Dr. Daniela Ahrens (Senior Researcher, Universität Bremen, Institut Technik und Bildung)
1. Berufsorientierung als „wicked problem“
Der Beitrag konzentriert sich auf die Berufsorientierung an der ersten Schwelle. Genau genommen, müsste hier von einer Berufs- und Studienorientierung gesprochen werden, aber da der Text die Frage der Berufsorientierung im Kontext von ausbildungsplatzlosen Jugendlichen und Jugendlichen mit einem niedrigen Schulabschluss diskutiert, ist im Folgenden nur von Berufsorientierung die Rede. Die schulische Berufsorientierung ist angesichts ihrer unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Anforderungen ein „wicked problem“. Der in den 1960er Jahren in den Planungs- und Sozialwissenschaften geprägte Begriff „wicked problem“ beschreibt komplexe Probleme, die keine eindeutige Lösung haben, weil sie von vielen unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Interessen und Erwartungen beeinflusst werden. Ebendies trifft auf die schulische Berufsorientierung zu: Bildungspolitische Vorgaben, individuelle Interessen und Fähigkeiten der Schüler:innen, Arbeitsmarktbedingungen und wirtschaftliche Entwicklungen sind ebenso Einflussfaktoren wie die Rolle der Eltern, der Lehrkräfte, der außerschulischen Akteure und der Peers. Wicked Problems zeichnen sich durch eine hohe Persistenz aus, die sich einfachen Lösungsansätzen entziehen und sich über längere Zeiträume hinweg halten.
Grob lassen sich drei zentrale Akteursgruppen in der Berufsorientierung unterscheiden: Zunächst die Jugendlichen selbst, die gesetzlich zur Beteiligung verpflichteten Institutionen wie Schulen, Bundesagentur für Arbeit, Jugendhilfe und Jugendberufsagenturen sowie andere Interessengruppen wie Maßnahmenträger und sozialpolitisch engagierte Gruppen wie Stiftungen und lokale Initiativen (Ziegler 2023). Vielfach konfligieren individuelle Wünsche, Interessen und Perspektiven der Schüler:innen mit betrieblichen Anforderungen und den Interessen des Ausbildungsmarkts. Das aktuelle Positionspapier des DGBs formuliert für die Berufsorientierung: „Ziel muss sein, individuell zu unterstützen, die Besetzung der betrieblichen Ausbildungsplatzangebote voranzutreiben und niemand an den Schwellen zwischen Schule und Beruf zu verlieren“ (DGB 2025, 1).
Dass allerdings Jugendliche nach Beendigung der Schulzeit keinen unmittelbaren Anschluss an Ausbildung oder weiterführende Bildung bekommen und teilweise auch unter dem Radar des institutionalisierten Übergangssystems verloren gehen oder übersehen werden, ist ein Problem mit enormer Beharrlichkeit. So ist die Ungelerntenquote der 20- bis 34-Jährigen, d. h. der Anteil ohne Berufsabschluss unter den Erwerbspersonen (nfQ-Quote), seit 2015 stetig gestiegen (BIBB-Datenreport 2024, 281; Christ et al. 2023, 6) und liegt derzeit bei rund 13 % (Hellwagner et al. 2025).
Zu den „verlorenen“ Jugendlichen gehören auch jene Jugendliche, deren Verbleib zum 30. September offen oder unklar ist. Dies waren 2022 knapp 14 % der Ausbildungsinteressierten (rd. 97.400). Hierunter fallen Jugendliche, die ohne alternative Verbleibsmöglichkeitf ihre Ausbildungsplatzsuche auch am 30. September noch fortsetzten, oder aber „unbekannt verblieben“, also die Beratungs- und Vermittlungsdienste über ihre aktuelle Situation nicht mehr unterrichteten (Christ et al. 2023, 25). Insbesondere geflüchtete Jugendliche geraten ins institutionelle Abseits. 13.681 bzw. 47,5 % der Bewerber/-innen mit Fluchthintergrund waren im Berichtsjahr 2022 anderweitig oder unbekannt verblieben und hatten ihren Vermittlungsauftrag beendet. Der BA lagen von insgesamt 7.083 (24,6 %) ehemaligen Bewerberinnen und Bewerbern im Kontext von Fluchtmigration Informationen über den Verbleib vor. Nahezu jede/-r vierte Bewerber/-in mit Fluchthintergrund (22,7 %) ist unbekannt verblieben (Datenreport 2024, 291).
Das Ziel der schulischen Berufsorientierung, dass „die „Schülerinnen und Schüler in einem langfristig angelegten Prozess befähigt werden, sich reflektiert, selbstverantwortlich, frei von Klischees und aktiv für ihren weiteren Bildungs- und Berufsweg, vor allem für einen Beruf und damit für eine Ausbildung bzw. ein Studium oder ein Berufsfeld zu entscheiden“ (KMK 2017, 2), scheint für viele Jugendliche nicht erreichbar zu sein oder aber die schulischen Initiativen und Maßnahmen erreichen nicht alle Jugendlichen. Die genuine Aufgabe der Berufsorientierung ist es, Jugendlichen die theoretischen Kenntnisse und praktischen Erfahrungen über das Wirtschafts- und Arbeitsleben zu vermitteln, die sie in die Lage versetzen, eine begründete Berufswahl zu treffen. Sie soll auf diese Weise zugleich zwischen den Wünschen und Interessen von Ausbildungsinteressierten und den Bedarfen von Betrieben und Unternehmen ausgleichend vermitteln (Steiner & Tillmann 2023).
Unter der Leitung des Bundesinstituts für Berufsbildung plädiert eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe in ihren 9+1 Thesen dafür, Berufsorientierung als ein „biografisches Langzeitprojekt“ zu begreifen. So notwendig es ist, Berufsorientierung in einen biografischen Kontext zu stellen, besteht mit diesem Verständnis zum einen die Gefahr, Berufsorientierung zu einer Aufgabe rsp. einem (pädagogischen) Projekt der Biografieträger:innen zu machen, zum anderen werden mit diesem Begriff möglicherweise die Differenzierungsnotwendigkeiten im Kontext der Berufsorientierung verdeckt. So geht es im Erwachsenenalter eher um eine berufliche Neu- oder Umorientierung, während Jugendliche beim Übergang von der Schule in den Beruf erstmalig mit berufswahlbezogenen Entscheidungen konfrontiert sind, und die Berufswahlentscheidung zu Beginn des Berufslebens nach wie vor als eine „Sollbruchstelle“ (Walther 2020, 62) im Lebenslauf fungiert und eine Schlüsselfunktion (Brüggemann & Rahn 2020) hat. Den Übergang an der ersten Schwelle – von der Schule in eine berufliche Ausbildung erleben insbesondere Jugendliche als kritische Lebenssituation (Driesel-Lange u. a. 2020). Jeder zweite junge Mensch mit formal niedriger Bildung macht sich Sorgen, einmal arbeitslos zu werden (BMFSFJ 2024, 132).
2. Lebenswelten der Jugendlichen
Berufsorientierung bedeutet nicht nur, den Jugendlichen Informationen zu Berufen, zu Ausbildungswegen und deren Voraussetzungen zu vermitteln – was angesichts der rund 323 dualen Ausbildungsberufe, ca. 150 Schulberufe und den knapp zehntausend Bachelorstudiengängen an deutschen Hochschulen bereits eine enorme Herausforderung darstellt ‑ sondern auch Maßnahmen zur individualisierten Beratung und Begleitung anzubieten. Die durch verschiedene Studien gestützte Forderung nach einer stärkeren Individualisierung der Berufsorientierung (u.a. Driesel-Lange & Weyland 2020; Giek & Seifried 2023) setzt einen Perspektivwechsel zugunsten der Jugendlichen voraus, denn Jugendliche sind mehr als Schülerinnen und Schüler oder zukünftige Fachkräfte (Reißig 2021, 53).
Im Folgenden werden daher Ergebnisse aktueller Jugendstudien – die vierte McDonalds Ausbildungsstudie 2019, die Shell Jugendstudie 2024 sowie die JOBLINGE Studie „Jugend im Standby: Was hält junge Menschen vom Schritt in die Ausbildung ab?“ vom rheingold Institut – vorgestellt und in ihren Konsequenzen für die Berufsorientierung diskutiert.[1]
Die McDonalds Ausbildungsstudie 2019 ist eine repräsentative Befragung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 15 bis 24 Jahren. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass viele Jugendliche „Optionenstress“ haben, dass die Informationen zu den über 300 Ausbildungsberufen und deren Voraussetzungen und Entwicklungsperspektiven sie überfordert und Festlegungen aus Sorge vor einer falschen Entscheidung eher vermieden werden. „Es fehlen ihnen die Maßstäbe und Kriterien, um angesichts der schnellen technischen und sozialen Veränderungen klare Entscheidungen zu treffen“ (Mc Donalds Ausbildungsstudie 2019, 7). Die Rede von den Gestaltungsmöglichkeiten in einer „Multioptionengesellschaft“ (Gross 1994) verkehrt sich für diese Jugendlichen ins Gegenteil. Nur gut jede:r dritte Schüler:in findet es richtig, sich möglichst früh festzulegen, jede:r zweite möchte sich mit der Berufsentscheidung hingegen lieber Zeit lassen.(ebd. 70). Die Befürchtung, sich zu früh und dann womöglich für das Falsche zu entscheiden, führt dazu, dass viele der Jugendlichen versuchen, sich möglichst lange verschiedene berufliche Optionen offenzuhalten“(McDonald’s Ausbildungsstudie 2019, 70). Gerade Jugendliche mit einem niedrigen Schulabschluss fühlen sich angesichts der Vielfalt an Möglichkeiten überfordert. Die Schule bereitet aus der Perspektive der Jugendlichen nicht hinreichend auf das Berufsleben vor. Knapp zwei Drittel (59 %) der befragten Schüler:innen sind weniger oder gar nicht damit zufrieden wie ihre Schule sie auf ihr späteres Berufsleben vorbereitet (ebd. 72). Allerdings wünschen sich lediglich 43 % der Schüler:innen mehr Unterstützung bei ihrer Ausbildungs- und Berufswahl, 42 % halten dies für nicht notwendig (ebd. 80). Hervorzuheben sind die Ergebnisse hinsichtlich der unterschiedlichen Erwartungen an einen Beruf. Während für Schüler:innen, die eine akademische Ausbildung anstreben, im Beruf Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten wichtig sind, wünschen sich Schüler:innen von ihrem zukünftigen Ausbildungsberuf eher angenehme Arbeitsbedingungen und Sicherheitsaspekte. (ebd. 80).
Die 19. Shell Jugendstudie 2024 „Pragmatisch zwischen Verdrossenheit und gelebter Vielfalt“ stützt sich auf eine Stichprobe von 2509 Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren, die zu ihrer Lebenssituation und zu ihren Einstellungen und Orientierungen befragt wurden. Insgesamt hebt die Studie den anhaltenden engen Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Herkunft hervor. Fast die Hälfte (47 %) der Jugendlichen aus der unteren Schicht berichtet, in ihrer Bildungslaufbahn einen Bruch erlebt zu haben. Nur 27 % der Jugendlichen, deren Eltern (höchstens) einen einfachen Schulabschluss haben, erreichen oder streben das Abitur an. Hat mindestens ein Elternteil Abitur, sind es 80 %. Interessant sind die Ergebnisse der jüngsten Shell Jugendstudie zur Kategorie „Planbarkeit der eigenen Berufstätigkeit“ Sie zeigen, dass Jugendliche nicht eine biografische, sondern eine unmittelbare lebensweltliche Perspektive in den Mittelpunkt rücken. Dies drückt sich u.a. darin aus, dass die Jugendlichen eine Arbeitszeit mit klar festgelegtem Beginn und Ende wünschen und für den Job nicht die angestammte Heimat verlassen möchten. (Shell Jugendstudie 2024, 28).
Die Shell- Jugendstudie differenziert fünf Typisierungen von Jugendlichen, die sich hinsichtlich ihrer Einstellungen und ihres Selbstverständnisses gegen über Staat und Gesellschaft unterscheiden:
- die Mainstream-Jugendlichen: Mit 38 % bilden die Mainstream-Jugendlichen die größte Gruppe und kennzeichnen sich grundsätzlich durch ein positives Bild gegenüber Staat und Gesellschaft, allerdings äußern sie sich kritisch gegenüber politischen Entwicklungen (z.B. Klimawandel) ohne jedoch extreme Haltungen einzunehmen. Mainstream-Jugendliche wünschen sich Stabilität und Sicherheit, passen sich aber pragmatisch an Veränderungen an. Die Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche mit niedriger Bildung, Jugendliche aus dem Osten sowie Jugendliche mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit in dieser Gruppe etwas weniger häufig vertreten sind.
- die progressiven Jugendlichen (15 %): Diese Jugendlichen zeigen eine hohe Sympathie für „woke“ Themen (z.B. Diversity, Inklusion) und setzen sich aktiv für gesellschaftlichen Wandel ein. Die Progressiven sind zu Themen wie soziale Gerechtigkeit, Umwelt- und Klimaschutz politisch und gesellschaftlich engagiert, äußern sich kritisch gegenüber konservativen Strukturen und möchten Veränderungen aktiv mitgestalten. Jugendliche mit höherer Bildung gehören im Vergleich häufiger zu dieser Gruppe. Jugendliche mit niedriger Bildung sind kaum vertreten.
- die verunsicherten Jugendlichen (18 %): Mit 18 % ist diese Gruppe nur marginal stärker vertreten als die progressiven Jugendlichen. Verunsicherte Jugendliche fühlen sich oft benachteiligt oder abgehängt und äußern sich skeptisch gegenüber ihren zukünftigen (Berufs-) Chancen. Viele haben einen Migrationshintergrund und erleben Diskriminierung. Fast die Hälfte der Jugendlichen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit lassen sich dieser Gruppe zuordnen.
- die selbstbezogenen Jugendliche (17 %): Selbstbezogene Jugendliche kennzeichnen sich überwiegend durch ein positives Bild gegenüber der Politik und der Gesellschaft, allerdings profilieren sie sich gleichzeitig vor allem durch ihre Kritik am Staat und an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Autor:innen der Jugendstudie erklären dies dadurch, dass die Kritik, die die Jugendlichen trotz ihrer im Grundsatz positiven Sicht auf die Gesellschaft äußern, stark von Eigennutz und einer materiellen Haltung sowie damit einhergehenden potenziellen Verlustängsten geprägt ist. In dieser Gruppe sind häufiger männliche Jugendliche, Jugendliche mit mittlerer oder niedriger Bildung sowie deutsche Jugendliche ohne Migrationshintergrund vertreten.
- die verdrossenen Jugendlichen: Mit einem Anteil von 12 % ist diese Gruppe am schwächsten vertreten. Die Jugendlichen zeichnen sich durch eine kritisch verdrossene Einstellung gegenüber Staat und Gesellschaft aus und sehen sich als abgehängte und benachteiligte Modernisierungsverlierer. Sie positionieren sich konträr zu allem, was modern erscheint oder pluralisierten Lebensstilen entspricht. Soziodemografisch betrachtet, sind Jugendliche aus den ostdeutschen Bundesländern sowie Jugendliche mit niedriger Bildung häufiger in dieser Gruppe vertreten.
Die Shell- Jugendstudie unterscheidet zusätzlich vier Erwartungsprofile der Jugendlichen an den Beruf und die Berufstätigkeit. Ein direkter Zusammenhang zwischen den vier beruflichen Erwartungsprofilen und den fünf allgemeinen Einstellungstypen wird in der Studie nicht explizit hergestellt, aber es ist zu vermuten, dass beispielsweise die „Idealisten“ unter den beruflichen Erwartungsprofilen Überschneidungen mit den „Progressiven“ in den allgemeinen Einstellungen aufweisen, da beide Gruppen Wert auf Selbstverwirklichung und gesellschaftlichen Wandel legen. Ebenso könnten die „Bodenständigen“ Parallelen zu den „Mainstream-Jugendlichen“ haben, da beide Gruppen Sicherheit und Stabilität schätzen. Die Erwartungsprofile im Einzelnen:
- Die „Bodenständigen“: Ein knappes Viertel (24 %) der Jugendlichen hat eine sehr bodenständige Haltung zum Berufsleben. Bei diesem Typus dominiert eine nutzenorientierte Perspektive auf das Arbeitsleben; auch Planbarkeit ist für sie wichtig. Vornehmlich männliche Jugendliche mit einem niedrigen Schulabschluss, Jugendliche mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit sind mit 22 % in dieser Gruppe überproportional vertreten.
- Die „Idealisten“: Ein Viertel (25 %) der Jugendlichen ist in beruflichen Aspekten idealistisch orientiert. Im Vordergrund stehen hier die sinnhafte berufliche Tätigkeit und ein damit einhergehender sozialer Nutzen der Arbeit. Junge Frauen sind in diesem Profil mit 60 % deutlich häufiger vertreten. Der Anteil an Jugendlichen mit abgeschlossenem oder angestrebtem Abitur (69 %) ist in diesem Profil ebenfalls deutlich höher als in den anderen Gruppen. Ebenso berichten die Jugendlichen überwiegend positiv über ihre bisherigen Bildungserfahrungen.
- Die „Durchstarter“: Ein Drittel (32 %) der Jugendlichen möchte im Beruf möglichst schnell durchstarten. In diesem Profil legen die Jugendlichen Wert darauf, dass der Beruf ihnen Erfüllung ermöglicht und zugleich gute Karriereperspektiven sowie entsprechende materielle Vorteile bietet. Berufliche Arbeit konkurriert in dieser Gruppe mit anderen Interessen, so dass auf eine gute Vereinbarkeit zwischen Arbeit und weiteren Lebensinhalten viel Wert gelegt wird. Mehrheitlich vertreten sind hier Jugendliche mit Abitur. Als einzige Gruppe berichten Durchstartende hinsichtlich ihrer Bildungserfahrungen häufiger über Bildungsaufstiege ohne Brüche.
- Die „Distanzierten“: Ein gutes Sechstel (17 %) der Jugendlichen wird als distanziert gegenüber beruflicher Arbeit beschrieben. Kennzeichnend für diese Gruppe ist, dass Fragen des Nutzens, der Erfüllung sowie der Vereinbarkeit des Berufslebens mit weiteren Lebensinhalten und der soziale Nutzen beruflicher Arbeit für sie weniger von Bedeutung ist. In dieser Gruppe sind junge Frauen etwas häufiger als junge Männer anzutreffen (59 % zu 41 %), ebenso Jugendliche aus der unteren Schicht (18 %) und deutsche Jugendliche ohne Migrationshintergrund (65 %). Bildungserfahrungen werden hier als negativ beschrieben.
In dieser Differenzierung nach Jugendtypen spiegeln sich unterschiedliche Haltungen zu beruflichen Zukünften wider, die für eine stärkere Ausrichtung schulischer Berufsorientierung an den Erwartungen, Zielen sowie Unsicherheiten und Deutungsmustern der Jugendlichen sprechen.
Die JOBLINGE-Studie „Jugend im Standby“ (Boston Consulting Group & Eberhard von Kuenheim Stiftung der BMW AG 2023) untersuchte die Gründe, warum über 630.000 junge Menschen in Deutschland weder in Ausbildung, Arbeit, Schule noch Studium sind (sogenannte NEETs). Durch qualitative Interviews und Workshops mit 38 Personen im Alter von 16 bis 27 Jahren identifizierte die Studie sechs verschiedene „Typen der Vermeidung“, die Jugendliche vom Einstieg in die berufliche Bildung abhalten.
- „In Wohlfühl Welten verharren“: Junge Erwachsene leben überwiegend in festen Verhältnissen meist noch bei den Eltern und sind durch sie finanziell abgesichert. Nicht zuletzt aufgrund der in diesem Typus dominierenden höheren Bildungsabschlüsse verspüren die jungen Erwachsenen vielfach keinerlei Entwicklungsdruck. Gelegentliches Jobben erzeugt den Eindruck finanzieller Unabhängigkeit. Im Vordergrund steht die Zeit des Jungseins zu genießen.
- „Self-Made People“: Aus dem ursprünglichen Nebenjob ist eine Festanstellung mit (erstmal) ausreichendem Gehalt geworden. Die jungen Erwachsenen erleben ein hohes Selbstwirksamkeitserleben durch das learning on the job Prinzip. Eigene Wohnung und eigener PKW unterstreichen die Selbständigkeit. Ein Problem dieses Typus‘ ist, dass ohne berufliche Abschlüsse nur geringe berufliche Perspektiven möglich ist. Beispielhaft kann hier die Tätigkeit als Schichtbetreuer:in bei Lieferdiensten genannt werden.
- „als Chef*in einsteigen wollen“: Dieser Typus kennzeichnet sich durch überhöhte, teils unrealistische Selbstwahrnehmung. Vertreten sind hier meist jüngere Teilnehmer*innen, mit überwiegend niedrigen Bildungsabschlüssen. Ausbildungsberufe erscheinen ihnen als unattraktiv: Berufliche Ausbildung wird mit viel Arbeit, niederen Tätigkeiten, geringer Anerkennung und wenig Geld verbunden. Bei diesem Typus ist die Angst vor Frustration und Misserfolg wesentlich.
- „fehlende Skills und Abschlüsse“: In diesem Typus sind vorrangig Jugendliche mit niedrigem oder fehlendem Schulabschluss mit geringer Unterstützung aus dem Elternhaus vertreten. Die jungen Erwachsenen haben vage Vorstellungen eines Traumberufs, allerdings fehlen dafür die nötigen Qualifikationsvoraussetzungen. Ebenso fehlen Information über mögliche Nachqualifizierungen oder berufliche Alternativen. Die jungen Erwachsenen verfügen über keine hinreichenden Recherchestrategien und bleiben häufig in Minijobs hängen.
- „Brüche und Traumata behandeln“: Vertreten sind hier überwiegend Real und Hauptschulabsolvent:innen, die auf sich alleine gestellt sind. Einige leben in Wohngruppen, andere sind mit der eigenverantwortlichen Gestaltung ihres Alltags beschäftigt. Die Folge ist, dass berufliche Qualifizierung keine Priorität hat, wichtig ist die sozialpädagogische Unterstützung.
- „sich als Loser erleben“: Dieser Typus beschreibt junge Erwachsene mit Abwertungs- und Stigmatisierungserfahrungen sowie Minderwertigkeitsgefühlen und geringer Frustrationstoleranz. Die Gestaltung des Übergangs in eine berufliche Ausbildung überfordert diese jungen Menschen, die auch nur geringe Unterstützung durch das Elternhaus erleben.
Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass diese vielfach übersehenen Jugendlichen keine homogene Gruppe bilden, sondern individuelle Vermeidungsstrategien entwickeln. Viele von ihnen fühlen sich von der Gesellschaft entkoppelt und entfremden sich von Bildungseinrichtungen und -angeboten. Die Studienergebnisse geben wichtige Einblicke in die gesellschaftliche Verortung dieser „Standby“ -Zielgruppe: Die jungen Erwachsenen können mit den abstrakten Versprechen gesellschaftlicher Integration und Teilhabe durch eine berufliche Ausbildung wenig anfangen. Kurzfristige Bewältigungsstrategien beispielsweise durch die Aufnahme eines Mini-Jobs haben Vorrang vor dem langfristigen Ziel einer beruflichen Ausbildung. Bislang liegen kaum empirische Untersuchungen zu Vermeidungsstrategien Jugendlicher vor. Berufsbildungspolitisch überwiegt derzeit eine Konzentration auf Übergangszeitpunkte und die „Versorgung“ Jugendlicher mit Ausbildungsplätzen und berufsvorbereitenden Maßnahmen. Gerade in der Adoleszenzphase lohnt es sich allerdings, die Faktoren, die aus Sicht der Jugendlichen gegen Berufe sprechen, stärker in den Blick zu nehmen (Driesel-Lange & Weyland 2020).
3. Ausblick und Fazit
Trotz ihrer unterschiedlichen Akzentsetzung verweisen die Jugendstudien darauf, dass jenseits von schulischen Leistungen die Lebenswelten der Jugendlichen in bezug auf gesellschaftliche Teilhabe, Peer-Groups, Familie, politisches Engagement und Zukunftsperspektiven eine entscheidende Rolle bei der beruflichen Orientierung Jugendlicher spielen. Mit den hier in Kürze dargestellten Ergebnisse aktueller Jugendstudien wird dafür plädiert, die Berufsorientierung stärker als bislang nicht nur an der Kategorie „Beruf“ auszurichten (Benner et al. 2024), sondern an den Lebenswelten und damit verbunden den sozialen Räumen der Jugendlichen, denn: „Es scheint an der Zeit, sich von überholten Ansichten von der Lehre und den Jugendlichen sowie der Berufsorientierung zu verabschieden, um einen Zugang zur „Jugend von heute“ zu bekommen. Ein genauerer Blick auf die Alltagswelt der Jugendlichen könnte dabei helfen, da die Jugend nur selten die Ausbildung sucht“ (Schier 2023, 24, Hervorh.i.O.). Mit dem Lebensweltbegriff ist gleichzeitig der Anspruch verknüpft, nicht-kognitive Aspekte wie Motivation und lebensweltliche Handlungsmuster stärker in die schulische Berufsorientierung zu integrieren. Nach wie vor ist der Fixpunkt vieler Berufsorientierungsangebote der gegebene regionale Arbeits- und Ausbildungsmarkt, der neben den Passungsproblemen die Eckdaten für die berufliche Orientierung vorgibt und damit die individuellen Wünsche der Jugendlichen kanalisiert und die jeweiligen sozialen Bedingungen und Möglichkeiten jugendlicher Lebensrealitäten vernachlässigt (Büchter/Christe 2014, 13).
[1] Die Simus-Studie befragt 14 – 17jährige Jugendliche und bleibt hier unberücksichtigt. Zum Zusammenhang zwischen den Sinus-Milieus und Berufswahlprozessen vgl. Calmbach & Schleer2023.
Literatur:
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Benner, I. et al. (2024). Schulische Berufsorientierung in der Krise (S. 165-186). In Bock, K. et al. (Hrsg.), Pädagogische Institutionen des Jugendalters in der Krise, Wiesbaden
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Hellwagner, T. et al. (2025). Obwohl Fachkräfte fehlen, haben immer mehr junge Menschen keine Ausbildung, In IAB-Forum 24. April 2025, www.iab-forum.de/obwohl-fachkraefte-fehlen-haben-immer-mehr-junge-menschen-keine-ausbildung/
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