Eckhard Geitz (Politikwissenschaftler und geschäftsführender Institutsleiter des Bildungsinstituts im Gesundheitswesen (BiG) in Essen)

In fünf Jahren wieder weg

Kurz vor Redaktionsschluss der aktuellen Ausgabe von „Denk doch mal“ wurden im Wochenmagazin Der Spiegel die Ergebnisse einer Befragung veröffentlicht, die den Gesundheitssektor eigentlich erschüttern müssten. Befragt wurden von der interkulturellen Trainerin Grace Lugert-Jose 224 philippinische Pflegekräfte dazu, wie sie ihre Arbeitssituation in Deutschland erleben und welche Perspektiven sie für ihre weitere berufliche Laufbahn sehen. Die zitierten Aussagen der internationalen Fachkräfte sollten allen zu denken geben, die sich um Integration und Vielfalt in der Pflege bemühen. Erlebte Bevormundung, Respektlosigkeit, Abwertung von Fachlichkeit und offener Rassismus wurden genauso zur Sprache gebracht wie Kündigungen mit Ansage: 50% der Befragten geben an, Deutschland innerhalb von fünf Jahren wieder verlassen zu wollen.

Auch wenn es sich nicht um eine repräsentative Umfrage handelt, sollten die Befunde Anstoß erregen, da die deutsche Gesellschaft auf mehr als nur ein wenig Hilfe von Freund*innen angewiesen ist: Laut IAB könnte der Arbeitsmarkt bis 2035 um bis zu sieben Millionen Arbeitskräfte schrumpfen, wenn nicht gehandelt werde. Nach Darstellung der Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, ist eine Nettozuwanderung von 400.000 Menschen pro Jahr erforderlich, um angemessen auf die Bedarfe einer älter werdenden Gesellschaft zu reagieren. Der Pflegesektor ist von der Problematik besonders betroffen: In den nächsten zehn Jahren erreichen rund 500.000 der heutigen 1,7 Millionen Pflegenden das Rentenalter.

Während der politische Diskurs im Spätsommer 2023 um Fragen des effektiveren Grenzschutzes kreist, während eine rechtsextreme Partei bei der Sonntagsfrage zuverlässig auf Platz zwei landet, während deutlich weniger internationale Fachkräfte angeworben werden, als gebraucht werden, und während der Vorsitzende einer sogenannten Volkspartei über Asylbewerber*innen bei Zahnärzten schwadroniert, erfahren diejenigen, die kommen, wie schlecht man etwa im Gesundheitswesen auf sie eingestellt ist. Die Studie von Grace Lugert-Jose verweist implizit auf den Zusammenhang zwischen fehlender Personalentwicklung und Diskriminierungserfahrung. Der Spiegel berichtet: „Von den Befragten, die dem Satz zustimmen: `Mein Vorgesetzter ist kompetent in der Leitung multikultureller Teams´, geben 48 Prozent an, keine Erfahrungen mit Diskriminierungen gemacht zu haben. Von denen, die ihre Vorgesetzten als inkompetent einschätzen, geben dagegen 82 Prozent an, schon mal während der Arbeit diskriminiert worden zu sein“

Kultursensible Personalentwicklung weiß: Integration ist keine Einbahnstraße

Die Lücke in der kultursensiblen Weiterbildung und Personalentwicklung zeigt sich schon da, wo der aktive Part wesentlich auf der Seite der Internationalen Fachkräfte gesehen wird. Es ist eine verbreitete Auffassung, dass die Ankommenden sich in das bestehende System zu integrieren hätten, während die etablierten Prozesse weitestgehend unangetastet bleiben könnten. Wer mit diesem Begriff von Integration arbeitet, wird es weder schaffen, dass internationale Kolleg*innen motiviert in Deutschland arbeiten, noch wird ein nachhaltiger Beitrag zur besseren Versorgung geleistet.

Fachlich vertieft setzten sich bereits 2019 Pütz et al. in der Studie „Betriebliche Integration von Pflegefachkräften aus dem Ausland“ mit der Thematik auseinander. Unterschieden wurden drei mögliche Konfliktfelder des betrieblichen Integrationsmanagements: Fachlichkeit, Arbeitsorganisation und Kulturalisierung. Hinsichtlich der Beziehung von Fachlichkeit und Arbeitsorganisation wurde konstatiert, dass im Zuge der Einwanderung eine „Neu-Bewertung der jeweiligen Qualifikationen und Kompetenzen“ stattfindet. So würden immigrierte Pflegekräfte mit Studienabschluss etwa für Hilfstätigkeiten eingesetzt. Dies sorgt auf Seiten der Immigrierten gleichermaßen für Frustration wie bei den „etablierten“ Pflegekräften. Die in der Studie aufgeführten Aussagen eines Praxisanleiters und einer Leitungskraft illustrieren die „Neubewertung“ paradigmatisch, die man treffend auch auf den Begriff der Abwertung fachlicher Qualifikationen bringen kann.

Beispiel 1 (Praxisanleiter):
„Zuerst mal fangen wir an, einfach Körperpflege und Betten machen, das ganz einfache Zeug. Wenn das dann drin ist, dass sie dokumentieren werden, weil das ist ja auch ein wichtiges Handwerkszeug, was sie müssen. So und dann warten wir auf das Deutsch. Sozusagen. Verbandswechsel noch, also was man durch Sehen begreifen kann, das müssen wir halt zuerst machen. Durch Sehen und Handeln und das, wo man verstehen und reden muss, das kommt später. Und dann gibt’s natürlich noch die individuellen Differenzen oder die Probleme, die man ausgleichen muss. Das ist bei jedem ein bisschen anders. Es gibt eine Einarbeitungsmappe, die dürfen sie lesen, aber das bringt nix, solange sie kein Deutsch können, das wie gesagt, wir haben das nur auf Deutsch. Manche sind interessiert, manche nicht, das merkt man schon.“

Beispiel 2 (Leitungskraft)
„Es ist quasi ein Schülerstatus hier, bei uns. Und so werden die auch behandelt. Wie gesagt, mir ist immer erst einmal wichtig, dass die ein gewisses Arbeits- und Sozialverhalten mitbringen. Der Rest ist mir erst einmal egal. Ist blöd, aber ich sage das immer: wie in der Schule. Wenn das funktioniert, das Fachliche kriegen wir hin, die Sprache kriegen wir hin.“

Die beiden Beispiele sind als Belege dafür zu bewerten, wie notwendig der Kompetenzaufbau in Sachen Integration internationaler Fachkräfte und Aufbau internationaler Teams ist. Es liegt auf der Hand, dass der Praxisanleiter und die Leitungskraft im Status Quo viel weniger von der Mitarbeit ihrer neuen Kolleg*innen profitieren, als dies der Fall sein könnte. Aber die Herstellung einer guten Situation für alle ist nicht nur eine Frage des guten Willens, sondern der planvollen Kompetenzentwicklung.

Ich möchte den beiden hier zitierten Studien noch einige Befunde hinzufügen, die mir aus der Praxis der Personalentwicklung und der Weiterbildung in Kliniken und Pflegeheimen begegnen. Es sind Befunde aus Workshops, Interviews, Veranstaltungen mit betrieblichen Interessensvertretungen und Gesprächen mit Führungskräften.

  • Personalentwicklung als eigenständiges Thema und seine Klammerwirkung für Weiterbildungsbereiche wird selten thematisiert – von wem? Evtl. ein paradigmatischer Ausspruch dazu?
  • Der Führungsstil von Beschäftigten in leitenden Funktionen wird hinsichtlich Kommunikation und Transparenz als ausbaufähig wahrgenommen
  • Die Weiterbildungsangebote werden oft als nicht passend zu den Bedarfen und Laufbahnentwicklung der Mitarbeiter*innen wahrgenommen
  • Einarbeitungskonzepte für Onboarding-Prozesse werden häufig als unzureichend erachtet und thematisieren Reaktionen auf Qualifizierungsbedarf selten. Mehrsprachige Einarbeitungskonzepte liegen meist nicht vor
  • Betriebliches Integrationsmanagement wird stärker mit Integrationsbeauftragten verknüpft und eher weniger mit dem Ausbilden von interkultureller Kompetenz aufseiten der etablierten Pflegekräfte
  • Im Bereich von Feedback- und Fehlerkultur sowie wertschätzender Kommunikation in Teams wird häufig Verbesserungsbedarf diagnostiziert

Setzt man diese Befunde mit der Ablehnungserfahrung der philippinischen Kolleg*innen und dem Abwertungsparadigma in Verbindung, wird klar, dass Bildungsanbieter noch viel Zeit und Mühe investieren müssen, um Angebote zu formulieren, die betrieblich wirksam werden.

Das Deutsche Kompetenzzentrum für internationale Fachkräfte in den Gesundheits- und Pflegeberufen (DFK) empfiehlt Kliniken und Pflegeeinrichtungen die Implementierung eines betrieblichen Integrationsmanagements und bietet Unternehmen die Auszeichnung mit dem „Gütesiegel Faire Anwerbung Deutschland“ an. Für das Gütesiegels muss ein zwölf Punkte umfassendes Konzept mit klar strukturierten Anforderungsfeldern vorlegt werden. Zu den Anforderungsfeldern zählen unter anderem die Begleitung des Ankommens, Unterstützung beim Relocation Management, Organisation von Patenschaften und Mentoring, Organisation des Anerkennungsprozesses, die Begleitung des Teambuildings oder die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe.

Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration stellte 2021 die Broschüre „Das kultursensible Krankenhaus“ vor. Darin wird der Notwendigkeit eines betrieblichen Integrationsmanagements für ausländische Pflegekräfte die Notwendigkeit eines kultursensiblen Umgangs mit Migrant*innen in der Versorgung hinzugefügt. Darin heißt es: „Wenn die Klinikleitungen ihre Institution interkulturell öffnen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter interkulturell kompetent aus-, fort- und weiterbilden und die interkulturelle Ausrichtung dauerhaft, konkret und messbar verankern, wird dies zu einer deutlichen Verbesserung der Versorgung von Migrantinnen und Migranten führen. Gleichzeitig kommen diese Maßnahmen allen Patientinnen und Patienten sowie allen Mitarbeitenden zugute, indem sie die Qualität hinsichtlich der Patientenorientierung generell steigern.“

Der Gegenstand der strategischen Personalentwicklung besteht darin, das hier skizzierte Spektrum an Themen sinnvoll aufeinander zu beziehen. Die zentrale Aufgabe besteht darin, Inhalte und Formate zu entwickeln, mit denen die erhobenen Bedarfe in konkreter Weise adressiert werden.

Die dargestellten Herausforderungen in Organisationsstrategien, tarifvertragliche Regelungen und Betriebsvereinbarungen zu übersetzen, ist die dringliche Aufgabe für die Gewerkschaft ver.di und Angebote der Weiterbildung und Personalentwicklung von Bildungsträgern zu unterstützen, die sich diesem Anliegen verpflichtet fühlen.

Autor

  • Eckhard Geitz ist examinierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Politikwissenschaftler und geschäftsführender Institutsleiter des Bildungsinstituts im Gesundheitswesen (BiG) in Essen. In der Praxis berät er mit dem BiG unter anderem Kliniken und Pflegeeinrichtungen zu Fragen der Organisations- und Personalentwicklung und erarbeitet gemeinsam mit Interessensvertretungen und Unternehmensleitungen Konzepte dazu, wie Aus-, Fort- Weiterbildungen im Gesundheitswesen einen signifikanten Beitrag zur guten Versorgung leisten können. Das BiG gehört als bundesweiter Bildungsträger zur Gewerkschaft ver.di und arbeitet auf Betriebs-, Landes- und Bundesebene mit ver.di zusammen. Das Institut verfügt über eine eigene Pflegeschule und bietet unter anderem Weiterbildungen zur Praxisanleitung, Hygienefachkraft und Stationsleitung an.

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