Gerd Specht (Leiter des Bildungswerks Demokratie & Vielfalt) und Jovana Kartal (Geschäftsführerin der RE/init e. V.)
Das Gespräch für DDM führten Helena Kaiser und Bernd Kaßebaum.
DDM: Frau Kartal, Herr Specht, vielen Dank, dass Sie sich zu dem Interview bereit erklärt haben. Bitte stellen Sie doch einmal sich, Ihren Werdegang und die RE/init e. V. vor.
Gerd Specht: Ich bin 72 Jahre alt, arbeite aber noch weiter. Vor 28 Jahren habe ich mit einer Kollegin zusammen RE/init gegründet. Eigentlich bin ich Gymnasiallehrer, aber ich gehöre zu der Lehrerschwemme. Als wir mit dem 2. Staatsexamen fertig waren, wurden gerade über viele Jahre keine Lehrkräfte eingestellt. Aus diesem Grund bin ich in die berufliche Bildung gegangen – das war auch die Zeit der großen Jugendarbeitslosigkeit. Da gab es unheimlich viele Maßnahmen für Jugendliche: Erstmalig berufsvorbereitende Maßnahmen, dann außerbetriebliche Ausbildung in ganz großen Umfang. Aus diesen Erfahrungen heraus habe ich mit der Kollegin RE/init gegründet. Wir wollten für alle Menschen in besonderen Lebenslagen Angebote machen, um diese Menschen, für die damals wenig oder gar nichts passierte, zu befähigen, auf eigenen Füßen zu stehen und ihren Lebensunterhalt eigenständig verdienen zu können.
Und ich denke, das haben wir ganz gut geschafft. Wir haben uns immer weiterentwickelt und haben aktuell circa 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an mehreren Standorten und auch eine Vielzahl von Projekten. Zudem haben wir nun ein Bildungswerk „Demokratie & Vielfalt“, eine Weiterbildungseinrichtung genau wie die Volkshochschulen. Daran haben wir 10 Jahre lang gearbeitet. Ich bin nun seit letztem Jahr Leiter des Bildungswerkes. Die Kollegin Jovana Kartal hat die Geschäftsführung bei RE/init übernommen.
Jovana Kartal: Genau, ich habe Diplom-Pädagogik studiert und habe vor meinem Einstieg bei RE/init bei zwei anderen Trägern gearbeitet. Vor 10 Jahren habe ich hier angefangen, bin erst als Mitarbeiterin gestartet, dann in der Fachbereichsleitung und dann hat Herr Specht mich gefragt, ob ich mir vorstellen kann, seine Nachfolge anzutreten. Wir vertreten genau die gleichen Werte. Deswegen muss ich sagen, war das eine große Ehre und es ist eine schöne Aufgabe.
Seitdem betreue ich zwar noch immer administrativ ein paar Projekte in der Teilnehmerinnen- und Teilnehmerarbeit, aber tatsächlich bin ich mehr in der Projektentwicklung und mit in den verschiedenen Netzwerken unterwegs.
DDM: Vielen Dank. Wie ging es nach der Gründung mit RE/init weiter?
Gerd Specht: Gestartet sind wir mit einem ersten Modellprojekt, da haben wir die betriebliche Ausbildung von Jugendlichen mit Lernbehinderung oder einer psychischen Behinderung gefördert. Dann hatten wir auch das erste bundesweite Netzwerk und Ausbildungsprojekte für junge alleinerziehende Mütter und Väter. Aufgrund der Erfahrung, die ich vorher bei dem anderen Träger gesammelt habe, haben wir uns entschieden, auch für alle benachteiligten Zielgruppen immer den betrieblichen Ansatz zu wählen, also den Ansatz der beruflichen Vorbereitung und der betrieblichen Ausbildung. Ich habe mir gesagt, „wir müssen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dort fit machen, auch benachteiligte junge Menschen, wo sie hinterher arbeiten sollen“, und das ist unser Ansatz bei RE/init.
DDM: Sie legen den Fokus also auf besonders benachteiligte Zielgruppen. Welche Maßnahmen der beruflichen Orientierung bieten Sie für diese Zielgruppen an und gibt es dabei Besonderheiten?
Gerd Specht: Als wir RE/init gegründet haben, gab es schon einen großen Bildungsträger, bei dem ich vorher auch beschäftigt war, der die berufsvorbereitenden Maßnahmen und die berufsorientierenden Maßnahmen für die Agentur für Arbeit umgesetzt hat. Und wir wollten nicht in den gleichen Bereich gehen, sondern wir haben uns dann diese besonderen Zielgruppen vorgenommen und haben dort Berufsorientierung angeboten. Wir sind aber in Kooperation mit dem anderen Bildungsträger und setzen die Maßnahmen teilweise gemeinsam um. Also die bekannten, berufsvorbereitenden und orientierenden Maßnahmen der Agentur für Arbeit, die BvBs[1], die machen wir mit dem Kooperationspartner. Ansonsten bieten wir hier bei RE/init eine Vielzahl von berufsvorbereitenden Maßnahmen für unterschiedliche Zielgruppen an, für junge alleinerziehende Mütter und Väter und ganz viel für Menschen mit Fluchthintergrund und für Zugewanderte, da machen wir sehr viele berufsvorbereitende und orientierende Maßnahmen.
DDM: Sie haben ein großes Projekt namens „Durchstarten in Ausbildung, in Arbeit“ erwähnt. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Gerd Specht: Ja, das war tatsächlich ein sehr erfolgreiches Projekt, das leider aufgrund von Änderungen in der Förderpolitik des Landes beendet wurde. Es wurde vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales sowie dem Integrationsministerium unterstützt und hatte das Ziel, Geflüchtete auf eine Ausbildung und auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. In diesem Programm haben wir ein Bündel von Aktivitäten angeboten, die auf eine erfolgreiche Integration ausgerichtet waren. Das beinhaltete unter anderem die sprachliche Förderung, Praktika, Potenzialfeststellungen und die Unterstützung bei der Vermittlung in Ausbildung und Arbeit.
Zusätzlich gab es ein Ehrenamtsprojekt, das die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch nach der offiziellen Förderphase weiterhin begleitete. Wir hatten ehrenamtliche Unterstützerinnen und Unterstützer, die den Geflüchteten in der Ausbildung zur Seite standen, was den Übergang in den Arbeitsmarkt erheblich erleichterte. Leider gab es später keine weitere Finanzierung für dieses Projekt, aber die positiven Ergebnisse und die Erfahrungen, die wir damit gemacht haben, zeigen, wie wichtig solche Initiativen sind.
DDM: Gibt es spezifische Herausforderungen bei der Zielgruppe, mit der Sie arbeiten?
Jovana Kartal: Ja, insbesondere bei jungen Menschen unter 25 Jahren gibt es häufig einen Konflikt zwischen dem Wunsch nach einer Ausbildung und dem Drang, sofort Geld zu verdienen. Viele kommen aus Ländern, in denen sie ihre Familien unterstützen müssen und der kurzfristige finanzielle Bedarf überwiegt dann oft den langfristigen Vorteil einer Ausbildung. Das ist bedauerlich, da wir großes Potenzial sehen, aber die akuten finanziellen Bedürfnisse manchmal eine größere Rolle spielen als die langfristige berufliche Perspektive. Deshalb bieten wir verschiedene Maßnahmen an, um auf diese unterschiedlichen Bedürfnisse einzugehen.
DDM: Was gibt es bei dieser Zielgruppe unter 25 Jahren zu beachten?
Jovana Kartal: Ein wichtiger Schwerpunkt ist die Arbeit mit der gesamten Bedarfsgemeinschaft, besonders im Übergang von Schule in den Beruf. Hier arbeiten wir nicht nur mit den Jugendlichen, sondern auch mit den Eltern. Oft sind diese der Schlüssel, weil sie mitunter als Hemmschwelle für ihre Kinder fungieren. Da ist es gut, wenn wir die ganze Familie in den Blick nehmen, dann kann man die Mama vielleicht in ihrer Sprache fördern, dem Papa sagen, „komm, auch du kannst auch für die Familie arbeiten“. Und dann tatsächlich auch auf die Geschwister schauen, denn, sie sind ja nun mal die nächste Generation.
DDM: Und wie fördern Sie konkret die berufliche Orientierung?
Jovana Kartal: Vor allem durch betriebliche Praxis. Wir haben ein großes Netzwerk an Betrieben, mit denen wir zusammenarbeiten. Das ist meist der erste Schritt, um Jugendliche in Arbeit und Ausbildung zu bekommen. Selbst mit einer großen Sprachbarriere ist es so, wenn die Jugendlichen vor Ort sind und denen das Spaß macht, dann schaffen sie es ganz oft, die Betriebe zu überzeugen. Und dann wird immer überlegt, wie können wir das für den Betrieb auch einfacher gestalten. Viele Betriebe bilden gerne aus, sind aber auch froh, wenn sie Jugendliche mit Hemmnissen einstellen, dann auch einen Träger wie uns zur Unterstützung dabei zu haben, der die Ausbildung begleitet.
Gerd Specht: Also in der Berufsvorbereitung und Orientierung, versuchen wir immer praktische Elemente einzubeziehen. Als in 2015 sehr viele Menschen mit Fluchthintergrund gekommen sind, gab es ja eigentlich überhaupt keine Angebote. Wir haben zum Beispiel die Wirtschaftsjunioren[2] eingeladen und die haben von der betrieblichen Seite berichtet, haben mit den Geflüchteten die Bewerbung durch gecheckt und Hinweise gegeben, wie sie sich zielführend in einem Betrieb bewerben können.
Wir besuchen auch regelmäßig Ausbildungsmessen und machen Betriebsbesichtigungen. Beispielsweise haben wir auch viel mit Evonik zusammengearbeitet und dort auch viele in Ausbildung vermittelt. Und diese Ausbildungen bei Evonik sind sehr anspruchsvolle Ausbildungen, die unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer teilweise mit 1 absolviert haben und vorwiegend auch übernommen wurden.
Ich weiß nicht, ob Sie BOFplus kennen. Berufliche Orientierung für Personen mit Flucht- und Migrationserfahrung. Da wird Berufsorientierung mit Sprachförderung sowie der Vorbereitung auf praktische Tätigkeiten verbunden. Darüber haben wir 33 Geflüchtete in die Ausbildung im Bäckereihandwerk vermittelt. Ich sage immer, wir haben das Bäckereihandwerk in der Emscher-Lippe-Region gerettet. Ohne unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer hätten viele Betriebe den Laden schließen können.
DDM: Gibt es auch internationale Projekte?
Gerd Specht: Ja, seit circa 14 Jahren setzen wir ein ESF Bundesprogramm um. Aktuell heißt das Programm bei uns ELA: Empowerment durch Lernen und Arbeiten im Ausland. Da erhalten besonders benachteiligte Jugendliche, die schon mehrfach gescheitert sind und auch schon ein bisschen älter sind, die Chance, im Ausland besondere Erfahrungen zu machen. Also die erhalten durch uns Vorbereitung, sprachliche Vorbereitung und vor Ort besuchen sie dann einen Intensivsprachkurs, teilweise an Universitäten. Und dann gehen sie in Betriebe, wodurch sie ihre berufliche Richtung kennenlernen. Und sie stellen ganz schnell fest, ich habe da etwas geschafft und kommen mit stolzer Brust zurück. Es ist sogar schon vorgekommen, dass sie sich aus dem Ausland heraus – aus Irland oder Italien heraus – zuhause einen Ausbildungsplatz akquiriert haben. Da waren die Betriebe total begeistert. „Ne, was ist das denn? Das haben wir noch nie gehabt, dass jemand aus dem Ausland anruft und bei uns die Ausbildung machen will!“. Damit haben die schon den Ausbildungsvertrag sicher gehabt. Also wir versuchen mit allen Mitteln die jungen Leute zu befähigen, wieder Zutrauen zu sich selbst zu bekommen.
DDM: Vielen Dank für diese prägnanten Beispiele aus dem Bereich der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Wir wollen jetzt gerne den Blick auf Berufsorientierung für Ältere richten. Haben Sie denn auch konkret berufsorientierende Projekte für Personen im Erwerbsleben?
Jovana Kartal: Da möchte ich gerne von einem Projekt an unserem Standort in Gelsenkirchen berichten. Das wird vom Jobcenter Gelsenkirchen finanziert und richtet sich an Frauen. Es geht dabei darum, Frauengruppen, die eher arbeitsferner sind, zu fördern. Die von ihrem Herkunftsbild für die Familie verantwortlich sind, ein schönes Zuhause schaffen und so weiter. Die aber eher wenig Arbeitserfahrung haben. Und die steigen bei uns ganz klein ein, mit einem Schnupperpraktikum oder auch mit einem Ehrenamt und dann stellen sie fest, „Ich bin durchaus zu mehr bereit“. Diese Frauen können bei uns zeigen, was sie für Kompetenzen haben. Die Frauen aus dem Bereich, die können sehr gut kochen, die können sehr gut nähen, die können sehr gut handwerken und sind total kreativ. Wir versuchen durch diese praktischen Elemente deren Stärken raus zu arbeiten.
Meist fangen wir bei den Frauen aber auch bei der Sprache an. Und wenn da die Erkenntnis kommt, „Wenn ich mich ausdrücken kann, ein bisschen was, dann kann ich auch was machen“, sind sie gar nicht abgeneigt zu arbeiten.
Gut klappt es auch über „role model“. Wir beschäftigen in solchen Projekten gerne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der gleichen Herkunft, die das dann vorleben. Wir haben eine junge Mitarbeiterin, zu der die Teilnehmerinnen aufschauen, die sehen dann auf einmal die junge Frau, die so ein Standing hat. Und das ist uns ganz wichtig, dass wir immer einen guten Zugang zu der Zielgruppe erhalten und eine gute Bindung gewinnen.
DDM: Uns interessiert eine weitere Frage, die sich ebenfalls auch durch Ihre Projekte und Initiativen zieht. Dies ist die Frage: welchen Stellenwert haben die großen Veränderungsprozesse in der Arbeit, namentlich die sog. digitale Transformation?
Jovana Kartal: Das Thema Digitalisierung gehört spätestens seit der Pandemie dazu. Uns stellte sich die Frage, wie können wir Menschen helfen, die nicht vor Ort sein können. Unsere Angebote sind trotz der Pandemie alle weitergelaufen. So haben wir z.B. das Einzelcoaching über Microsoft-Teams abgehalten. Wir haben in unseren Schulungen immer ein digitales Element dabei. Das haben wir auch beibehalten.
So läuft das Beratungscafé online, weil die Frauen wegen ihrer kleinen Kinder nicht zu uns kommen können. Oder jemand wird hybrid dazu geschaltet, z.B. wenn er oder sie wegen der Krankheit eines Kindes die Beratung anders nicht wahrnehmen kann. Dazu kommt, dass viele Bewerbungen digital laufen. Das ist heute z.B. in den großen Lebensmittelketten üblich. Wir bereiten unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer darauf vor. Das gehört zu unseren Angeboten, ebenso das Üben der Arbeit mit Plattformen, wir behandeln den digitalen Einstellungstest, dazu vermitteln wir natürlich auch Kenntnisse in Word, Excel, PowerPoint.
Wir sind davon abgegangen, dies nur in Gruppenveranstaltungen zu machen. Besser ist das Gespräch mit Coaches im Einzelkontakt, weil es so einfacher ist, auf spezielle Bedürfnisse und Vorkenntnisse einzugehen. Wir helfen, eine eigene E-Mailadresse oder ein Google-Konto einzurichten. Wir arbeiten mit Lern-Apps und Übersetzungsprogrammen. Dadurch, dass wir unsere Netzwerktreffen auch mal online durchführen, haben wir einen digitalen Sprachkurs eingeführt. Nach Corona wurde möglich gemacht, dass wir Angebote sowohl präsent als auch digital durchführen können. Also ich meine, dass Digitalisierung bei uns in der Beratung eine große Rolle spielt.
In unserer Branche kann die neue Arbeit, etwa Homeoffice, nicht so stattfinden wie in anderen Branchen. Wir arbeiten mit und für die Menschen. Dieser Grundsatz steht über allem.
Gerd Specht: Wir sind froh, dass es während der Pandemie auch für die EDV-Ausstattung Fördermittel für Laptops und Tablets gab. Sie sind zum Teil noch heute im Einsatz. Uns ist wichtig, dass unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht abgehängt werden. Sie sollen bei uns auch in die Grundlagen eingeführt werden. Auch praktische Fragen werden behandelt, z.B., wie melde ich mein Kind digital in der Schule ab, wenn es nicht am Unterricht teilnehmen kann. Wir haben auch ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die zusätzlich ehrenamtlich mit unseren Auszubildenden arbeiten. Sie helfen uns im ausbildungsbegleitenden Unterricht, der ebenfalls auch digital durchgeführt wird, damit die Auszubildenden aufgrund der räumlichen Distanz zwischen Betrieb und Seminarort teilnehmen können.
DDM: RE/init macht viel im Bereich der Anwendung und Transparenz, z.B. informieren Sie darüber, was sich hinter einem Computer verbirgt. Eine weitere Frage ist, welchen Aspekt der Blick in die Zukunft hat. Wie verändert sich unsere Arbeitswelt in den nächsten Jahren? Was kommt insbesondere auf die jungen Menschen oder auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Umschulungen zu? Diskutieren Sie diese Fragen? Verschwinden Berufe? Wie verändern sich die Berufe? Gibt es z.B. eine Berufs- oder Laufbahnberatung? Wie gehen Sie mit dem Umgang mit diesen Unsicherheiten in Ihren Angeboten um?
Gerd Specht: Lassen Sie mich diese Fragen konkret beantworten. Nach dem Überfall auf die Ukraine sind in unserer Region schon nach wenigen Tagen viele ukrainische Menschen angekommen. Es waren Frauen mit Kindern jeglichen Alters. Wir haben gleich mit Hilfe der jüdischen Gemeinde eine große Informationsveranstaltung organisiert. Mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, speziell aus der ukrainischen Community, haben wir auch ehrenamtlich Informationen vermittelt. Unter den Geflüchteten gab es auch viele gestandene Frauen mit Berufsausbildung und Berufserfahrung, die nun vor der Frage standen, was ihnen an Perspektiven möglich war. Was bringen sie mit? Was wird hier anerkannt? Was kann ihnen vermittelt werden?
Dabei konnten wir auch auf die Unterstützung der Anerkennungsberatung[3] bei uns im Haus aufbauen. Mit ihrer Hilfe wird dann geklärt, was die Menschen mit ihrer Ausbildung hier in Deutschland anfangen können, was wird anerkannt, wo müssen sie weitere Erkenntnisse erwerben. Leider dauern die Prozesse aus unserer Sicht und erst recht für die Betroffenen sehr lange und meistens wird aus unserer Sicht zu wenig anerkannt. Viele jüngere Menschen müssen daher auch Ausbildungen nachholen. Wir begleiten diesen Weg und schauen, was entsprechend der Ausbildung in der Ukraine anerkannt werden kann und was dazugelernt werden muss, um dauerhaft in Beschäftigung zu kommen. Ein Beispiel will ich nennen. Eine Kollegin, die auch bei uns bei RE/init beschäftigt war, hatte einen Mann, der als gelernter Physiotherapeut hier in Deutschland im Krankenhaus zwar als Masseur eingestellt wurde. Nicht aber in seinem erlernten Beruf. Jetzt gibt es für ihn eine Fortbildung, mit der er den Beruf des Physiotherapeuten anerkennen lassen und deshalb ausüben kann. Das gilt auch, um ein anderes Beispiel zu nennen, für viele Lehrkräfte. In der Ukraine wird in der Regel nur ein Fach unterrichtet. Das wird hier nicht anerkannt.
Jovana Kartal: Es gibt noch einen Aspekt. Die Menschen aus anderen Ländern, insbesondere die Jugendlichen, haben oft andere Ansprüche an Arbeit. Zudem haben sie häufig eine andere Selbstwahrnehmung. Da braucht es manchmal viel Überzeugungsarbeit, z.B. um zu vermitteln, dass du „jetzt nicht der Chef von sagen wir mal Evonik wirst“, sondern wir fangen damit an, ihm oder ihr zu vermitteln, dass er oder sie „mit etwas anderem bei Evonik beginnt.“
Bei uns geht es mehrheitlich um Berufe, in denen es auch um Menschen geht. Ich meine den sozialen Bereich oder die Pflege, dort, wo man auf Menschen stößt, wo mehr miteinander gesprochen wird und man „Teil einer Familie“ wird. Zudem schauen wir uns in der Region um, um dort zielgenaue Angebote für unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu finden. Das ist dann auch mal das Handwerk, die Fabrik oder ein großes Lager dabei, da, wo auch dem Roboter zum Einsatz kommen und wo sich die Frage stellen kann, ob der Roboter, um bei diesem Beispiel zu bleiben, nicht auch zu Arbeitsplatzverlusten führen kann. Aber das ist bei uns eher die Ausnahme.
Gerd Specht: Aber, um einem Eindruck entgegenzuwirken: auch bei unseren Vermittlungen und in unseren Berufsangeboten ist der Weg in Führungspositionen durchaus möglich. Wir haben z.B. einen Teilnehmer, der zuerst die Ausbildung zum Verkäufer absolviert hat, sich dann zum Einzelhandelskaufmann fortgebildet hat und mittlerweile als Filialleiter tätig ist.
Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen auch nach den Kursen immer noch zu uns. Wenn sie Probleme und Fragen haben, dann sind wir für sie da und unterstützen sie auch.
Jovana Kartal: Und das hat mich auch persönlich von Beginn an sehr fasziniert: dass wir bei RE/init diese extreme Nachbetreuung haben. Da kam z.B. ein Teilnehmer nach fünf Jahren auf uns zu und fragte nach Zeugnissen, die wir ihm mit Hilfe des Archivs überreichen konnten. So werden wir dauerhaft zu einer Anlaufstelle. Und das finden wir richtig. Oder wir werden um unseren Rat gebeten, um ein Jobangebot zu bewerten. So entstehen über die Jahre auch Netzwerke zwischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, Ehemaligen und Hauptamtlichen.
DDM: Wir sind begeistert, was Sie uns über Ihr vielfältiges Engagement berichten können. Danke, dass Sie uns ein Stück an Ihrem Engagement teilhaben lassen. Was uns dabei auffällt, ist, dass Ihre Arbeit doch auch sehr von den Rahmenbedingungen abhängig ist. Und die sind doch sehr davon geprägt, dass viele Zuschüsse in Projekte fließen und demzufolge befristet sind. Wie gehen Sie damit um? Noch eine Frage dazu: Haben Sie aufgrund dieser Erfahrungen auch Erwartungen an die Politik?
Gerd Specht: Wir sind wie andere Initiativen und Projekte auch von deutlichen Kürzungen der Finanzmittel betroffen. Dazu gehören auch Bereiche und gute Programme, die gar nicht mal so teuer sind und wo mit relativ geringen Summen gute Arbeit geleistet werden kann.
Es gab bis Ende 2024 ein landesweites Förderprogramm, das Ehrenamtliche und Geflüchtete zusammenbringen wollte. Es wurde von einem zum anderen Tag eingestellt. Das konnten wir nicht verstehen. Die Arbeit wurde zum großen Teil ehrenamtlich erbracht. Aber es entstand dabei auch ein Aufwand, etwa, wenn Menschen mit Fluchterfahrung bei Behördengängen, bei der Anerkennung oder bei Betriebsbesuchen begleitet wurden. Dazu möchte ich ein besonderes Beispiel ansprechen, wohin diese Kürzungen führen können: Wir haben einen Ehrenamtskreis, in dem eine ältere Dame 20 Geflüchteten half, eine Ausbildung zu beginnen. Ihre Arbeit musste von einem auf den anderen Tag beendet werden. Das können wir nicht verstehen.
Wir versuchen die Kürzungen, wo es geht, durch andere Wege, z.B. über die Unterstützung von Stiftungen auszugleichen. Das ist gut, wir sind dafür dankbar, aber es kann diese finanziellen Defizite nicht auffangen. Wir erleben das auch in anderen Bereichen. Es sind gerade die Menschen, die wenig haben, die einen großen Unterstützungsbedarf haben, denen zugleich eine gute Unterstützung gewährt werden könnte, die unter diesen Kürzungen leiden.
Wir brauchen also die Politik. Sie muss handeln. Es geht um die Qualität der Unterstützung. Und auch darum, ob die Gesellschaft die Menschen mit Fluchthintergrund bei ihrem Weg zurück in Arbeit unterstützt.
Auch für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen wird zu wenig gemacht. Das gilt insbesondere für die Geflüchteten. Es gibt viel zu wenig müttersprachliche Fachkräfte. Da muss viel mehr gemacht werden. Noch herrscht der Grundsatz: es ist ja nichts passiert. Das kann es nicht sein. Diese Menschen brauchen viel mehr Unterstützung und Therapieangebote.
DDM: Geht es bei diesen Fragen also auch die Zukunft des Sozialstaats?
Jovana Kartal: Ja. Ich will noch einmal sagen, dass die Kürzungen uns Sorgen machen. Wenn Programme für die Berufsanerkennung oder Weiterbildungsberatung nicht ausreichend durch den Staat gefördert werden, können Anerkennungsverfahren nicht rechtzeitig angestoßen werden. Aber wir wollen ja verhindern, dass diese Menschen in die Arbeitslosigkeit müssen. Und die Anerkennung ihrer beruflichen Erfahrungen und die gezielte Unterstützung in Weiterbildung und Vermittlung sind wichtige Schlüssel, damit die Menschen nicht erst in Arbeitslosigkeit fallen.
Noch fangen wir einen Teil der Defizite ehrenamtlich auf. Aber man fragt sich, wenn der Job-Turbo in der Politik im Vordergrund steht, aber die Anerkennung ohne die Beratung und Unterstützung gefährdet ist, nach welcher Wertigkeit die Streichung des Programms entschieden wurde.
DDM: Wir möchten uns ganz herzlich auch im Namen unserer Leserinnen und Leser für dieses interessante Interview und für die Offenheit der Antworten bedanken. Wir haben gespürt, mit welchem Engagement und welcher Empathie RE/init an diesen wichtigen Themen arbeitet. Wir haben viel verstanden, was Ihre Arbeit für die Menschen leisten kann. Natürlich wünschen wir Ihnen auf Ihrem weiteren Weg alles Gute.
Noch eine letzte Frage: Wie können unsere Leserinnen und Leser Kontakt zu Ihnen aufnehmen?
Jovana Kartal: Der beste Weg ist die E-Mail. Natürlich wollen wir auch auf unsere Homepage verweisen.
Hinweise: Kontakte zu den Jovana Kartal und Gerd Specht sowie weitere Infos zu RE-Init e.v. bekommt man über https://www.reinit.de/.
[1] Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen: Ein berufsorientierendes Angebot der Bundesagentur für Arbeit, in dem Jugendliche verschiedene Berufsfelder und Betriebe erkunden und erproben können.
[2] Die Wirtschaftsjunioren sind ein großes Netzwerk, bestehend aus Unternehmerinnen und Unternehmern sowie Führungskräften unter 40 Jahren, das sich wirtschaftspolitisch und gesellschaftlich engagiert.
[3] Die Anerkennungsberatung wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.