Mario Patuzzi (Leiter des Referats für Grundsatzfragen der beruflichen Aus- und Weiterbildung beim DGB Bundesvorstand)
Schon jetzt ist Land auf, Land ab von einem „Fachkräftemangel“ zu lesen, während arbeitsmarktpolitische Akteure noch streiten, ob wir erst einmal nur mit einer Engpasssituation oder doch schon mit einem ausgewachsenem Fachkräftemangel konfrontiert sind. Der deutsche Arbeitsmarkt wird jedenfalls in den kommenden Jahren einem starken demografischen Wandel ausgesetzt sein, wenn die Generation der sogenannten Baby-Boomer in den wohlverdienten Ruhestand geht. Der Bedarf nach Fachkräften, aber auch allgemeiner nach Arbeitskräften wird ohne zusätzliche Erwerbsmigration aus sogenannten Drittstaaten (d.h. Staaten außerhalb der EU) nicht zu schaffen sein. Häufig ist von 400.000 Personen jährlich die Rede, die per Saldo zusätzlich zu uns kommen – und bleiben müssten, um das Erwerbspersonenpotential auf heutigem Stand halten zu können.
Bereits die Regierung Merkel IV (die „GroKo“) hat 2019 mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) versucht, den rechtlich-institutionellen Rahmen für eine stärkere Erwerbsmigration nach Deutschland zu spannen. Die derzeit regierende Ampelkoalition reformierte 2023 das FEG, das die Einwanderung von Fachkräften aus Staaten außerhalb der EU erleichtert wollte. Neben der leichteren Anerkennung von ausländischen Qualifikationen sollte mit einer nach einem Punktesystem aufgebaute Chancenkarte die Arbeitsmigration nach Deutschland attraktiver gemacht werden. Auch werden in steigendem Maße gezielte Anwerbemaßnahmen von Arbeits- und Fachkräften in Drittstaaten von staatlicher Seite unterstützt und gefördert. Interessant für diese Ausgabe: Erstmals wurde Begriff „Fachkraft“ legaldefiniert[i], andererseits aber auch neue Aufenthaltstitel geschaffen, die nicht an eine vorhandene berufliche Qualifikation gebunden sind. Auch wenn seit jeher Deutschland auch Migrant*innen mit hohem Qualifikationsniveau aufgenommen hat, richtet sich unser Blick doch stärker auf die zugewanderten Fach- und Arbeitskräfte, die keine oder keine anerkennungsfähigen Qualifikationen aufweisen (können). Für diese Gruppe bestanden und bestehen auch immer „Arbeitsfelder der Ankunft“, d.h. Orte des Einstiegs in eine Erwerbstätigkeit in Deutschland[ii]. Allerdings gelingt es nach wie vor wenigen, die Arbeitsfelder der Ankunft für ihre berufliche Weiterentwicklung zu nutzen und in sozial abgesicherte und stabile Arbeit um- oder aufzusteigen. Insbesondere spielen Qualifizierung und Weiterbildung häufig nur eine untergeordnete Rolle.
Gerade im Hinblick auf nicht oder nicht hinreichend qualifizierte Zugewanderte stellt sich für Gewerkschaften die Frage, welche Rolle Bildung und Qualifizierung für eine gelingende Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft spielen (können). Zwar gehen alle Prognosen immer von gelingender Arbeitsmarktintegration aus. Gemeint ist aber zwischen den Zeilen häufig die Deckung unternehmerischer Arbeitskräftebedarfe. Es kommen aber Menschen zu uns, die sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen und arbeiten wollen. Sie brauchen auch die Chance zur ökonomischen und gesellschaftlichen Teilhabe. Dies wird nicht ohne bessere Zugänge zu Bildung und Qualifizierung gehen. Um diesen Zusammenhang dreht sich diese Ausgabe der Denk-doch-mal.
Im ersten Beitrag „Eingewanderte ohne Qualifikation qualifizieren! Bildungs- und Qualifikationsmöglichkeiten für Eingewanderte und Geflüchtete aus der migrationspolitischen Perspektive“ gibt uns Vera Egenberger, Referentin beim DGB-Bundesvorstand, einen gewerkschaftlich kommentierten Überblick über die mit dem FEG neu normierten Aufenthaltstitel für Menschen aus sogenannten Drittstaaten, die nach Deutschland einwandern oder hierher geflüchtet sind. Dieser Überblick ist die Voraussetzung für die Gestaltung von Qualifizierungs- und Bildungswegen für Eingewanderte und Geflüchtete. Die Autorin formuliert auf der Basis dieser Rahmenbedingungen zentrale Anforderungen an die Anerkennung ausländischer Qualifikationen, die auf eine bessere Nutzung des gesamten Instrumentenbaukastens der Anerkennung (Beratung, Förderung, Anerkennungsverfahren, Nachqualifizierung) abzielen und auf eine bessere Integration von Eingewanderten hoffen lassen.
Mit dem Beitrag „Wichtiges Integrationsinstrument statt Einwanderungshürde: Wie sich die Rolle der Berufsanerkennung durch die Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes ändert“ von Claudia Moravek und Vira Bushanska (beide vom Bundesinstitut für Berufsbildung) werfen wir einen Blick in den Maschinenraum des wichtigsten bildungspolitischen Integrationsinstruments für Zugewanderte, der Anerkennung ausländischer Qualifikationen. Die Autorinnen beginnen mit der Darstellung der Berufsanerkennung vor und nach dem FEG und zeigen daran anschließend auf, welche Rolle die Anerkennung ausländischer Qualifikationen zukünftig spielen kann. Der Beitrag schließt mit einem Blick auf Anforderungen an eine leichtere Anerkennung und adressiert dabei insbesondere steigende Informations- und Beratungsbedarfe sowie einen hohen Optimierungsbedarf im Vollzug der Anerkennungsverfahren.
Geradezu wie die Faust aufs Auge, schließt sich der Beitrag „Von der Komplexität einer bürokratischen Großküche – Anerkennung im Kontext der Fachkräfteeinwanderung“ von Katharina Bock, Lea Berges und Katharina Drummer vom Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb) an. Was im Beitrag zuvor nur angeschnitten wurde, stellen die Autorinnen ausführlich dar: die schiere Unüberschaubarkeit an Zuständigkeiten und Akteuren zwischen der Beratung, Begleitung und Qualifizierung, deren Komplexität nun das reformierte FEG deutlich erhöht. „So steht das System aktuell vor der Herausforderung, eine Vielzahl von bestehenden Akteuren und Prozessen mit neuen zu verflechten und in einen kohärenten und bestenfalls einfachen und einladenden Prozess für einreisewillige Fachkräfte aus dem Ausland zu formen“, schreiben die Autorinnen. Dabei können aber nicht nur die Optimierung von Anerkennungsprozessen und der Ausbau von Informations- und Qualifizierungsangeboten helfen. Anknüpfend an bisherigen Erfahrungen im IQ-Netzwerk geht es auch in Zukunft stärker um eine kooperative Gestaltung serviceorientierter Beratung an den Schnittstellen des Netzwerks der unterschiedlich involvierten Akteure.
Eine andere Perspektive bringen Alexandru Firus, Michael Baumgarten (beide PECO-Institut) und Anel Crnovrsanin (Europäischer Verein für Wanderarbeiterfragen) mit ihrem Beitrag „Potentiale des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes bei der Gewinnung von Fachkräften für den deutschen Hochbau“ ein. Die Autoren zeigen die Grenzen des FEG und der Anerkennungsverfahren am Beispiel migrantischer Beschäftigter in dieser Branche auf. Aufgrund anderer Rekrutierungsmöglichkeiten und der hohen Informalisierung von Beschäftigung in der Branche spielt das FEG nur eine untergeordnete Rolle. Anerkennungsverfahren haben kaum Nutzen für die Beschäftigten. Die Autoren machen deutlich, dass die Zugänge zu Bildung und Qualifizierung hier stark von der arbeits- und sozialrechtlichen Verfasstheit von Beschäftigung abhängig sind.
Isabel Klein und Petra Schütt (beide im Referat für Arbeit und München der Landeshauptstadt München für kommunale Beschäftigungspolitik und Qualifizierung zuständig) stellen mit ihrem Beitrag „Kommunale Brücken bauen: Arbeitsmarktintegration von Zugewanderten durch systemische Qualifizierungsstrategien in München“ den Möglichkeitsraum von Kommunen am Beispiel der Beschäftigungspolitik der Stadt München vor. Das Interessante am Münchner Beispiel ist der systemische Ansatz, der die kommunale Arbeitsmarktpolitik steuernd an der Schnittstelle von Arbeitsverwaltung, Trägerlandschaft, Unterstützungsorganisationen, Unternehmen und Sozialpartnern platziert und die rechtlichen Rahmenbedingungen für Einwanderung und Anerkennung für Beratung, Begleitung und Qualifizierung von Zugewanderten nutzt.
Mit dem letzten Beitrag „Wie internationale Fachkräfte die deutsche Wirtschaft bereichern“ von Bettina Ehrhardt (für die IQ-Projekte der Handwerkskammer Hamburg zuständig) werden an drei anschaulichen Beispielen die Aktivitäten der Servicestelle Handwerk und Integration vorgestellt. Die Projekte der Servicestelle sind nah an den Bedürfnissen des örtlichen Handwerks angelagert und vor allem durch eine enge Verzahnung der Angebote und die Begleitung von Beschäftigten und Arbeitgebern durch die Handwerkskammer charakterisiert – und gerade deshalb auch erfolgreich.
[i] Fachkraft im Sinne des § 18 Absatz 3 Aufenthaltsgesetzes ist danach ein Ausländer, der 1. eine inländische qualifizierte Berufsausbildung oder eine mit einer inländischen qualifizierten Berufsausbildung gleichwertige ausländische Berufsqualifikation besitzt (Fachkraft mit Berufsausbildung) oder 2. einen deutschen, einen anerkannten ausländischen oder einen einem deutschen Hochschulabschluss vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss besitzt (Fachkraft mit akademischer Ausbildung).
[ii] Yalcin, Serhat; Hubenthal, Natalie; Dieterich, Juliane: Arbeitsfelder der Ankunft. Study der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, ISBN: 978-3-86593-404-8, https://www.boeckler.de/fpdf/HBS-008782/p_study_hbs_487.pdf (abgerufen am 14.8.2024)