch die Neuordnung der industriellen Elektro- und Metallberufe) und der Berufsschule (Einführung des lernfeldorientierten Unterrichts und Ermöglichung von Zusatzqualifikationen für den Erwerb von Studienberechtigungen).
Bildungspolitisch lief diese Entwicklung auf die Strategie „getrennt, aber gleichwertig“ hinaus. Typisch dafür ist das Positionspapier der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft „Differenzierung, Durchlässigkeit, Leistung“ (Bundesverband der Deutschen Industrie u.a. 1992; zur Kritik aus Sicht der Kollegstufe NW siehe Gruschka u.a. 1992). Mit den darin empfohlenen „Strukturmaßnahmen zur Weiterentwicklung des Bildungssystems“ setzten die Spitzenverbände im Vergleich mit ihren zuvor vertretenen bildungspolitischen Auffassungen und Interventionen völlig neue Akzente. Erstmals wurde von den Spitzenverbänden akzeptiert, dass die duale Berufsausbildung durch weiterführende Berechtigungen, einschließlich des Zugangs zum Hochschulstudium, auch für Auszubildende mit Hauptschul- und Realschulabschluss attraktiv gemacht werden müsse. Zuvor waren Versuche, in integrierten Bildungsgängen durch Verbindung von allgemeinem (wissenschaftsorientiertem) und beruflichem Lernen die Hochschulreife als Doppelqualifikation zu vermitteln, entschieden abgelehnt worden. Im Unterschied zum integrierten Schulkonzept, so das Positionspapier, biete das gegliederte Schulwesen die Voraussetzungen dafür, die Offenheit des vertikalen Zugangs zum Hochschulbereich und die Durchlässigkeit des horizontalen Übergangs zu gewährleisten und nach Leistungsfähigkeit der Schüler und Schülerinnen im Einklang mit dem Elternwillen zu gestalten (Bundesverband der Deutschen Industrie u.a. 1992, S. 9). Erstaunlicherweise wurde die Hauptschule in diesem Zusammenhang mit den weiterführenden Schulen explizit als „gleichwertig“ deklariert.
Die Grundstruktur dieses Konzepts – international vergleichend als „separate but equal“ bezeichnet – zieht sich wie ein roter Faden durch alle nachfolgenden Diskussionen und bildungspolitischen Vereinbarungen über die Durchlässigkeit des Bildungssystems, speziell auch des Zugangs von Absolventen der Berufsausbildung und der beruflichen Fortbildung ohne Abitur und der Anrechnung beruflicher Kompetenzen im Hochschulstudium (vgl. Hemkes/Wilbers/Heister 2019). Ihren Niederschlag hat es gefunden in der Erklärung der Kultusministerkonferenz vom 02.12.1994 “zu Fragen der Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung” und – nicht zuletzt auf Druck der Spitzenverbände – im Beschluss der Kultministerkonferenz vom 06.03.2009 über den „Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung“.
Der Kollegschulversuch war damit in seiner oben geschilderten „pragmatischen“ Ausprägung gewissermaßen durch „Reformen“ im Rahmen des Entwicklungspfads des überlieferten Bildungssystems ein- oder sogar überholt worden. Wie weit sich der Kollegschulversuch im praktischen Vollzug vom ursprünglich “systemsprengenden“ Konzept entfernt hatte, wird deutlich, wenn man im ministeriellen „Bericht über den Kollegschulversuch“ liest: „Mit einzel- und doppeltqualifizierenden Bildungsgängen, die zur allgemeinen Hochschulreife führen, wird an der Kollegschule kein grundsätzlich kein neuer Weg zum Erwerb der Hochschulreife eröffnet. Es werden lediglich bestehende Möglichkeiten (z.B. Höhere Handelsschule gymnasialer Zweig) auch auf andere Fachrichtungen übertragen. Der gymnasiale Anteil an den insgesamt erworbenen allgemeinen Hochschulreifen hat sich hierdurch nur unwesentlich verändert“ (Kultusminister NW 1992, S. 103). Die normative Kraft des Faktischen entzog dem Modellversuch Kollegstufe NW die konzeptionellen Grundlagen für eine zukunftsorientierte Modernisierung des Bildungssystems.
4. Schlussbemerkungen und Perspektiven
Damit stellt sich die Frage, ob das ursprüngliche Konzept der Kollegstufe „Opfer“ einer Verfrühung war oder seine Zukunft noch vor sich hat. Eine wissenschaftlich seriöse Beantwortung dieser Frage ist allein schon mangels einer verlässlichen Datengrundlage nicht möglich. Die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation des Kollegschulversuchs, an der der Autor selbst beteiligt war, konzentrierte sich auf pädagogische Aspekte der Integration. Das war ihr Auftrag. Indes lässt sich auf dieser Ebene nichts aussagen über die Erfolgswahrscheinlichkeit des Modellversuchs in Hinsicht auf die nachhaltige Überwindung des traditionell getrennten Bildungswesens und seiner für das Verhältnis von Berufs- und Allgemeinbildung spezifischen Strukturprobleme zugunsten eines integrierten Systems.
Baethge (1975, S. 262) ist zuzustimmen: „Nur wenn man das Ausbildungssystem aus dem Zusammenhang mit den übrigen gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozessen isoliert, kann man die Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung als ein vornehmlich schulorganisatorisches Problem auffassen.“ Es mag im Nachhinein erstaunlich sein, dass bei der Planung des Kollegstufenversuchs ökonomische und beschäftigungspolitische Aspekte keine Rolle spielten. Das war kontrafaktisch im Konzept der „demokratischen Bildungsreform“ angelegt, und zwar als „Versuch, die Förderung, die das Bildungswesendem einzelnen Menschen gewährt, nicht auf das Maß des jeweils ökonomisch Notwendigen zu begrenzen” (Blankertz 1973, S.14). Demokratische Bildungsreform in diesem Sinne muss(te) allerdings mit dem Beharrungsvermögen rechnen, das sich nicht nur aus der oben angesprochenen institutionellen Pfadabhängigkeit des Bildungssystems ergibt, sondern vornehmlich aus dem Bildungsbedarf des Beschäftigungssystems und den damit verbundenen ökonomischen Interessen resultiert. Darauf hat Baethge (1975) frühzeitig in einem Gutachten zur Integration von Berufsbildung und Allgemeinbildung verwiesen. Das Auseinanderfallen von sogenannter Allgemeinbildung und Berufsbildung reproduzierte, so Baethge (1975, S. 263) die Arbeitsteilung der bürgerlichen Gesellschaft und sei darin „historisch-genetisch“ wie funktional begründet.
Bei dieser Argumentation muss man sich mit der Vorstellung vertraut machen, dass das Gymnasium in Deutschland – wie oben angedeutet – nach Art und Weise seines Zusammenhangs mit dem Beschäftigungssystem, aber auch nach dem Selbstverständnis der Gymnasialschüler und ihrer Eltern die Funktion einer berufspropädeutischen Einrichtung für anspruchsvolle akademische Berufe erfüllte und noch immer als Instanz der Absicherung bzw. des Erwerbs sozialer Privilegien angesehen wird. Als solche hat das Gymnasium einen erheblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Berufsausbildung im Dualen System. Solange sich das Beschäftigungssystem mit traditionellen Formen der Lehrlingsausbildung begnügen konnte, brachte dieser Wettbewerbsnachteil kaum Probleme mit sich.
Das hat sich geändert. Nicht nur infolge des sich seit Jahren abzeichnenden Fachkräftemangels, sondern aufgrund der von Baethge (2006) in einem jüngeren Aufsatz zur Problematik des „Bildungsschismas“ in Deutschland näher erörterten Entwicklung von der vor- zur nachindustriellen Erwerbsgesellschaft. Das wesentliche Merkmal dieser Entwicklung sieht Baethge in der „Zentralität des systematischen Wissens“ (Baethge 2006, S. 25). Und nicht nur das: Berufsfachliches Wissen unterliege einem beschleunigten Veraltungsprozess. Die Intervalle der Erneuerung von Qualifikationen würden kürzer, die dabei geforderte Selbststeuerung und Selbstorganisation setze hohe affektive und kognitive Lernkompetenzen voraus, und zwar nicht nur in Bezug auf Inhalte, sondern insbesondere auf das „Wie“ des Lernens (Metakognition, Organisationsfähigkeit der eigenen Lernprozesse). Fazit: Die Notwendigkeit einer Neuorganisation des Bildungswesens und speziell der Überwindung der institutionell verfestigten Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung ergibt sich nach Baethge längerfristig aus strukturellen Veränderungen des Beschäftigungssystems. Stärker denn je – so wäre hinzuzufügen – aus der Dynamik der digitalen Transformation.
Offen bleibt dabei, wie das zu erreichen ist: ob mit einer neuen „großen“ Bildungsreform oder mit einer schrittweisen Annäherung ist schwer zu entscheiden. Dass sich aber das berufliche Bildungswesen konsequent weiterentwickeln muss für neue Formen der „erweiterten modernen Beruflichkeit“ (vgl. IG Metall 2014) mit der Perspektive der Durchlässigkeit und Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung und das Gymnasium sich öffnen muss für den Anschluss an berufliche Perspektiven außerhalb des akademischen Studiums liegt nahe. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich das Leben in der digitalisierten und individualisierten Gesellschaft der Zukunft in Spuren herkömmlich institutionalisierter Berufslaufbahnen vollziehen wird. Für ein integriertes Bildungssystem spricht, dass es – konform mit den Veränderungen im Gesellschafts- und speziell im Beschäftigungssystem – Vielfalt, Flexibilität und ein erhöhtes Maß an individueller Verselbständigung ermöglicht. Dafür könnte das Konzept der Kollegstufe mit den Zielen der Chancenverbesserung, der Wissenschaftsorientierung und kritischen Einstellung als Voraussetzung für demokratische Selbst- und Mitbestimmung auch künftig ein Leitbild sein, ohne im Detail den zeitbedingten bildungspolitischen Prämissen und organisatorischen Vorgaben des Kollegstufenmodells folgen zu müssen.
[1] Die Bezeichnungen „Kolleg“, „Kollegstufe“ und „Kollegschule“ wurden in der Anfangsphase des Kollegschulversuchs divers verwendet. Das Schulverwaltungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (1975) verwendet die Bezeichnung „Kollegschule“. Damit ist dieser Terminus gesetzlich festgelegt. Er entsprach dem Umstand, dass es sich bei der Kollegschule NW um einen schulischen Modellversuch im Zuständigkeitsbereich des Kultusministeriums handelte (vgl. Planungskommission Kollegstufe NW 1975, S. 3). Im vorliegenden Text wird kontextspezifisch, aber inhaltlich gleichbedeutsam von Kollegstufen- bzw. Kollegschulversuch gesprochen.
[2] Die dritte Empfehlung der Planungskommission Kollegstufe (1975) wurde nie veröffentlicht und den Abgeordneten des Landtags NW vom Kultusministerium nicht zugestellt. Sie ist mittels investigativer Recherchen in den amtlichen Datenbanken nicht auffindbar und steht in vollem Umfang als Nachlass nur noch ehemaligen Mitarbeitern der Wissenschaftlichen Begleitung des Kollegstufenversuchs zur Verfügung.
Literatur:
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Baethge, M. (2006): Das deutsche Bildungsschisma. In: SOFI-Mitteilungen 34, S. 13-27.
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