Werte in der Demokratiebildung

Ein Kompass für einen komplexen Bildungsauftrag der politischen Bildung

Dr. phil.habil Bernd Overwien (Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung)

Demokratiebildung und politische Bildung initiieren Bildungsprozesse zwischen Individuum und Gesellschaft. Demokratiebildung ist dabei weiter gefasst als politische Bildung. Zwar wird in den Schulgesetzen der Länder politische Bildung als Grundprinzip schulischer Bildung angesprochen, das für alle Fächer gilt. Wohl auch, weil dieses Prinzip allzu oft in Vergessenheit gerät, umfasst neuerdings der Begriff Demokratiebildung neben der politischen Bildung auch Felder der Demokratiepädagogik. Dazu gehören auch Querschnittsthemen wie etwa das Globale Lernen, die Bildung für nachhaltige Entwicklung, die rassismuskritische und Menschenrechtsbildung oder die Medien- und digitale Bildung (vgl. Achour/Wagner 2019, S. 26f.). In der Ausbildung von Lehrkräften sind zusammenhängende Vorbereitungen darauf seit den Bologna-Reformen allerdings eher dem Zufall überlassen, und auch die Fort- und Weiterbildung in diesen Feldern ist eher dünn (vgl. Lange 2019, S. 11, Albrecht; Huttel 2020).

Dabei geht es hier als Teil gesellschaftlicher Allgemeinbildung um wichtige politische, soziale, wirtschaftliche und auch kulturelle Zusammenhänge. Thematisiert werden Fragen eines ethisch-moralischen Urteils genauso, wie es um Fähigkeiten des politischen Handelns geht (DVPB 2014). Demokratiebildung und politische Bildung tragen zur Herausbildung entsprechenden Wissens und Könnens bei.

Auch außerschulische Bildungsaktivitäten spielen eine zuweilen unterschätzte Rolle innerhalb eines Bildungsansatzes, der zumeist einem kritischen Bildungsverständnis folgt. Mit dem Begriff der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung ist ein weites Feld angesprochen, innerhalb einer sehr diversen Trägerlandschaft, mit großer Pluralität. Vielleicht wurde deswegen hier der Beutelsbacher Konsens erst seit Mitte der neunziger Jahre diskutiert (Widmaier 2011, S. 143). So sind die Träger i.d.R. eine Art „Tendenzbetriebe“ mit je unterschiedlichem Wertehintergrund. Von einer Parteistiftung und einem gewerkschaftlichen Bildungswerk wird man – so Schiele (2016a, S. 74) – nicht erwarten dürfen, dass hier politische Bildung à la Beutelsbach laufe. Solange die Transparenz gewährleistet sei, sei dies auch in Ordnung. Auf der anderen Seite kann es auch hier – vor dem Hintergrund einer je eigenen Philosophie – nicht schwer sein, sich an das Überwältigungsverbot zu halten, Kontroversität zu praktizieren und dabei die Transparenz hinsichtlich eigener Positionen des Trägers zu wahren und die Perspektive der Teilnehmenden einzubeziehen.

Der in der politischen Bildung relevante Bildungsbegriff hat seine Wurzeln in der europäischen Aufklärung und folgt dem Ziel einer möglichst weitgehenden Mündigkeit.[1] Es handelt sich hier also um einen Beitrag zur Allgemeinbildung, indem es den Lernenden im besten Fall ermöglicht wird, an ihrer „Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit“ zu arbeiten (Klafki 2005, S.2).

Negt begründet politische Bildung über die Notwendigkeit, Demokratie in ihren Prinzipien und Verhaltensmodi zu erlernen:  „Ich glaube, dass Bildung unter unseren Verhältnissen deshalb eine existenzielle Notwendigkeit hat, weil Demokratie die einzige Staatsform ist, die gelernt werden muss“ (Negt 2004, S. 197). Auch in diesem Sinne liefern politische Bildung und Demokratiebildung Beiträge zur Selbstbefreiung mit dem Ziel größtmöglicher Mündigkeit und Emanzipation, die nicht nur die individuelle Entwicklung im Blick hat, sondern sie einbindet in emanzipatorische und solidarische Zielvorstellungen. Damit verbinden sich grundlegende ethische Fragen und Wertefragen. Diese können heutzutage nur im globalen Kontext diskutiert werden; das zeigt nicht erst die Zuspitzung bei den Fluchtbewegungen oder der Klimakrise, hinter denen stets Ursachen stecken, an denen auch unsere Gesellschaft beteiligt ist. Wenn es um Mündigkeit geht, müssen immer auch Strukturen und Zwänge der Menschen im Blick sein, in die sie eingebunden sind und die diese auch hindern, Zugänge zu politischen Feldern zu finden (vgl. Eis 2013, S. 74f.). Politische Mündigkeit darf nicht verengt werden – zugespitzt ausgedrückt – auf eine in Herrschaftsstrukturen eingebundene kontrollierte Selbstoptimierung. Emanzipatorisch ist politische Bildung dann, wenn es die angedeuteten Strukturen mit thematisiert, so subtil und komplex sie auch sein mögen. Politische Bildung in diesem Sinne soll idealerweise, und in verschiedenen Feldern mehr oder weniger leicht umsetzbar, bei der Entwicklung der Fähigkeit helfen, in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu denken.

Henkenborg (2013, S. 111) fügt eine weitere Perspektive hinzu. Anschließend an Adorno geht er davon aus, dass das Individuum sich vollständig erst in einer gerechten, menschlichen Gesellschaft finde. Auf dem Weg dorthin bedürfe es der politischen Bildung als Ort kritischer Gegenöffentlichkeit, verbunden mit Gesellschaftskritik und einem Denken in Dimensionen von Gesellschaftsveränderung. Diese Perspektive sei in der schulischen Politikdidaktik heute „weitgehend verschwunden“. Auch ein Zusammendenken verschiedener Linien innerhalb von Demokratiebildung könnte hier für neue Impulse sorgen. In der außerschulischen politischen Bildung ist ein gesellschaftskritisches Selbstbild präsenter, vor allem in der Jugendbildung. In der Erwachsenenbildung hat eine Verbreitung ökonomisierender Positionen für Rückschritte gesorgt, dennoch sind auch hier emanzipatorische Ansätze deutlich zu erkennen (vgl. Hufer u.a. 2013).

Werte in der politischen Bildung und Demokratiebildung und der Umgang damit

Politische Bildung in Deutschland ist grundsätzlich normativ und bezieht sich gleichzeitig seit vielen Jahren auf die Werte der Verfassung und das Konzept der Menschenrechte (vgl. Oberle 2017, S. 119f.). Das gilt natürlich auch für Demokratiebildung insgesamt. Dennoch zeigen zumindest vergangene Diskurse der politischen Bildung eine skeptische Haltung gegenüber einer „Werteerziehung“ [2]. Schon die Bestimmung eines Wertekanons sei schwierig. Zudem richte sich eine affirmative „Werteerziehung“ auch gegen eine kritische und aufklärerische politische Bildung. Dennoch geht es freilich um Wertefragen; der Umgang mit diesen sollte jedoch insofern ein zurückhaltender sein, als Werte nicht in überwältigender Weise übergestülpt werden sollen, sondern beispielsweise aus Kontroversen heraus entwickelt werden (vgl. Sander 2000, S. 184ff.).

Die Ziele politischer Bildung sind eng mit Kompetenzen für Partizipation, mit der Fähigkeit zur Urteilsbildung und schließlich mit politischen Handlungskompetenzen verbunden. Eine eher paternalistische „Werteerziehung“ würde das Erreichen dieser Ziele konterkarieren. Werte und ethische Fragen stehen eben auch in der Diskussion, damit ein Horizont für begründete Urteile und im besten Fall auch für politisches Handeln entsteht (vgl. Lohmann 2000, S. 214f.). Die Aneignung von Werten und eines ethischen Urteils- und Handlungshorizontes erfolgt eher indirekt, u.a. durch historische Reflexion und eine kritische Erarbeitung derselben, etwa anhand gesellschaftlicher Konfliktsituationen. Hier lassen sich beispielsweise globale Fragen und Nachhaltigkeitsfragen als Grundsatzfragen menschlichen Zusammenlebens einbringen. Weltweite Fluchtbewegungen und ihre Ursachen, die Bewältigung der Klimakrise und auch nachhaltige Entwicklung als Ganzes enthalten eine große Zahl von Konflikten, die der Diskussion zugänglich gemacht werden können und Lernanlässe bieten (vgl. Overwien 2017, 2019).

Dieses Verständnis von politischer Bildung wird neuerdings massiv angegriffen. Rechtspopulisten behaupten, „das Volk“ zu vertreten und wenden sich gegen Grundprinzipien der Demokratie, wie das des kontroversen Umgangs mit politischen Problemen. Einer differenzierten Auseinandersetzung werden Behauptungen entgegengestellt. Durch Denunziationen werden Lehrkräfte verunsichert. In bewusst falscher Interpretation des Beutelsbacher Konsenses wird von Lehrkräften verlangt, sie hätten „neutral“ zu sein. In der außerschulischen politischen Bildung wird eine „Neutralitätspflicht“ des Staates angemahnt, die öffentliche Finanzierung von Projekten der Demokratiebildung wird harsch kritisiert, und in die Landesparlamente werden Initiativen gegen solche Projekte eingebracht (vgl. Rosbach 2018). Dabei ist aus juristischer Perspektive klar, es „[…] dürfen Offenheit und Pluralität der politischen Auseinandersetzung [aber] nicht durch falsch verstandene Neutralität und starre Gleichheitsvorstellungen gefährdet werden.“ (Hufen 2018, S. 221).

Aus verfassungsrechtlichem Blickwinkel dürfen Träger der politischen Bildung in ihrer Arbeit nicht durch staatliches Handeln beschränkt werden, solange keine verfassungsfeindlichen Ziele verfolgt werden: „Privaten Trägern kommen selbst Grundrechte zu, die nicht durch überzogene Neutralitätsanforderungen beeinträchtigt werden dürfen. Schon gar nicht dürfen sie bei Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu politischer „Selbstkasteiung“  und zum Maulkorb im Umgang mit extremistischen Gruppen und Parteien werden.“ (Hufen 2018, S. 221). Deutlich wird hier unterschieden zwischen staatlichem Handeln, für das es, insbesondere mit Blick auf die Parteienfreiheit, ein Neutralitätsgebot gebe, dies gelte aber ausdrücklich nicht für Träger der politischen Bildung, die sich in einem breiten, pluralistisch aufgebauten Feld bewegen. Wenn staatliche Stellen Mittel verweigern, weil Träger sich kritisch zur AFD äußern, sei dies rechtlich falsch (Hufen 2018, S. 216).

Beutelsbacher Konsens als Grundlage

In Schule wie auch außerschulischer Bildung ist der Beutelsbacher Konsens heute weitestgehend anerkannt. Der Konsens entstand in den siebziger Jahren, zu Zeiten erheblicher politischer Auseinandersetzungen über die Ziele und Wege politischer Bildung. Er ist seitdem ein nur wenig kritisierter Grundbestand des professionellen Selbstverständnisses der politischen Bildung. Wehling (1977, hier: 2016, S. 24) formulierte als Ergebnis einer Tagung drei Grundprinzipien für die politische Bildung, die seitdem als „Beutelsbacher Konsens“ bekannt sind:

  • Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, die Schüler/innen – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern.
  • Kontroversitätsgebot: Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
  • Schülerorientierung: Die Schüler/innen müssen in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und ihre eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen.

Der Beutelsbacher Konsens regelt also grundsätzliche Herangehensweisen an politische Bildung und Demokratiebildung, ist aber kein Neutralitätsgebot. Lehrerinnen und Lehrer dürfen und sollen eigene politische Positionen haben. Schiele (2016b) sieht hier einige Missverständnisse. Zwar müsse die Lehrkraft bei Diskussionen eine flexible Rolle und Positionen bzw. Argumentationsmuster einnehmen, die in der Lerngruppe nicht oder nur schwach vertreten seien, auch wenn diese nicht ihrer persönlichen Überzeugung entsprächen. Wenn die Diskussion zu schnell auf einen Konsens zusteuere, sei es Aufgabe der Lehrkräfte, einen Dissens herbeizuführen und die Diskussion so zu beleben. Damit sollen möglichst viele kontroverse Positionen in Hinblick auf das jeweilige Thema in die Diskussion kommen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Lehrkräfte ihre persönliche politische Meinung nicht äußern dürfen. Die Lernenden seien im Gegenteil explizit an der Meinung ihrer Lehrkraft zum Thema interessiert. Im schulischen Kontext müssen Lehrkräfte allerdings immer darauf achten, dass bei den Schülern/innen nicht der Eindruck entstehe, die Meinung der Lehrkraft hätte bei künftigen Meinungsäußerungen ein höheres Gewicht als ihre eigenen Positionen. Eine professionell auf hohem Niveau arbeitende Lehrkraft begrüße ausdrücklich ein diverses Meinungsbild (vgl. auch Mittnik u.a. 2018, S. 24).

Eine strikte Neutralität der Lehrperson könnte sogar ein völlig falsches Signal an Lernende senden. Frank Nonnenmacher (2011, S. 91) hält „dieses Rollenvorbild, das von einer solchen Lehrperson gegeben wird, für höchst fatal. Es fördert die Tugend der Meinungslosigkeit, des Sich-Heraushaltens, des Nicht-Flagge-Zeigens.“ Vielmehr können Lernende in der Lehrkraft insofern ein Vorbild wahrnehmen, als dass sie eine politisch interessierte, mitunter sogar aktive Person sehen, die sich mit dem Thema auseinandersetzt und aus den zur Verfügung stehenden Informationen eine individuelle Meinung entwickelt hat. An Rollenvorbildern können sich junge Menschen ja auch abarbeiten.

Jahrelang etwas ausgeblendet blieb die Frage, wie es denn um Grenzen der Kontroversität bestellt sei, und lange hat kaum jemand darüber gesprochen, dass ja das Grundgesetz und die Menschenrechte als normativer Hintergrund des Beutelsbacher Konsenses gesehen werden müssen. Möglicherweise galt dies als selbstverständlich. So hatte Sander (1995, S. 217) schon in den neunziger Jahren darauf verwiesen, dass sich politische Bildung als Teil einer demokratischen politischen Kultur verstehe. Henkenborg (2016, S. 190) nimmt diesen Impuls auf und macht deutlich, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Veranstaltungen der politischen Bildung „Funktion, Inhalt und Wert der Demokratie aus eigener Einsicht und aus eigenem Erleben…“ erkennen und unterstützen lernen sollen. Er weist darauf hin, dass hier natürlich auch kritische Sichtweisen notwendigerweise eine Rolle spielen. Eine Verächtlichmachung von Demokratie gehöre allerdings nicht dazu. Grammes (2014, S. 267) betont, dass das Kontroversitätsgebot keineswegs wertneutral oder relativistisch sei, sondern in einer normativen Pluralismustheorie begründet werde. Es gehört zur Professionalität im Lehrberuf, erfordert aber einen hohen Grad an Reflexivität.

Schwierig wird es mit der Kontroversität bei populistischen Positionen, die Berührungspunkte oder sogar deutliche Überschneidungen mit extremistischen Standpunkten haben. Hier kann es in Schule und außerschulischer Bildung keine verbindlichen Handlungsanweisungen geben (Schiele 2016a, S.72). Klar muss aber sein, dass normativ klare Grenzen aufgezeigt werden. Das Menschenrechtsprinzip, wie es im Grundgesetz zum Ausdruck kommt, ist nicht hintergehbar. Rechtspopulisten bauen Brücken in den Rechtsextremismus hinein (Heinrich 2016, S. 180). Dies darf und muss in Bildungsveranstaltungen diskutierbar sein. „Angesichts des erstarkenden Rechtspopulismus und zunehmend schwieriger werdender Entschlüsselung extremistischer Akteure und Positionen muss sich politische Bildung im Sinne einer Präventionsarbeit mutig den gesellschaftlichen Kontroversen stellen…“ (Heinrich 2016, S. 180).

Immer wieder kommt es zu Fehlinterpretationen des Beutelsbacher Konsenses, wenn es um normative und handlungsorientierte Bildungskonzepte, wie beispielsweise Bildung für nachhaltige Entwicklung oder Globales Lernen geht. Die Zielvorstellungen nachhaltiger Entwicklung können ja durchaus als Konkretisierung des Artikels 20a[3] des Grundgesetzes gesehen werden. Sie lösen aber teils mit Blick auf den Beutelsbacher Konsens Befremden aus. Möglicherweise stehen Vorurteile im Hintergrund, es würden hier mit Katastrophenszenarien Ängste erzeugt. Bildungs- und Kompetenzziele, die im Bereich von Emotionen, Werten und Ethik verortet sind, verstärkten diesen Eindruck oft, und in den neunziger Jahren mag eine entsprechende Praxis auch hier und da zu beobachten gewesen sein (vgl. Overwien 2019, 2017). Umwelt- und Entwicklungsfragen, aber auch viele andere Aspekte politischer Bildung, sind in der professionellen Handhabung von Gefühlslagen eine berufliche Herausforderung. Erst eine Enttabuisierung emotionaler Dimensionen politischer Diskurse ermöglicht aber einen rationalen Umgang damit.

Anzumerken ist im Übrigen auch, dass der dritte Aspekt des Beutelsbacher Konsenses, der eine Schüler/innen- bzw. Teilnehmendenorientierung fordert, viel zu häufig vernachlässigt wird (vgl. Widmaier 2013). Hier muss es um eine Kurskorrektur gehen, die sich wie folgt konturieren lässt: „Die Forderungen aus dem dritten Satz des Beutelsbacher Konsens sind in der politischen Bildung bis heute nicht eingelöst: Dort heißt es nicht nur, dass Schüler/innen lernen sollen, ihre eigenen Interessen zu analysieren und die politische Lage entsprechend zu beeinflussen, sondern auch, dass dabei ‚in sehr starkem Maße operationale Fähigkeiten‘ einzuschließen sind.” (Widmaier 2013, S. 48f.)

Politische Bildung und politisches Handeln

Mit Überwältigungsverbot und Kontroversität wird es immer dann schwieriger, wenn es um eine Nähe zum politischen Handeln geht. Innerhalb der Politikdidaktik, die sich bekanntlich weitgehend mit schulischem politischem Lernen beschäftigt, gibt es Kontroversen zur Umsetzung des Zieles einer politischen Handlungsfähigkeit. So sehen Vertreter/-innen eines eher kognitiv geprägten Kompetenzverständnisses die Möglichkeiten politischen Handelns in der Schule als sehr begrenzt an. Dies sei hier nur durch Simulation und Kommunikation darstellbar. Schulische politische Bildung könne „bestenfalls“ auf politisches Handeln vorbereiten (Detjen u.a. 2012, S. 15, 66). Zwar wird Handlungsorientierung als etabliertes didaktisches Prinzip gesehen. Detjen u.a. (2012) drücken sich aber um die Frage herum, ob etwa das Schreiben eines Leserbriefes oder ein Brief an den Bürgermeister politisches Handeln im Politikunterricht sei. Hier sehen sie allenfalls eine Vorwegnahme politischen Handelns und ein Probehandeln. Partizipationskompetenz liegt nach diesem Konzept eher außerhalb des politischen Unterrichts, der damit auch von Demokratiebildung insgesamt abgegrenzt wird (Detjen u.a. 2012, S. 89ff). Obwohl ein seit Beginn der 2000er Jahre schwelender Konflikt zwischen zumeist erziehungswissenschaftlichen Vertreter/innen einer Demokratiepädagogik und solchen der Politikdidaktik inzwischen keine größere Bedeutung mehr hat,  scheint er auf, wenn sich Autor/innen der Politikdidaktik wie Detjen u.a. für unzuständig hinsichtlich der politischen Lernfelder innerhalb der Schule (Schülermitverantwortung, Klassenrat etc.) erklären.

Reinhardt hingegen identifiziert innerhalb der Institution Schule politische Aktionsfelder und Räume realen Handelns. Politische Bildung müsse politisches Handeln betreffen, Bürgeraktivität beschränke sich sonst auf Reflexion. Lehrkräfte seien nicht neutral und sollten sich auch nicht so gerieren. Dies mache sie eher unglaubwürdig, da sie sich andernfalls für unfähig zu einer politischen Stellungnahme erklärten. Die politische Aktion aus dem Unterricht heraus könne aber problematisch sein, so Reinhardt weiter, weil sowohl die Haltung der Lehrkraft, als auch die Gruppendynamik einer Lerngruppe Überwältigungspotenzial habe (Reinhardt 2017).

Die Erfahrung mit Projekten der Demokratiebildung – oft im Zusammenspiel von schulischer und außerschulischer Bildung –, die auf das grundsätzliche Ziel politischer Mündigkeit zielen, zeigt, dass diese ohne Partizipation kaum auskommen (vgl. Kenner 2018). Gerade auch der kommunale Kontext zeige, dass bei Schüler/innen Selbstwirksamkeitserfahrungen angestoßen werden können, wenn sie sich aktiv einbringen (Wohnig 2018).

Aussichten

Angesichts aktueller Angriffe auf politische Bildung und Demokratiebildung müssen sich deren Akteur*innen verstärkt mit ihrem Auftrag und den einschlägigen Regeln auseinandersetzen (vgl. Mittnik u.a. 2018). Es geht nicht um ein Zurückweichen, sondern um eine bewusste, starke und möglichst offensive Verteidigung demokratischer Werte. Dabei stehen nach wie vor eine wissenschaftlich gestützte Rationalität und eine offene Problemabwägung den angedeuteten Mythen und der Propaganda entgegen, die zum Wesen autoritärer Herrschaft gehören (vgl. Hafeneger 2017, S.51). Gleichzeitig müssen sich politische Bildung und auch Demokratiebildung stärker als bisher mit den durch Politik ausgelösten Gefühlslagen beschäftigen. Dabei geht es um Ohnmacht, Angst, Wut und Verzweiflung, um Hass und Neid. Es geht aber auch um Hoffnung, Solidarität oder die Fähigkeit zur Empathie (vgl. Besand u.a. 2019).

[1] Wenn hier von der Periode der Aufklärung die Rede ist, muss allerdings auch deren Begrenztheit erwähnt werden, etwa ihr Eurozentrismus, die Rechtfertigungen von Kolonialismus, Sexismus usw.

[2] Die letzte einschlägige Publikation ist 15 Jahre alt und enthält weder umweltethische noch globale, noch Nachhaltigkeitsaspekte (Breit/Schiele 2000).

[3] GG Art. 20a: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen…“

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Autor

  • Bernd Overwien, Dr. phil.habil, war bis Ende September 2019 Hochschullehrer für politische Bildung an der Universität Kassel und ist bis heute Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung. Nach seiner Pensionierung lehrt, forscht, publiziert und berät er weiterhin zu den Themenfeldern Bildung für nachhaltige Entwicklung/Globales Lernen und zur Kooperation von schulischer und außerschulischer Bildung.

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