Eva Kuda (Soziologin, Vorstand der IG Metall)

„Um neue Wege zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Forderungen in der beruflichen Bildung zu finden, ist es notwendig, aus dem Scheitern der gesetzlichen Reform Konsequenzen zu ziehen „(1).  So wurde bereits Mitte der 80er Jahre in der Gewerkschaftsbewegung diskutiert. Die aktuelle Ausgabe von DENK-doch-MAL knüpft daran an. Welche Konsequenzen hat gewerkschaftliche Berufsbildungspolitik in den letzten 50 Jahren aus dem Scheitern einer bildungspolitischen Gesamtreform gezogen? Und was kann heute im Rückblick auf Erfahrungen und Weiterentwicklungen des dualen Systems beruflicher Bildung für die Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen in der beruflichen Bildung gelernt werden? Im Kontext dieser Fragestellung bewegen sich die folgenden Ausführungen und Anmerkungen.

1. Rückblick – Hoher Reformanspruch und große Ziele

Die 70er Jahre waren in Deutschland das Jahrzehnt des Bildungsaufbruchs. Reformabsichten und Versprechen der sozialliberalen Regierung nach 1969 und die bildungspolitische Programmatik der Gewerkschaften stimmten weitgehend überein. Die Erfolgsaussichten auf eine „Reform der beruflichen Bildung, die den Namen verdient “ schienen gut.

Öffentliche Verantwortung

Der Reformanspruch der sozialliberalen Regierung gipfelte in der Zusage öffentlicher Verantwortung für die berufliche Bildung. Wille und Absicht zur Übernahme öffentlicher Verantwortung durch den Staat ist im Selbstverständnis der Regierung die Klammer, unter der offen liegenden Mängel und Missstände in der betrieblichen Ausbildung beseitigt, die alleinige Verfügungsmacht privatwirtschaftlicher Unternehmen aufgehoben, die Berufsbildung als gleichwertig in das Gesamtbildungssystem integriert und auf die Heranbildung des mündigen Bürgers ausgerichtet  werden sollte. Unter dem Dach des Leitbildes „Mehr Demokratie wagen“ kündigte die sozialliberale Regierung unter Bundeskanzler Brandt die umfassende Reform der beruflichen Bildung durch ein neues Berufsbildungsgesetz an:

„Die Bundesregierung hat die Bildungspolitik an die Spitze der inneren Reformen gestellt. Die berufliche Bildung darf nicht Stiefkind der Bildungspolitik sein und darf nicht hinter der Schul -und Hochschulreform zurückstehen. Jahrzehntelang ist sie vorwiegend als Selbstverwaltungsaufgabe der Wirtschaft verstanden worden. Heute müssen jedoch für die beruflichen Auszubildenden die gleichen bildungspolitischen und pädagogischen Grundsätze gelten wie für Schüler und Studenten.“ (2)

In den 1973 von der Regierung vorgelegten “Markierungspunkten“ wurde der Grundsatz öffentlicher Verantwortung für die berufliche Bildung bekräftigt und präzisiert. Damit, so Brandt bei Vorstellung der Markierungspunkte in der Presse, hat sich „die Bundesregierung für die staatliche Verantwortung in der Kontrolle der beruflichen Bildung entschieden……“. Es soll in Zukunft eine Gleichwertigkeit der beruflichen Bildung geben, und zwar dadurch, dass das Berufsbildungsgesetz neu gefasst wird und „gleichberechtigte Mitwirkung, Mitbestimmung und Mitverantwortung aller Beteiligten sichergestellt werden.“ (3)

Auch die Beschlüsse und Forderungen des DGB von `72 zielten vor allem darauf ab, bislang getrennte Bereiche des Bildungssystems unter der erneuernden Perspektive einer Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung zusammenzuführen und die alleinige Verfügungsmacht der Wirtschaft aufzuheben.

Kernstück der von den Gewerkschaften geforderten und vom Staat zugesagten Berufsbildungsreform war die Ablösung der einzelbetrieblichen Finanzierung durch eine gesetzlich geregelte Ausbildungsumlage. Mit der Institutionalisierung eines gesetzlichen Finanzierungsfonds sollte der politische Rahmen geschaffen werden, das Ausbildungsangebot konjunkturunabhängig zu machen und die Qualifikationsstruktur zu verbessern. Dieses Vorhaben ging auf Vorschläge der von der sozialliberalen Regierung angesichts dramatisch hoher Jugendarbeitslosigkeit eingesetzten Edding Kommission (1974) zurück.

Leitidee und konkretes Ziel staatlicher Berufsbildungsreform und gewerkschaftlicher Forderungen war das Recht auf eine qualifizierte Ausbildung für alle.

2. Scheitern der Reformversprechen – wie kam es dazu?

1976 wurde im Deutschen Bundestag das „Gesetz zur Förderung des Angebotes an Ausbildungsplätzen in der Berufsbildung (APLFG) beschlossen. „Die offizielle Erklärung der Bundesregierung bei der Verabschiedung des APLFG erweckte den Eindruck, als handele es sich bei dem Gesetz um die direkte Umsetzung des politischen Willens der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition.“( 4) Tatsächlich aber wurde weder dem  Bundestag noch dem Bundesrat jemals ein Gesetzentwurf vorgelegt, der den  Reformabsichten und  Ankündigungen der Markierungspunkte entsprach.

Wie kam es zur uneingestandenen allmählichen Rücknahme staatlich angekündigter Reformversprechen und Maßnahmen?

Die häufigste Erklärung ist der Hinweis auf die Erpressbarkeit der Regierung durch die alleinige Verfügungsmacht der Wirtschaft über das betriebliche Ausbildungsplatzangebot. Das ist insofern eine Erklärung von grundsätzlicher Tragweite, als sie von der Begrenztheit staatlicher Durchsetzungsmacht angesichts dessen, was nun einmal Realität ist, ausgeht. In dieser Interpretation ist die gesetzliche Reform der betrieblichen Berufsbildung genau an den Strukturen gescheitert, die über die Reform verändert werden sollten.

Belegt ist, dass die Arbeitgeberverbände schon bei der Ankündigung eines neuen Berufsbildungsgesetzes massiven Protest anmeldeten und offen mit Ausbildungsboykott drohten.

Konsequent fortgeführt wurde die Blockadepolitik der Unternehmerverbände gegen eine umfassende Neuorganisation beruflicher Bildung bis in die 80er Jahre und darüber hinaus mit dem propagandistischen Schlagwort „Beseitigung ausbildungshemmender Regelungen“. Der Erfolg blieb nicht aus.

Folgsam oder auch widerstrebend wurden unter dem Druck steigender Jugendarbeitslosigkeit und krisenhafter Wirtschaftsentwicklung von der Regierung schrittweise qualitative und organisatorische Reformabsichten zurückgefahren. Nach dem Rücktritt von Willy Brandt hatte für die Regierung Schmidt die Sicherung eines ausreichenden Angebotes von Ausbildungsplätzen absoluten Vorrang vor Qualitätsverbesserung und Beseitigung von Missständen, Mängeln und Ungerechtigkeit.

Die politische Praxis gerät zunehmend in Widerspruch zu den programmatischen Zielsetzungen der Bundesregierung.

Zum endgültigen Verzicht auf eine umfassende Reform der Systemgrundlagen betrieblich – beruflicher Bildung haben verstärkend und mit verzögerter Wirkung unterschiedliche Interessenlagen innerhalb und zwischen den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften entscheidend beigetragen.

Das bestätigt unter anderem das Hin und Her unzähliger Stellungnahmen aller beteiligten Akteure und ihre wechselnde Detailkritik an Referentenentwürfen und Neufassungen des Reformgesetzes. (5)

Der Protest und der Widerstand gegen die Umwandlung gesellschaftlicher Reformziele in Sofortmaßnahmen und Notprogramme wurde federführend von der Gewerkschaftsjugend organisiert. Die Fachabteilungen für Berufsbildung in den Gewerkschaftsvorständen verfassten Argumentationshilfen und kämpften in den Expertengremien weiter für eine „Reform, die diesen Namen verdient“.

Mit dem Scheitern der gesetzlichen Reform verspielt die Politik das Vertrauen auf ihre Fähigkeit und Bereitschaft, vorhandene Machtverhältnisse im System der Beruflichen Bildung zugunsten besserer Arbeits – und Ausbildungschancen von Individuen zu verändern. Sie blamiert sich – wie Claus Offe es ausdrückt – an den Realitäten. “Die Reformpolitik kehrt zu ihrem Ausgangspunkt zurück“(6) .

Institutionelle Folgen des Reformverzichtes im System der beruflichen Bildung unter veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und deren subjektive Auswirkungen auf Arbeits – und Berufsperspektiven von Lernenden und Erwachsenen werden in einem späteren Abschnitt (Überschrift 4)  erörtert.

3. Mehr Staat war gestern – Neue Wege der Weiterentwicklung beruflicher Bildung

Tarifpolitik

Das Scheitern der gesetzlichen Reform führte bei den Gewerkschaften nicht zu politischem Stillstand. Das für Berufsbildung zuständige Vorstandsmitglied der IG Metall erklärte 1976 auf einer Funktionärskonferenz:

“ Zur Verbesserung der Qualität beruflicher Erstausbildung, Sicherung und Ausbau der beruflichen Weiterbildung kann sich gewerkschaftliche Politik nicht auf Appelle an den Staat beschränken. Sie muss im Interesse aller Arbeitnehmer von ihren eigenen Möglichkeiten Gebrauch machen.“(7)

Der alternative Weg zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Forderungen im Rahmen der Tarifpolitik wurde zum Programm. Die Aufnahme bildungspolitischer Forderungen in die gewerkschaftliche Tarifpolitik wurde als Gegengewicht zur alleinigen Ausrichtung betrieblicher Aus- und Weiterbildung am engen betriebsspezifischen Bedarf verstanden.

Bildungspolitische Forderungen zur Aus– und Weiterbildung konnten programmatisch mit gewerkschaftlichen Forderungen zur Humanisierung der Arbeit und zur Sicherung des sozialen Status der Beschäftigten verbunden werden. Sie richteten sich gleichermaßen auf gute Ausbildung und gute Arbeit, auf eine zeitliche Perspektive von Erhalt und Ausbau beruflicher Qualifikationen der Beschäftigtem im Laufe ihres Arbeits- und Berufslebens.

Solche Forderungen richteten sich gegen den wachsenden innerbetrieblichen Druck auf ArbeitnehmerInnen aufgrund technisch-organisatorischer Umstellungen und betrieblicher Rationalisierungsmaßnahmen, versprachen Schutz vor Abgruppierung und Einkommensverlust.

 Die Forderungen waren zeitgemäß und in hohem Maße mobilisierungsfähig:

„Voraussetzungen für Erfolge bei der Durchsetzung bildungspolitischer Ziele über vertragliche Regelungen ist ein verstärktes Problembewusstsein bei allen Arbeitnehmern. Dies kann nur geschaffen werden, wenn die Ursachen für bestehende Konflikte aufgezeigt und die gewerkschaftlichen Forderungen klar und für jeden Arbeitnehmer einsichtig, d.h. vor allem verständlich formuliert werden. Dazu gehört Aufklärungsarbeit und das Aufzeigen der Probleme.“ (8)

Neuordnung der industriellen Metallberufe

Ein neuer Weg war auch die Vereinbarung von „Eckdaten zur künftigen Gestaltung betrieblicher Ausbildungsgänge in der Metallindustrie“.

Direkte Verhandlungen mit den Arbeitgebern wurden zur entscheidenden Strategie gewerkschaftlicher Berufsbildungspolitik, qualitative Reformschritte unter ausdrücklichem Verzicht auf staatliche Einmischung einzuleiten.

Vorausgegangen waren heftige Konflikte, ausgelöst durch die Pläne von Gesamtmetall, die Ausbildungsdauer der industriellen Metallberufe auf zwei Jahre zu verkürzen. Gesamtmetall ging davon aus, dass aufgrund des technisch – organisatorischen Wandels künftig mehr Arbeitskräfte unterhalb des Facharbeiterniveaus gebraucht würden. Befürchtet wurden soziale Konflikte in Folge von Überqualifizierung der Beschäftigten, unterwertigem Einsatz oder Entlassungen. Zur vorbeugenden Vermeidung sollte die Ausbildung der ArbeitnehmerInnen den veränderten Arbeitsanforderungen angepasst werden.

Nach stürmischen Protesten der IG Metall, nach organisiertem Widerstand und zähen, über drei Jahre dauernden Verhandlungen der eingesetzten Experten- Kommissionen wurden die Pläne von Gesamtmetall auf Eis gelegt.

Verhandlungsergebnis: Auf die Spaltung der Metallberufe in zwei -und dreijährige Berufe wurde verzichtet. Die Berufsausbildung sollte auf Vermittlung betriebs -und branchenübergreifende Qualifikationen ausgerichtet werden und dazu befähigen, sich auf neue Arbeitsstrukturen, Produktionsmethoden und Technologien ohne beruflichen Abstieg einstellen zu können und darüber hinaus an Maßnahmen der Weiterbildung teilnehmen zu können.

Die Vereinbarung der Eckdaten war die Geburtsstunde des „Leitbildes des selbständig handelnden Facharbeiters„ das sich für die nächsten Jahrzehnte über den Metallbereich hinaus bei der  Neugestaltung von Ausbildungsordnungen als richtungsweisend durchsetzte.

4. Wie ging und geht es nach dem Scheitern der gesetzlichen Berufsbildungsreform weiter? Institutionelle Entwicklungen und subjektive Folgen für Lernende und Beschäftigte

Wie wirkte sich das Scheitern der Berufsbildungsreform im zeitlichen Verlauf der letzten 50 Jahre unter stark veränderten Rahmenbedingungen -Stichworte: Europäisierung, Flexibilisierung, Deregulierung, Individualisierung, Akademisierung auf die institutionelle Entwicklung des Berufsbildungssystems und die subjektiven Folgen für lernende Individuen und Erwerbstätige aus?

Der Fragenkomplex insgesamt kann hier nur holzschnittartig behandelt werden. Uns geht es vor allem um die subjektiven Folgen der Institutionalisierung im System beruflicher Bildung.

Unbestritten wurden in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Teilreformen und Modernisierungen in der beruflichen Bildung durchgesetzt (Kernberufe, Überarbeitung von Ausbildungsordnungen unter Einbeziehung neuer Kompetenzen, Leitbild des selbständig handelnden Facharbeiters, Weiterentwicklung didaktischer Konzepte, Ausbau überbetrieblicher und außerbetrieblicher Ausbildungsstätten, institutionelle Durchlässigkeiten und anderes mehr …. ).

Über die gewerkschaftliche Tarif -und Neuordnungspolitik wurden Wege für eine zukunftsorientierte Berufsbildungspolitik aufgezeigt und qualitative Verbesserungen der Arbeits– und Lebensbedingungen für viele Individuen und Erwerbstätige durchgesetzt.

Insgesamt aber erwies sich der Verzicht auf strukturelle Reformen in der beruflichen Bildung als Schranke, qualitative Verbesserungen auf breiter Front und unter gesellschaftlicher Verantwortung durchzusetzen. Soziale Ausgrenzungen beim Zugang zu guter Ausbildung und guter Arbeit wurden zum gesellschaftlichen Problem.

Das programmatische Leitziel der Reform beruflichen Bildung „Recht auf eine qualifizierte berufliche Ausbildung für alle“ wurde verfehlt. Institutionelle Entwicklungen nach dem Scheitern einer gesetzlichen Berufsbildungsreform sind kurz zusammengefasst:

  • Die Vormachtstellung und alleinige Verfügungsmacht der Wirtschaft im Dualen System der Berufsbildung bleibt unangefochten bestehen.
  • Die Separierung und bildungspolitische Sonderstellung des Dualen Systems bleibt bewahrt.
  • Staatliche Bildungspolitik zieht sich zurück.
  • Privatisierung und Vermarktlichung breiten sich im Bildungssektor aus.
  • Individualisierung und Verbetrieblichung setzen sich durch.
  • Ausgrenzungsprozesse vom Zugang zu guter Ausbildung und guter Arbeit verstetigen sich im neu installierten Übergangsystem.
  • die Akademisierung der beruflichen Bildung und in der Arbeit nimmt zu.

Subjektive Folgen veränderter institutionalisierter Bildungsprozesse

Die sozialen Ausgrenzungen haben weitreichenden Folgen für Berufs und Lebenschancen für  Individuen, ArbeitnehmerInnen und Beschäftigte. Wegen gestiegener Anforderungen in den neu geregelten Ausbildungsordnungen verschärfen vor allem ausbildungsintensive Betriebe die Einstellungs– und Auswahlkriterien für

Bewerberinnen um einen Ausbildungsplatz. Jugendlichen aus sogenannten bildungsfernen Schichten und sozial schwachen Elternhäusern mit schlechten Schulnoten und unterstellter mangelnder Bildungsmotivation gelingt immer seltener der Einstieg in eine reguläre Berufsausbildung.

Ersatzweise und parallel zur regulären Berufsausbildung wird mit dem Übergangssystem ein aufwendig subventioniertes Lehrstellenangebot installiert, das unversorgte Jugendliche über Ausbildungsmodule und Einzelbausteine auf eine reguläre Berufsausbildung vorbereiten soll – in der Regel mit genau den Lehr – und Lernmethoden, an denen die Mehrzahl von ihnen bereits beim vorhergehenden Schulbesuch gescheitert ist- so Rainer Bremer auf einer Tagung der IG Metall. (8)

„Die bislang bestehende gesellschaftliche Verantwortung für Qualifizierung wird verdrängt durch die Prinzipien der Marktsteuerung des Angebots und der Eigenverantwortung der Einzelnen, für die eigene Beschäftigungsfähigkeit Sorge zu tragen. Staat, Gesellschaft und Unternehmen verabschieden sich aus der Verantwortung und überlassen Qualifikationserwerb und –erzeugung dem freien Spiel des Marktes und damit überwiegend privaten Bildungsanbietern im In – und Ausland.“(10)

„Zunehmend wird nach neo-liberalem Muster die Verantwortung für ihre berufliche Entwicklung den Individuen weitgehend alleine überlassen, ohne die Bedingungen mitzugestalten und ohne ihnen sorgfältig die weiteren Hemmnisse aus dem Weg zu räumen.“ (9)

Dazu ergänzend „die Eigenleistung der Arbeitnehmer in die Reproduktion ihrer Arbeitskraft wurde in  den Nachkriegsjahren zunehmend durch gesellschaftliche, öffentliche verantwortete Politiken und Strukturen gestützt und flankiert: durch öffentlich geregelte Bildungssysteme, durch Arbeitsmarktinstitutionen, Arbeitsgesetze ..und nicht zuletzt durch betriebsübergreifend etablierte..  Karrieremuster, auf die sich individuelles Weiterbildungs– und Leistungsverhalten beziehen kann….. Diese gesellschaftlichen Strukturen sind in der Tat im letzten Jahrzehnt teilweise erheblich geschwächt worden. Vor allem aber sollen sie nach neoliberalen Zielvorstellungen in Zukunft massiv an Bedeutung verlieren oder sogar ganz verschwinden; die Stichworte: Deregulierung der Arbeitsmärkte und der Tarifverträge, Modularisierung oder sogar Ablösung öffentlich geregelter Aus – und Weiterbildung durch informelles Lernen im Arbeitsprozess“. (10)

In Rückbesinnung auf die Reformversprechen der Regierung in den 70er Jahren könnte die Kluft zwischen dem Ziel eines Rechts aller Jugendlichen auf eine qualifizierte Berufsausbildung und der Realität viel grösser nicht sein.

5. Neue Aufgaben für gewerkschaftliches Handeln – Ansätze und Vorschläge

Unsere Ausgangsfrage war, was aus den Erfahrungen des Verlaufs und Scheiterns der Bildungsreform für den Umgang gewerkschaftlicher Politik mit aktuellen Herausforderungen und Problemen gelernt werden kann. Wobei lernen auch bedeuten kann, vorhandene Einsichten und Erfahrungen wieder aufzugreifen und für damit einhergehende Forderungen zu mobilisieren.

Dies gilt vorrangig für die gewerkschaftliche Forderung nach einem inhaltlich und organisatorisch aufeinander abgestimmten Gesamtbildungssystem. Die institutionelle Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung bleibt unter veränderten Rahmenbedingungen hochaktuell und für die   Zukunftsfähigkeit betrieblich-beruflicher Ausbildung unabdingbar. Die traditionelle Spaltung des deutschen Bildungssystems ist zunehmend dysfunktional und widerspricht den Anforderungen moderner Gesellschaften und den Bildungswünschen junger Menschen.

Eine weitere „Lernaufgabe“ besteht darin, verbreiteteten Halbwahrheiten und Mythen aufklärend entgegenzuwirken.

Dazu gehören Behauptungen wie:

„Das duale System beruflicher Bildung hat sich hervorragend bewährt. es ist weltweit das Beste, seine Strukturen müssen unverändert bewahrt bleiben.

Schulnoten sind als Leistungsnachweis unverzichtbar.

Es gibt zu viele Studierende, zu wenig praktisch Ausgebildete.

Es gibt praktisch und theoretisch Begabte, beides schließt sich aus.

Berufliche und akademische Ausbildung sind am Arbeitsmarkt voll gleichwertig.“

Der Protest und Widerstand „konservativer Bewahrer“ gegen die Umsetzung gewerkschaftlicher Reformforderungen beruft sich in der Regel auf solche Mythen und Halbwahrheiten. Das trägt erheblich dazu bei, traditionell verankerte bildungspolitische Strukturen – wie das deutsche dreigliedrig aufgebaute Bildungssystem –  zu legitimieren, „und damit historische Konstellationen unkritisch festzuschreiben, obwohl deren Voraussetzungen möglicherweise nicht mehr gegeben sind.“(11)

6. Schlussfolgerungen für gewerkschaftliche Bildungspolitik – Ansätze und Vorschläge

Gemessen am gewerkschaftlichen Anspruch, das „Recht aller Jugendlichen auf eine qualifizierte Ausbildung „zu verwirklichen hat sich die Realität gegenläufig entwickelt. Insgesamt sind die Wege in eine anerkannte qualifizierte berufliche Bildung für SchulabgängerInnen unübersichtlicher und steiniger geworden.

Was lernen wir daraus? Sicher nicht, dass das Ziel falsch war. Zu lernen ist aber, welche Weichenstellungen angesichts veränderter Rahmenbedingungen realistisch und notwendig sind, um sich der Durchsetzung dieser Forderung wieder anzunähern.

Zu lernen ist, wie die einzelnen Individuen, wie Arbeitnehmerinnen, Beschäftigte und Arbeitssuchende bei der Beseitigung der Hemmnisse und Gegebenheiten unterstützt werden können, die einer selbstbestimmten Gestaltung ihres Berufs – und Lebensweges entgegenstehen.

Widerstände und Hemmnisse

„Die Auswirkungen von Globalisierung und Informatisierung, internationaler Vernetzung, von Outsourcing sowie neuer Geschäfts – und Marketingstrategien auf Qualifikations- und Berufsanforderungen sind weitreichend und unübersichtlich……Der Arbeitsmarkt für Berufsanfänger insgesamt ist zunehmend intransparent. Klassische Übergänge von der Schule ins Erwerbsleben sind passe’: Mit einem stabilen Werdegang von der Schule ins Erwerbsleben kann nicht mehr ohne weiteres gerechnet werden. Das führt, verstärkt durch die Erosion des Sozialstaates, zu erhöhtem Orientierungsbedarf „ (12)

Kampf gegen Vereinzelung

Axel Bolder und andere Autoren fragen danach, wie die Einzelnen mit den Zumutungen umgehen, denen sie bei der Suche nach einer qualifizierten Berufsausbildung, „nach dem ‚roten Faden‘ ihres Berufslebens“ ausgesetzt sind. Denn fest steht: „die Einzelnen haben sich mit den neu gesetzten Rahmungen ihrer Erwerbsverläufe auseinanderzusetzen, haben mit ihnen umzugehen zu lernen“. Dramatisch zugespitzt landen sie dabei immer häufiger im „Kampf der Einzelnen gegen die Institutionen“: (13)

Wie können Gewerkschaften Individuen und Lernende so unterstützen, dass sie bei der Suche nach Orientierung nicht als Einzelkämpfer auf der Strecke bleiben?

Bei diesen Fragen tappen wir nicht völlig im Dunklen.

Gewerkschaften sind lernende Organisationen, veränderte Rahmenbedingungen und damit verbundene Herausforderungen werden innergewerkschaftlich diskutiert und zeitnah in gewerkschaftliche Politikkonzepte sowie Forderungen und Beschlüsse einbezogen.

Die IG Metall hat in den letzten Jahren  in enger Zusammenarbeit mit gewerkschaftsnaher Wissenschaft,  gemeinsam mit anderen Fachabteilungen beim IG Metall Vorstand, mit Betriebsräten, Praktikern und Fachexperten eine Reihe von  Workshops und Veranstaltungen organisiert. Schwerpunkte waren jeweils die Fragen nach den Zukunftschancen betrieblich – beruflicher Ausbildung angesichts veränderter Rahmenbedingungen – Stichworte: Europäisierung, Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeit, Individualisierung und Verbetrieblichung, alternde Belegschaften und Akademisierung von Betrieben und Gesellschaft.

Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbedingungen von ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaft wurden ausführlich erörtert. Die Ergebnisse der Workshop-Reihen und Veranstaltungen sind dokumentiert. Die folgenden Anregungen beziehen sich überwiegend auf Ergebnisse und Hinweise der in den ExpertenWorkshops geführten Diskussionen. (s.Literaturanhang)

Ihr gemeinsamer Nenner ist: Gewerkschaftliche Handlungsansätze dürfen nicht bei der Abwehr von Deregulierung stehenbleiben. Gremienpolitik ist wichtig, reicht aber nicht aus. Erfolge sind auf Durchsetzung und Beteiligung angewiesen.

Im verstärkten Bildungswettbewerb bleibt zunehmend jede und jeder sich selbst überlassen. Mit der Vereinzelung wachsen vor allem für Bildungsungewohnte die Risiken, auf ihrem Bildungsweg zu scheitern. Hier kann es Aufgabe der Gewerkschaften sein, über Risiken aufzuklären sowie Orientierung und Beratungshilfen anzubieten.

Vorgeschlagen werden mitgliederbezogene Aufklärung, Ausbau von Beratung, Orientierungswissen, Möglichkeiten zur Vernetzung, Überblickswissen, wie und wo lerne ich, Interessen zu vertreten, wo finde ich Gleichgesinnte.

Schulen, Betriebe und Bildungseinrichtungen sollten vorbereitet werden, Menschen bei der selbstbestimmten Gestaltung ihrer Berufs- und Arbeitsbiografien zu unterstützen.

Der biografische Beratungsansatz wird seit einigen Jahren in der Bildungsarbeit der IG Metall aufgegriffen. Beispiele für berufsbegleitende Qualifizierung sind Projekte wie Job Navigator und IT 50plus.

Tarifvertragliche Regelungen zur Laufbahngestaltung und gewerkschaftliche Konzepte zu lebenslangem Lernen sind weitere politische Ansatzpunkte zur Gestaltung eigener Berufswege. Gleiches wird für die Verbesserung von Fähigkeiten zum Selbstmanagement im Sinne der Ich – Stärkung gefordert.

Individualisierung und Vereinzelung sind Schwachstellen, an denen individuelle Schuldzuweisungen für „Marktversagen“ und Arbeitslosigkeit, auch Selbstbezichtigungen für Misserfolge und Rückschläge im Beruf und im Privaten ansetzen.

Gewerkschaften können den Rahmen für einen entsprechenden Erfahrungsaustausch herstellen, in denen gemeinsam Formen der Selbstorganisation und Gegenwehr gegen Zumutungen entwickelt werden, die Gesundheit und den Erhalt beruflicher Qualifikationen gefährden.

Ein Fazit

Zur Mobilisierung von Gegenwehr sind viele Wege denkbar. Entscheidend ist, dass sie aus der Vereinzelung herausführen und immer mehr einzelnen Individuen ermöglichen, sich gemeinsam für ihre Bildungsinteressen und bessere Berufs – und Lebenschancen und damit einhergehend für das Recht aller auf qualifizierte Ausbildung und Arbeit einzusetzen. Gewerkschaften haben gelernt, die subjektiven Folgen veränderter Rahmenbedingungen beruflicher Bildung für Lernende und Beschäftigte in  ihren Politikkonzepten stärker als bisher zu berücksichtigen.

Literaturhinweise

1), 2),3),4)7)8)

zitiert nach:

Kuda, E. /Mignon, U.: Berufliche Bildung- Situation, Konflikte, Lösungen,1983, 3.Auflage, Bonn

6) Offe, Claus: Berufsbildungsreform-  Eine Fallstudie über Reformpolitik, Frankfurt 1983

9) Kruse. W./Strauss. J./Braun. F/Müller, M,: Rahmenbedingungen der Weiterentwicklung des Dualen Systems der beruflichen Bildung (Hans- Böckler Stiftung ,Arbeitspapier 167), Düsseldorf(2009)

10) Drexel, Ingrid: Das Konzept des Arbeitskraftunternehmers – ein Leitbild für gewerkschaftliche Berufsbildungspolitik? In:Arbeitnehmer als Unternehmer? Herausforderungen für Gewerkschaften und berufliche Bildung, Hamburg 2002

11) Kruse. W./Strauss. J.: Einleitung: Aufgabe dieser Expertise, in. Kruse, W., und andere, a.a.O.

12) Kuda, E., StraussJ. In:Akademisierung als Königsweg? Eine gewerkschaftliche Perspektive, in: Schultz, T/Hurrelmann, K.(Hrsgb.): Die Akademiker – Gesellschaft. Müssen in Zukunft alle studieren? Weinheim/Basel (2003)

13) Bolder, A /,Dobischat. R/ Kutscha, G./Reutter. G. (Hrsg): Beruflichkeit zwischen institutionellem Wandel und biografischem Projekt, (Bildung und Arbeit, Bd. 3), Wiesbaden (2012)

14) -s. Literaturangabe 12), a.a.O.

WORKSHOP – und TAGUNGSBERICHTE / Dokumente

Workshop -Reihe: Akademisierung von Betrieben und Gesellschaft -beruflich- betriebliche Bildung vor dem Aus?

– IG Metall Vorstand, Sozialforschungsstelle Dortmund(Hrsgb.): Frankfurt(2009-2010)

Experten-Workshop I:“Akademisierung von Betrieben-Facharbeiter/-innen einAuslaufmodell ?

Experten – Workshop II:„Universitäre oder berufliche Bildung-Annäherung oder Entfernung?

Experten -Workshop III:„Beruflich -betriebl. Bildung- ist das Handlungs-und Sozialmodell noch tauglich ?

Experten -Workshop IV: „Beruflich – betrieblich Bildung-prägend für Arbeit und Gesellschaft ?“

Buchveröffentlichung:

Kuda. E./Strauss.J /,Spöttl,G./Kaßebaum,.B. (Hrsg) Akademisierung der Arbeitswelt? Zur Zukunft der beruflichen Bildung (Hamburg) 2012

Workshop -Reihe : Leitbilder von Facharbeit und Arbeitshandeln-

IG Metall Vorstand und Sozialforschungsstelle Dortmund (Hrsg.):(2001 -2003) Fankfurt

– Prozesskompetente Facharbeit- ein neues Leitbild  für Neuordnung und Lernkonzepte?

– Facharbeit als untrnehmerisches Arbeitshandeln- eintaugliches Leitbild zur Neugestaltung der Metall – und Elektroberufe?

Erahrungsgeleitete Facharbeit :Leitbild für die Neugestaltung der Metall und Elektroberufe?

Die Neuordnung von Berufen braucht neue Leitbilder von Facharbeit. Empfehlungen und Schlussfolgerungen für die gewerkschaftliche Diskussion. Frankfurt a. M. (2003)

Buchveröffentlichung:

Kuda,E.,Strauss,J.(Hrsgb)Arbeitnehmer als Unternehmer? Herausforderungen für Gewerkschaften und berufliche Bildung, Hamburg 2002

-IG Metall Vorstand, Ressort Bildungs -und Qualifizierungspolitik (Hrsg.): Fachlich kompetente Arbeit in Europa. Expertenworkshop, Frankfurt a.M. (2007)

– Industriearbeit im Wandel. Mit neuen Berufen in das dritte Jahrtausend. Rahmenvereinbarung zwischen Gesamtmetall und IG Metall zur Neuordnung der industriellen Metallberufe Köln / Frankfurt a.M. (2001)

– IG Metall und Ruhr Universität Bochum: Werkstattgespräch: „Bildung in Europa“ Das duale System der Berufsbildung im Europäischen Vergleich, Frankfurt a. M. (2000)

– IG Metall Vorstand (Hrsg.): Gutachten: Finanzierung der beruflichen Bildung Frankfurt a.M. (1983)

– IG Metall: Stellungnahmen zu Grundsatzfragen der Berufsbildung Frankfurt a.M. (1976)

Autor

  • Eva Kuda ist Soziologin und war seit Anfang 1975 - in der Hochphase der Auseinandersetzung um die Reform der beruflichen Bildung - beim Vorstand der IG Metall in der Abteilung Berufsbildung (heute Ressort Bildung und Qualifizierungspolitik) beschäftigt. Zu ihren Aufgaben gehörte die Mitarbeit an Stellungnahmen zu den Referentenentwürfen des Berufsbildungsgesetzes, Gremienarbeit in Expertenkreisen der Ministerien und des DGB, Erarbeitung von Umsetzungs- und Argumentationshilfen mit und für Betriebsräte und Jugendvertretungen, betriebliches und schulisches Ausbildungspersonal. In enger Zusammenarbeit mit gewerkschaftsnaher Wissenschaft koordinierte Eva Kuda eine Reihe von Workhops und Projekten, in denen gemeinsam mit anderen Fachabteilungen beim IG Metall Vorstand, mit Betriebsräten, Praktikern und Fachexperten die Frage nach den Zukunftschancen der betrieblich-beruflichen Ausbildung angesichts veränderter Rahmenbedingungen wie Europäisierung , Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeit, alternder Belegschaften und der Akademisierung von Betrieben und Gesellschaft aufgegriffen wurde. Unter dem leitenden Gesichtspunkt damit verbundener Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbedingungen von ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaft. Zudem war sie maßgeblich an der Entwicklung des IGM-Leitbilds der erweiterten modernen Beruflichkeit beteiligt. Beiträge und Ergebnisse der Experten -Workshops sind dokumentiert (vgl. Literaturhinweise in Kuda 1/2023).

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