Elke Hannack (Stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes)
Foto: DGB/Simone M. Neumann

Die bildungspolitischen Reformbeschlüsse des Deutschen Gewerkschaftsbundes und seiner Mitgliedsgewerkschaften sind erst fünfzig Jahre alt. Ziel war eine Reform des gesamten öffentlich verantworteten Bildungssystems. Handlungsleitende Prinzipien dieser Forderungen waren die Verwirklichung gleicher Bildungschancen unabhängig von der sozialen Herkunft, die Integration von gesellschaftlicher, d.h. allgemeiner und beruflicher Bildung sowie die Demokratisierung der Bildungsinstitutionen und Angebote sowie ein Ausbau der Mitbestimmung.  Es war ein mutiger, ja fast schon ein avantgardistischer Entwurf für eine völlige Neuausrichtung des als absolut unzureichend empfundenen deutschen Bildungswesens hin zu einem öffentlich verantworteten Gesamtsystem der Bildung von der Vorschule bis hin zur Weiterbildung im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung: der lohnabhängigen Beschäftigten und ihrer Kinder. Alles geschrieben in einer beeindruckend klaren und, wenngleich nicht immer gefälligen, doch verständlichen Sprache.

Wie bewertet der DGB heute den Grundsatzbeschluss zur Bildungspolitik von 1972 und die darauffolgenden Beschlüsse zur beruflichen Bildung, zur Hochschul- und Studienreform, und zur Weiterbildung? Haben sie heute noch eine Relevanz für die Bildungspolitik des DGB und der Gewerkschaften?

Ein Paradigmenwechsel

DGB und Gewerkschaften waren bis weit in die 1960er Jahre hinein einem stark modernisierungstheoretischen Diskurs verhaftet, der auf eine „zeitgemäße“ Berufsausbildung und eine effektivere Verwertbarkeit von Allgemeinbildung und Berufsbildung im Beschäftigtensystem abzielte. Erst die Bildungsreformdiskussionen der ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahre, mit den Veröffentlichungen des Deutschen Bildungsrats im Zentrum dieses Diskurses, sowie den von sozialen Bewegungen formulierten Ansprüchen an Bildung, zum Beispiel der Studentenbewegung und insbesondere der Lehrlingsbewegung, gaben den Anstoß, die bisherige Programmatik von DGB und Gewerkschaften zu überdenken und neu auszuarbeiten. Dabei fand keine unkritische Übernahme von Positionen anderer statt. Die Beschlüsse des DGB von 1972 und den folgenden Jahren stellen eine originäre gewerkschaftliche Positions- und Zielbestimmung zur Bildungspolitik dar, die weit über einzelne tagespolitische Anliegen und Herausforderungen hinausgingen. Sie sind ein echter Paradigmenwechsel in der gewerkschaftlichen Programmatik und zielten auf nichts weniger als auf einen „Systemwechsel“ des gesamten Bildungswesens ab. Der DGB und Gewerkschaften haben selbstbewusst aufgeschrieben, was aus der Sicht abhängig Beschäftigter einfach notwendig war, auch wenn es schon damals weit über das hinaus ging, was machbar erschien.

Bildungspolitischer Akteur

Den „Systemwechsel“ haben DGB und Gewerkschaften nie durchsetzen können. Auch viele einzelne Ziele der Bildungsbeschlüsse sind nie eins zu eins umgesetzt worden, während erfolgreich durchgesetzte Standards bis heute immer wieder unter Druck geraten. Das gilt auch für die besonderen Bedingungen nach und seit der deutschen Wiedervereinigung. Gesamthochschulen hatten nur eine kurze Lebensspanne, die Ausbildungsumlagefinanzierung ist bislang nicht im dualen Berufsbildungssystem angekommen, die Stufenausbildung ist tot. DGB und Gewerkschaften stießen und stoßen immer wieder auf große institutionelle Widerstände von Bildungsanbietern und Bildungsbehörden. Denn ganz gleich ob Schulbehörden, Bildungsministerien, Hochschulleitungen, Kammern oder auch Weiterbildungsanbieter, alle verteidigten eisern ihre Reviere – und ihre Privilegien. Und doch haben die Bildungsbeschlüsse des DGB bis heute eine Wirkung entfaltet, die so manches Grundsatzprogramm von Parteien nie erreicht hat. Denn erst die handlungsleitenden Prinzipien und Ziele der Bildungsbeschlüsse haben den Aktionsradius geschaffen, innerhalb dessen DGB und Gewerkschaften in den folgenden Jahrzehnten und bis heute agieren. Dadurch waren Gewerkschaften in der Lage, Konflikte einzugehen und sich – meist nach verlorener Schlacht – wieder neu zu orientieren. Kurzum: die Bildungspolitischen Beschlüsse des DGB der 1970er Jahre legten das Fundament dafür, dass sich DGB und Gewerkschaften als bildungspolitische Akteure begriffen und anfingen, Bildungspolitik zu betreiben und zu gestalten. Ohne dieses Engagement, ob als Sozialpartner in Betrieb und Gesellschaft oder als politischer Akteur, wären viele positiven Entwicklungen nicht denkbar oder möglich geworden. Angefangen von der sozialen Öffnung der Hochschulen über die Entwicklung von attraktiven und hochwertigen Aus- und Fortbildungsberufen bis hin zur Etablierung des Deutschen Qualifikationsrahmens, der nicht nur auf die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung abzielt, sondern auch allgemeine und (berufs-) fachliche Kompetenzen verschränkt. Viele Innovationen in der Bildung gehen (auch) auf Forderungen von DGB und Gewerkschaften zurück. Wir haben Bildung besser gemacht und damit Menschen ermöglicht, selbstbestimmter und freier zu arbeiten und zu leben.

Abwehrkämpfe

Zur Wahrheit gehört aber auch: DGB und Gewerkschaften mussten in den letzten 20 Jahren überwiegend Abwehrkämpfe führen. Ungünstige ökonomische Rahmenbedingungen wie kritische Phasen von Massenarbeitslosigkeit oder die seit Jahrzehnten dauernde permanente Krise des Ausbildungsmarktes stellten bisherige Entwicklungspfade zur Disposition. Eine neoliberal ausgerichtete Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik beantwortete diese Krisen einerseits mit einer Abwertung von Arbeit durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes, der Förderung eines Niedriglohnsektors sowie andererseits mit der Abwertung und Umwertung von Bildung und die Infragestellung von Beruf und Beruflichkeit (Stichwort: Modularisierung und Teilqualifikationen). Zentraler Kern der neoliberalen Agenda war die Herstellung von Employability, von Beschäftigungs- bzw. Ausbildungsfähigkeit, die sich ausschließlich an den betrieblichen Bedarfen zu orientieren hatte. Der Staat gibt dabei zunehmend Verantwortung und Steuerungskompetenzen an Betriebe und Unternehmen sowie die Bildungsinstitutionen selber ab. Erkennbare Ergebnisse dieser Politik sind eine Zunahme von prekär Beschäftigten und Menschen ohne Schul- und Berufsabschluss sowie fortschreitender Bildungsarmut, die erhebliche Teile der Bevölkerung dequalifiziert oder einfach von der Teilhabe an der Gesellschaft ausschließt. Die Zugänge zu Bildung sind wieder annähernd so stark abhängig von der sozioökonomischen Herkunft, wie zu Beginn der Bildungsexpansion. Sozialer Aufstieg durch Bildung ist weiterhin kein erkennbares Kernziel der Bildungspolitik. Möglicherweise hat aber die beginnende Transformation unserer Wirtschafts- und Arbeitsweise und besonders die Corona-Pandemie wieder ein geschärftes Bewusstsein dafür geweckt, dass es einen Ausweg aus dem neoliberalen Hamsterrad gibt und es eine Aufwertung von Arbeit und mehr öffentliche Verantwortung für eine bessere Bildung braucht.

Bildungsoffensive für bessere Bildung und gute Arbeit

Die aktuelle bildungspolitische Programmatik, beginnend mit einer Stärkung der frühkindlichen Bildung, dem Ausbau von Ganztagsschulen zur Förderung von Chancengleichheit und Inklusion, mit dem Hochschulpolitischen Programm 2012, den Kongressbeschlüssen des DGB von 2014 und 2022 sowie den Eckpunkten zur Reform des Berufsbildungsgesetzes von 2017 verfolgt einen explizit emanzipatorischen Ansatz und stellen den Zusammenhang zwischen guter Bildung und der Aufwertung von Arbeit her. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften fordern eine weitreichende Bildungsoffensive, die alle Bildungsbereiche von der frühkindlichen Bildung bis zur Weiterbildung umfasst.

Für den DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften ist Bildung ein wesentlicher Grundpfeiler der Demokratie. Gleiche Bildungschancen sind die Grundlage, um kulturelle, ökonomische, demokratische und soziale Teilhabe für alle sicher zu stellen. Das Menschenrecht auf Bildung erfordert ein inklusives und gebührenfreies Bildungssystem, von der Kita bis zur Hochschule. Deutschland ist allerdings weit davon entfernt, gleiche Bildungschancen für alle Menschen zu ermöglichen – allein schon der Mangel an Kitaplätzen und Ganztagsangeboten sowie die fehlenden pädagogischen Fachkräfte in allen Bildungsbereichen verhindern den uneingeschränkten Zugang und Teilhabe für alle.

Der uneingeschränkte Zugang zu guter Bildung für alle Menschen ist aber für den DGB seine Mitgliedsgewerkschaften unabdingbar – und zwar unabhängig von sozioökonomischer und ethnischer Herkunft, dem Geschlecht, der Religion oder Weltanschauung, dem Leben unter den Bedingungen einer Behinderung, dem Alter, der sexuellen Identität oder dem aufenthaltsrechtlichen Status. Die soziale Auslese bleibt DIE Schwachstelle des deutschen Bildungssystems.

Die Verwirklichung gleicher Zugangschancen, die Erhöhung der Durchlässigkeit im Bildungssystem und die Gleichwertigkeit von allgemeiner, beruflicher und hochschulischer Bildung sollen die Teilhabe an guter Bildung erhöhen. Gleichzeitig muss aber auch die Qualität von Bildung verbessert werden. Anknüpfungspunkte für gewerkschaftliches Handeln sind dabei immer konkrete gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte.

Die große Zahl junger Menschen ohne Ausbildung und ohne Berufsabschluss sowie ein intransparenter und dysfunktionaler Übergangsbereich machen den Handlungsbedarf für neue Wege mit neuen, wirkungsvolleren Instrumenten deutlich. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften schlagen – auch in Anknüpfung an die Forderungen der 1970er Jahre – eine umlagefinanzierte Ausbildungsgarantie vor, die allen Jugendlichen den Weg zu einem Berufsabschluss öffnet und dabei die Betriebe nicht aus der Verantwortung entlässt. Die Ausbildungsgarantie ist ein Gesamtkonzept aus systematischem Übergangsmanagement zwischen Schule und Beruf, qualitativer und finanzieller Ausbildungsförderung der Betriebe durch eine Umlage und einer bedarfsabhängigen außerbetrieblichen Ausbildung als Auffangnetz. Nur im Zusammenspiel der einzelnen Bestandteile, lässt sich eine echte Ausbildungsgarantie erfolgreich umsetzen.

Die Gesellschaft ist vielfältiger geworden. Das Bildungssystem muss dem auch durch die Ermöglichung ganz unterschiedlicher Bildungsbiografien Rechnung tragen. Dazu gehört die Anerkennung und Anrechnung bereits erworbener Kompetenzen, unabhängig davon, wo sie erworben wurden. Der Hochschulzugang muss für beruflich Qualifizierte mit mindestens dreijähriger, abgeschlossener Berufsausbildung uneingeschränkt geöffnet werden. Damit ein Studium gelingt muss die Studieneingangsphase studierendenorientiert gestaltet werden. Flankierend braucht es Unterstützungsangebote, wie z. B. Vorbereitungskurse.

Die Transformation als grundlegender Wandel von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft führt zu tiefgreifenden Umstrukturierungen von Produktion und Beschäftigung. Es besteht die Gefahr, dass der technologische Wandel zu einer stärkeren Polarisierung in den Belegschaften und auf dem Arbeitsmarkt führt. Der Zugang und die Inanspruchnahme von betrieblicher Qualifizierung und Umschulungs-, Fortbildungs- und Weiterbildungsangeboten ist eine wesentliche Voraussetzung, damit Beschäftigte selbstbestimmt Brücken in neue Beschäftigung und Tätigkeiten bauen und sich beruflich weiterentwickeln können. Ziel ist es, allen Menschen die Teilhabe an guter Erwerbsarbeit und zur persönlichen und beruflichen Entwicklung zu eröffnen bzw. zu bewahren. Hierzu bedarf es im Bereich der Weiterbildung auf betrieblicher Ebene starker Initiativ- und Mitbestimmungsrechte der betrieblichen Interessensvertretung und einer verlässlichen Architektur lebensbegleitenden Lernens mit einem gesetzlichen Rechtsanspruch auf Freistellung und Förderung von Weiterbildung, der Anerkennung von non-formal und informell erworbenen beruflichen Kompetenzen und einer leistungsfähigen Qualitätssicherung für gute Weiterbildungsangebote.

Wie die Arbeitswelt von morgen gestaltet sein wird, hängt ganz davon ab, wie wir es schaffen, Ausbildung und Beschäftigung in der sozialökologischen Transformation zu sichern und verlässliche Zukunftsperspektiven für junge Menschen und Beschäftigte zu schaffen. Je stärker der digitale Fortschritt und der wirtschaftliche Strukturwandel Fahrt aufnehmen, umso mehr hängt die berufliche Zukunft der Menschen in Deutschland davon ab, dass sie eine gute Ausbildung erhalten und dass sie ihre Fähigkeiten und Kompetenzen im Verlaufe ihres Berufslebens updaten und upgraden können. Für die anstehende Transformation brauchen wir Fachkräfte, die kompetent, kollegial, kooperativ und kreativ mit neuen und auch komplexen Herausforderungen umgehen können. Berufliche Handlungskompetenz muss gerade im Wandel gestärkt werden. Sie umfasst nicht einfach nur fachliche Skills, sondern eine nachhaltige Persönlichkeitsentwicklung und muss die Gestaltung guter Arbeits- und Lebensbedingungen fördern sowie zur Mitbestimmung befähigen.

In der Regel eignen sich Erwerbstätige im Laufe ihres Erwerbslebens über ihren Beruf hinausgehende Kompetenzen an. Berufserfahrung auf der Basis informellen Lernens in der Arbeit hat für die Beschäftigten auch subjektiv eine hohe Bedeutung und wird von ihnen als Quelle für ihre eigene Kompetenzentwicklung verstanden. Aus gutem Grund verbinden DGB und Gewerkschaften mit der Einführung von gesetzlichen Validierungsverfahren die Hoffnung, dass damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Erfahrung und ihr Können auch über betriebliche Anforderungen hinaus sichtbar machen und für sich nutzen können. Validierung ist darüber hinaus ein wichtiger Baustein, damit Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen stärker als bisher Angebote der abschlussorientierten Weiterbildung in Anspruch nehmen können.

Gerade in der Pandemie hat sich gezeigt, dass Bildung keinesfalls einem föderalen Neben- oder gar Gegeneinander überlassen werden darf. Der Wettbewerbsföderalismus ist gescheitert. Notwendig ist eine gemeinsame Bildungsstrategie von Bund, Ländern und Kommunen mit klaren Entwicklungszeilen. Ebenso braucht es eine Reform der Bildungsfinanzierung von Bund und Ländern. Zum einen investieren Bund und Länder weiterhin zu wenig ins Bildungssystem. Zum anderen vernachlässigt die Verteilung von Bundesmittel für Bildungsinvestitionen an die Länder über Umsatzsteuerpunkte oder nach dem Prinzip des Königsteiner Schlüssels die eigentliche Zielsetzung; nämlich den sozialen Bezug und die Förderung gleichwertiger Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik. Zielgerichteter und wirkungsvoller wäre eine Mittelvergabe, die die Sozialindizes der Bildungseinrichtung und des Wohnumfeldes berücksichtigt.

Es ist höchste Zeit für eine Bildungsstrategie, die auf die Verwirklichung gleicher Bildungschancen abzielt und für gute und attraktive Arbeit im Bildungswesen sorgt. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften haben die Aufgabe, die öffentliche Diskussion zu treiben und auch andere zu ermutigen, sich mit uns für gute Bildung und für gute Arbeit einzusetzen. Die Herausforderungen liegen in den kommenden Jahren darin, die Transformation nicht nur zu bewältigen, sondern sie mit, durch und für die Beschäftigten zu gestalten. Dafür ist es notwendig, mutig über den Tellerrand des Bestehenden hinauszublicken, neue Lösungen und neue Wege vorzuschlagen und diese in den öffentlichen demokratischen Diskurs einzubringen.

Autor

  • Elke Hannack ist seit 2013 stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Elke Hannack hat „Gewerkschafterin“ von der Pike auf „gelernt“. Sie ist ausgebildete Organisations- und Rechtsschutzsekretärin des DGB und kann auf eine fast 40 Jahre Gewerkschaftstätigkeit in Ehren- und Hauptämtern zurückblicken. Im DGB ist Elke Hannack für die Ressorts Öffentlicher Dienst und Beamtenpolitik, Frauen-, Gleichstellungs- und Familienpolitik, Jugend- und Jugendpolitik, Bildungspolitik und Bildungsarbeit sowie Organisationspolitik, Service und IT verantwortlich. Außerdem ist sie Mitglied im Bundesvorstand der CDU und stellvertretende Vorsitzende ihres Arbeitnehmerflügels, der Christdemokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA).

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