Dr. rer. pol. Axel Bolder (ehem. Mitglied im Wissenschaftlichen Beratungskreis von ver.di und IG Metall)
Lernwiderstände, zumal Erwachsener, sind nicht vornehmlich ein individuell-psychologisches, „mentales“ Problem, das, dem entsprechend, psychologisch-pädagogisch zu therapieren wäre. Sie haben ihre Ursache in aller Regel im gesellschaftlichen „Bedarf“ an Hierarchie. Bildungssegmentation ist sozial hergestellt, Exklusion und Autoexklusion werden milieutypisch über Generationen hinweg aufgebaut. Nur eine Bildungslandschaft, die die sozialen Rahmungen von Grund auf berücksichtigt, kann wirklich subjektorientierten Support bereitstellen, der Lernwiderstand seinen subjektiven Sinn nehmen würde.*
Ausgangssituation
In den einschlägigen bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Debatten, Initiativen, Zukunftsszenarien, aber auch in weiten Teilen des erwachsenenpädagogischen Diskurses gilt praktisch seit jeher und seit den Neunzigerjahren im Kontext des Deregulierungsparadigmas ganz besonders fehlender individueller Leistungs- und Lernwille als Ursache für Bildungsbeteiligungsquoten, die als zu niedrig gelten für das Ziel der Etablierung einer Wissensgesellschaft; d.h. einer Gesellschaft, die über den Weg des individuellen lebenslangen Lernens hergestelltes Wissen und sein Management durch die Institutionen seiner ökonomischen Nutzung (die Betriebe) als zentrale Quelle ihres Überlebens auf globalisierten Märkten ansieht. Der Kompetenzentwicklungsdiskurs (z.B. Erpenbeck/Heyse 1999) und der „Hartz“-Gesetzgebungsprozess stehen hierfür symptomatisch. Sie verlagern die Verantwortung für die Bildungsprozesse mehr oder weniger ausschließlich in die Sphäre der Einzelnen; gefördert wird allenfalls, wer sich fordern lässt, wer die Handlungs-, in unserem Fall: die Bildungsanforderungen, erfüllt und als bereit gilt, neu-, hinzu-, umzulernen. Pädagogische Anstrengungen zielen darauf ab, da umlenkend oder „ermöglichend“ einzugreifen, wo diese Bereitschaft, mittels mehr oder weniger elaborierter psychologischer Diagnostik attestiert, aufgrund individueller Motivationsbarrieren offenbar nicht gegeben ist oder wesentliche Mängel aufweist: wo eben Lernwiderstände ausgemacht werden.
Das Ziel als gesetzt gegeben, bleibt zunächst einmal festzuhalten, dass, seit das Deregulierungsparadigma auch in der deutschen bildungspolitischen Alltagspraxis Fuß gefasst hat, gerade in jenen Bevölkerungssegmenten, die als Zielpopulation einschlägiger bildungspolitischer Aktion gelten,1 die Teilnahmequoten nicht etwa gestiegen, sondern im Gegenteil wieder kontinuierlich gefallen sind (Bolder 2006). Festzuhalten bleibt andersherum, dass die an die Erwerbssituation gebundene Segmentierung insbesondere des beruflichen Weiterbildungssystems keineswegs abgenommen, sondern sich im Laufe der Zeit sogar noch verstärkt hat. Dabei geschieht kumulative Ausgrenzung nach immer dem gleichen Schema: Weniger gut Ausgebildeten stehen weniger gute Arbeitsplätze innerhalb der Hierarchie der Erwerbsarbeit offen – und je weiter „unten“ die Position in der Erwerbsarbeitshierarchie, desto geringer sind die Chancen der Teilhabe an weiterem Lernen.2 Der Teilnahmeforschung seit Jahrzehnten bekannt (z.B. Weltz u.a. 1973; Noll 1985; vgl. a. Bolder/Hendrich 2000), steht sie heute felsenfester denn je.
Klassiker kumulativer Ausgrenzung: Fakten aus der objektiven Welt der Teilnahmesegmentierung
Selbstverständlich ist es letzten Endes immer der Einzelne, der Destinatar der gesamtgesellschaftlichen, über Politik vermittelten Handlungsanforderungen, der die (Weiter-)
Bildungsanstrengungen zu leisten hat, sich entweder lernbereit zeigt oder sich diesen Anstrengungen entzieht. Dennoch bleiben aber, statt wesentliche ihrer Faktoren systematisch auszublenden, zunächst die Verursachungszusammenhänge zu erinnern, die zu Lernwiderständen führen – und sie der einfachen motivationsorientierten Bearbeitung weitgehend entziehen: die Bedingungen in der sozialen Welt, in die individuelles Lernen und seine Verweigerung eingebettet sind. Mobilisierungskampagnen, die, statt Support-Strukturen aufzubauen, mehr oder weniger unvermittelt auf die Selbst-Verantwortung der Einzelnen verweisen, wird gerade in den Segmenten, in denen Qualifizierungsdefizite oder noch ungenutzte Manpower-Reserven ausgemacht werden, kein Erfolg beschieden sein; ohne gestalterische Bearbeitung der systemischen Bedingungsfaktoren werden alle noch so wohlgemeinten Bemühungen, die Teilnahmequoten zu erhöhen oder die Motivationsstrukturen der Einzelnen „positiv“ zu bearbeiten, bestenfalls Stückwerk bleiben.
Woher also kommen die Lernwiderstände?
Exklusion und Autoexklusion: Zum Wechselspiel zwischen objektiver und subjektiver Welt
Wenn über die Genese von Lernwiderständen nachgedacht wird, darf eben nicht aus den Augen verloren werden, dass ein Großteil der Nicht-Beteiligungsquoten systemisch-systematischer Natur ist, mit subjektiven Beweggründen also zunächst einmal nichts zu tun hat. Vielmehr handelt es sich dabei um erwerbsgesellschaftliche Exklusionsprozesse, die die Bildungsteilhabe-Chancen zu einem sozial differenziell knappen Gut werden lassen. Subjektive Lernmotivation, die Bereitschaft, nach oft mühsamen Schul- und Berufsausbildungsjahren weiteren Bildungsveranstaltungen offen entgegenzusehen, oder deren Kehrseite kommen nicht von ungefähr, aus einem isolierten Raum individueller Dispositionen und Attitüden. Sie sind nicht vornehmlich Resultanten individueller psychischer, womöglich gar subjektiv-defizitärer Strukturen. Sie entstehen, werden gefördert, ausgebaut und ausgerichtet in einer Umwelt, die den Einzelnen zunächst einmal vor-gegeben ist, ihnen Opportunitäten, Gelegenheitsstrukturen, eröffnet oder verweigert, welche sozial vermittelt, nicht individuell erworben sind.3 Diese Gelegenheitsstrukturen, gilt es zu erinnern, bevor über Motivationen geredet wird, schließen die Einzelnen tendenziell ein oder aus, erweitern oder begrenzen objektiv ihre Lernchancen.
Einen charakteristischen Beleg hierfür und für die alltägliche Schizophrenie bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Ansätze im Feld lieferte das im Zuge der Hartz-Gesetzgebung als modernes, effizienzorientiertes beschäftigungspolitisches Instrument eher versteckt eingeführte „Profiling“ in den Arbeitsagenturen. Von hierzu nicht annähernd ausreichend ausgebildeten Sachbearbeitern wurden Arbeitsuchende während kurzer Vermittlungsgespräche verdeckt in Kategorien gegebener, begrenzter oder nicht gegebener Vermittelbarkeit eingeordnet (vgl. Rudolph 2004; Pensé 2004). Letztere – und das waren in der Regel die Träger von exkludenten Segmentierungsmerkmalen – waren, betriebswirtschaftlich und ausgabenpolitisch auf den ersten Blick stimmig und konsequent, von geförderten Weiterbildungsmaßnahmen auszuschließen: Die Investition lohnte sich nicht.4 Sie wurden gar nicht erst in Versuchung geführt, Lernwiderstand zu leisten, stattdessen in die unterste Schublade des sozialen Sicherungssystems abgelegt.
Wie individuell, ureigen, persönlichkeitsbedingt Erscheinungsformen von Lernwiderstand auch anmuten mögen: Sie sind doch samt und sonders gesellschaftlich hergestellt. Soziale Genese heißt aber nicht Determination, sondern meint den interaktiven, kommunikativen Prozess zwischen den Einzelnen einerseits und den ihnen vorgegebenen gesellschaftlichen Makrostrukturen, dem Normensystem mit seinen Verhaltensanweisungen (dem „Fordern“) sowie den Institutionen und Infrastrukturen auf der Mesoebene (der Verfügbarkeit von Angeboten z.B.) und den Mikroprozessen in ihrem Lebenszusammenhang (wie Milieutraditionen, partnerschaftlichen oder familiären Prioritätensetzungen) andererseits. Ihre expliziten oder, z.B. durch Verweigerung und Unterlassen, impliziten Entscheidungen über Verhalten und Handeln in Lernsituationen werden also zum einen durch die objektiven Chancenstrukturen, zum anderen durch die individuellen, sozial und biographisch vorgezeichneten Chancen vorgeprägt, gewiss auch – aber eben nur auch – durch individuelle Dispositionen, wie sie im Kompetenzentwicklungsdiskurs als zentral diskutiert wurden. Bestimmt werden sie aber erst durch Intentionen und Relevanzsetzungen des abwägenden Einzelnen. Es sind diese ganz persönlichen, biographisch strukturierten Relevanzsetzungen,5 die die Einschätzung der „wirklichen“ Erfordernisse der je individuell gegebenen Situation steuern und dem einzelnen Akteur, der über Lernen oder Lernverweigerung zu entscheiden hat, Handlungsbedarf signalisieren – oder eben auch nicht.
Objektive und subjektive Welt als Bestimmungsfaktoren von Teilhabe an Bildung: Exklusion und Autoexklusion
Bei der Entscheidung für oder gegen eine Lernveranstaltung geht es um subjektive Bedeutsamkeiten (vgl. hierzu Faulstich/Ludwig 2004 im Anschluss an Holzkamp), die einer spezifischen subjektiven Rationalität und Logik folgen, die mit der gesellschaftlich, auf der Makroebene herrschenden Rationalität, z.B. des lebenslangen Lernens, nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen sind. Allein sie bestimmen darüber, ob die in Frage stehende Lernanstrengung für den Einzelnen als potenziellen Lerner überhaupt „Sinn macht“.
Die auf individuellen und für den eigenen Lebenszusammenhang relevanten kollektiven Erfahrungen basierende subjektive Situationsdeutung, nicht gesellschaftlich definierte Notwendigkeit führt zu der individuellen über Lernanstrengungen entscheidenden Saldierung ihrer Kosten und ihres erwartbaren Nutzens. Kalkulierter Aufwand und erwarteter Nutzen werden dabei einander gegenübergestellt, gewichtet und zur Entscheidung herangezogen: Nützt eine konkrete Lernanstrengung, stellt sich dem Einzelnen die Frage, mir persönlich? Lohnt sich der Aufwand für mich angesichts der zu erwartenden monetären und nicht-monetären Kosten? Mündet die Saldierung in eine negative Bilanz, dürfte alles andere als Lernverweigerung eigentlich, aus der Perspektive des Einzelnen eben unvernünftig, irrational sein.6
Hinter den z.B. in quantitativ orientierten Umfragen erhobenen Begründungen von Lernwiderstand verbergen sich stets komplexe Motivgemengelagen, Deutungsmuster und individuelle Präferenzen, die den gesellschaftlichen Exklusionsprozess subjektiv verdoppeln: Über die Gelegenheitsstrukturen de facto zunächst einmal ausgeschlossen, schließen sich die typischen Vertreter der hier zur Debatte stehenden Segmente der Erwerbsbevölkerung schließlich selbst aus, verweigern sie aufgrund negativer eigener oder über Deutungsmuster in der Familie, bei Freunden und im Kollegenkreis vermittelter Erfahrungen Lernanstrengungen. In aller Regel, das gilt es zu bedenken, sind solche Entscheidungen durchaus realitätsbezogen, also „richtig“. Und zwar weil Lernanstrengungen auch objektiv dort nichts verändern würden, wo Veränderungsbedarf subjektiv als gegeben angesehen wird: bei den Arbeitsbedingungen, bei Aufstiegschancen und Verdienstmöglichkeiten.
Dass dieses subjektiv rationale Widerstandshandeln beim zweiten, gewissermaßen „objektiven“ Hinsehen, und zwar durchaus auch im Sinne der eigenen Interessen der Lernverweigerer, unsinnig, „objektiv“ irrational sein kann, steht dann wieder auf einem anderen Blatt. Politisches Handeln und dessen Inzidenz in der sozialen Wirklichkeit der Zeit seit den Requalifizierungsmaßnahmen nach der Wiedervereinigung (Beispiel: massenhafte Umschulungen zur Floristin) und der Reform der Sozialgesetze (Beispiel: erfahrene Fachkräfte, sogar aus Personalabteilungen, denen die ARGEs Bewerbungstrainings auferlegen) lassen dieses Risiko aber als vernachlässigbar erscheinen – was im individuellen und (sub-)kollektiven Gedächtnis auch so zur Kenntnis genommen wird …
Begründungsmuster von Lernverweigerung
Demgegenüber vermitteln dem Erwerbsleben nahestehende Lernverweigerer ein deutliches Bild von den Beweggründen, die gegen das „lebenslange Lernen“ sprechen. Sie lassen sich zwei Begründungsmustern zuordnen: der Erfahrung und Antizipation von Sinnlosigkeit einerseits und andererseits übermäßiger Belastung, die sich ihrerseits unter die Leitidee einer grundsätzlichen Sicherungsrationalität subsumieren lassen (s. im Einzelnen Bolder/Hendrich 2000). Wenn keine substanzielle Verbesserung oder wenigstens Sicherung des Arbeitslebens erwartet werden kann und wenn die Belastungen, die mit dem Lernprozess voraussichtlich einhergehen, als zu groß empfunden werden, lohnt sich der zu leistende Aufwand nicht. Dann lohnt es sich nicht, andere, subjektiv vorrangige Bedürfnisse hintanstehen zu lassen. Lernen, das umso schwerer fällt, je weiter es von diesen primären Bedürfnissen entfernt ist, wird dann sinnlos.
Andersherum ist nur dann Sinn gegeben, wenn Lernen sich in die individuelle Lebenssituation einfügt. Neben Vermeidungsängsten und Skepsis hinsichtlich der erwerbsbiographischen Verwertbarkeit des Bildungsangebots werden von den Lernwiderständlern auch Lebenssituationen thematisiert, in denen die Lernzeiten den Arbeitsplatz oder das Fortkommen im Beruf gefährden könnten – wenn beispielsweise der Arbeitgeber vollen Einsatz in Überstunden erwartet. Schließlich drängen sich außerhalb der Arbeit liegende Präferenzen der individuellen Nutzung von Lebenszeit in den Vordergrund. Solche Zeitverwendungskonkurrenzen in Bezug auf die Erfordernisse des ausgeübten Berufs oder möglicherweise entgehende oder gefährdete soziale und emotionale Beziehungen in der Lebenswelt gewinnen bei der Abwägung von Kosten und Nutzen erhebliches Gewicht. Sie wiegen nachvollziehbarerweise umso schwerer, je weniger der Nutzen einer vielleicht anstehenden Lerneinheit antizipiert werden kann. Der steht, eigentlich selbstverständlich, nicht zuletzt dann in Frage, wenn deren Thematik nicht anschlussfähig ist an die eigene Lern- und Arbeitsbiographie,7 oder die didaktische Qualität, vermittelt über umweltlichen Erfahrungsaustausch, zweifelhaft erscheint oder wenn Maßnahmen „aufgedrückt“ werden, deren Sinn, wie bei dem oben zitierten Beispiel aus der Praxis der Hartz-Welt, auch „objektiv“, im Außenraum, kaum nachvollziehbar scheint – womit die „Legitimität“ des Lernwiderstandes nur positiv verstärkt würde. Und dies selbstverständlich umso mehr, je mehr eigene negative Erfahrungen schon vorliegen.
Rationalitäten der subjektiven Welt
Überlegungen zu Möglichkeiten der Überwindung von Lernwiderständen
Dies vorweg: Es gibt keine einfachen Rezepte, Lernwiderstände umzulenken oder gar zu brechen, die auch nur annähernd Aussicht auf Erfolg böten. Wir wissen aber mittlerweile, dass lediglich auf der Mikroebene, z.B. des alltäglichen curricularen Geschehens, ansetzendes Handeln vielleicht in mehr oder weniger vielen Einzelfällen Exklusion oder Autoexklusion verhindern kann. Selbstverständlich gibt es differenzielle Erfolge guter gegenüber schwachen Pädagogen und guter gegenüber schlecht aufgestellten Institutionen des Lernens – und daraus folgend mehr oder weniger Freude am Lernen und weniger oder mehr Widerstand dagegen. Einzelerfolge werden aber das strukturelle Problem nicht lösen können. Das ist auf der Makroebene, gesellschaftspolitisch, zu bearbeiten.
Das Ziel einer Gesellschaft, deren strategischer Produktionsfaktor Wissen ist, gesetzt, bedarf es, darüber besteht in den Diskursen auf der Makroebene jedenfalls kein manifester Dissens, der schon zu Anfang der Sechzigerjahre für unverzichtbar gehaltenen Ausschöpfung aller, wie man es damals nannte, „Begabungsreserven“. Sie auszuloten und zu mobilisieren war die Triebfeder der auf eine breite gesellschaftliche Basis sich stützenden Bildungsreformen. Reduzierung von Lernverweigerung, der Abbau dessen, was Susanne Grimm (1966) als Bildungsdistanz wahrnahm und im Bereich der (Weiter-)Bildung Erwachsener spätestens seit Tietgens (1964) und Strzelewicz/Schulenberg (Strzelewicz u.a. 1966; Schulenberg u.a. 1978) als Distanzierung von milieufremden Bildungsangeboten der „legitimen“ Kultur verstanden wurde, brächte allerdings – und das war der Grund für das Stehenbleiben der Reformen schon in den Mittsechzigerjahren – den Abbau von Privilegien mit sich, die sich aus der Teilhabe an der „legitimen“, der dominanten und Definitionsmacht vermittelnden Kultur herleiten lassen und, eben, systematisch zur Perpetuierung des Segmentationszirkels beitragen (BMBW 1990; vgl. a. Bolder/Hendrich 2000).
Eine Erfolg versprechende Therapie des Phänomens Lernwiderstand kann nicht erst im Bereich des erwachsenenpädagogischen Handelns beginnen. Wenn der Wirkungsmacht der systemisch vorgegebenen, milieutypisch tradierten (Bremer 2006 a; vgl. Bolder 1978), biographisch sich kumulierenden Exklusionsmechanismen tatsächlich Einhalt geboten werden soll, ist zunächst über die eher latente Funktion nachzudenken, die die zählebige Erhaltung der Segmentation für die Gesellschaft erfüllt:8 Es geht also letztlich um die Antwort auf die ordnungspolitische Gretchenfrage, ob wir weiterhin vornehmlich Hierarchie reproduzieren oder tatsächlich noch nicht erschlossene Leistungsressourcen fördern wollen. Dabei wäre zur Kenntnis zu nehmen, dass die Praxis der Appelle an Selbst-Verantwortung und Selbst-Organisation nichts bewirkt haben und auch das wieder in Mode kommende „Fordern und Fördern“ nichts anderes bewirken wird als die Legitimation von Exklusion, des Ausschlusses aus dem Leistungssystem unter dem makropolitischen Postulat der Reduzierung von Transferleistungen. Auch der vornehmlich im pädagogischen Diskurs diskutierte Weg, „Ermöglichungskulturen“ zu schaffen, wird wenig Wirkung zeigen, solange nicht an den Strukturen angesetzt wird. Wenn es wirklich um die Akkumulation von Manpower geht, geht kein Weg an einer grundsätzlichen Rekonstruktion des Bildungssystems vorbei, die mit den Reformen schon ganz „unten“, im Primarbereich, beginnt und mit dem Tertiärbereich nicht aufhört.9
Ohne dem bleiben erwachsenenpädagogische Bemühungen, Lernwiderstand zu überwinden, Sisyphosarbeit. Denn auch immer neue Appelle an die Bereitschaft, lebenslang zu lernen, wird Menschen, die in restriktiven Situationen leben und meist negative Bildungserfahrungen schon hinter sich haben, nicht davon überzeugen können, dass zusätzliche Lernanstrengungen sinnvoll sein könnten. Tatsächlich mögen sie sich ja im einen oder anderen Fall rentieren; das kompensiert aber nicht die in biographischen Interviews immer wieder erzählte Alltagserfahrung von Nutz- und Sinnlosigkeit.
Widerstand gegen Lernzumutungen kann in einem doppelten Sinne als subjektives Wissensmanagement gelten: zum einen als subjektiv rationaler Umgang mit den eigenen Ressourcen, indem die mit zusätzlichen Lernanstrengungen verbundenen Kosten und Risiken bilanziert werden. Zum anderen aber auch im Sinne alternativer Strategien des Erwerbs, des Nutzens und der Sicherung von Wissen (Bolder/Hendrich 2002). Im Falle der tendenziell Ausgegrenzten sind das zunächst einmal die Systematisierung von Erfahrungswissen und sein Schutz vor dem – die eigenen Qualifikationsressourcen gefährdenden – Zugriff durch ein Wissensmanagement, das genau diesen kleinen individuellen Vorsprung wieder zunichte zu machen droht. Subjektives Wissensmanagement meint dann insbesondere die Selektion von Wissensformen sowie den Einsatz von Lernstrategien danach, ob und inwieweit sie für die eigene Berufs- und Erwerbsbiographie als wirklich nützliches Wissen gelten können.
Dazu bedarf es aber öffentlich hergestellter und garantierter Support-Strukturen, der Akzeptanz öffentlicher Verantwortung für expansives Lernen. Subjektives Wissensmanagement braucht Guidance-Strukturen, die nicht lediglich akzidentiell beraten, sondern die individuellen, durch subjektive Kosten-Nutzen-Bilanzen strukturierten Bildungs- und Erwerbsbiographien der Einzelnen in Gestalt eines erwachsenenpädagogisch-professionell unterstützten Lernprozesses begleiten, der die eigenen Ressourcen bewusst und den selbstbewussten Umgang mit ihnen in der sozialen Welt erfahrbar macht.
Die Diskussion eines solcherart expansiven Lernens, das die Rahmenbedingungen nicht außer Acht lässt,10 ist seit den 2000er Jahren wieder intensiver geworden (vgl. Hendrich 2004; Holzer 2004; Faulstich/Ludwig 2004; Bremer 2006 a, b; Grell 2006; Kaufhold 2009, Klein/Alke 2009).
Endnoten
- Die anderen Segmente bedürfen, schon immer integriert in das System von Bildung und Weiterbildung, der Ansprache nicht; sie sind hier nicht Thema.
- Wenn hier und im Folgenden von „Lernen”, „Lernanstrengungen” usw. die Rede ist, ist immer zusätzliches, über die Akkumulation von Lebens- und Arbeitserfahrung (Erfahrungslernen) hinausgehendes Lernhandeln gemeint.
- Im Bourdieuschen Konzept werden sie im Prozessverlauf dann allerdings inkorporiert, „eingefleischter” Teil des Habitus.
- „Definition Profiling: Die […] Definition, nach der unter Profiling die auf den Bedarf des Arbeitsmarkts bezogene individuelle Chanceneinschätzung eines Arbeitslosen zu verstehen ist, wird erweitert um die Dimensionen Profiling als ergänzendes Instrument der Kundensteuerung und Profiling als ergänzendes Instrument des wirtschaftlichen Einsatzes von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten.“ Die Gesamteinschätzung kategorisiert die Arbeitsuchenden („Kunden“) wie folgt: „Es besteht die Gefahr der Langzeitarbeitslosigkeit: ja nein // Uneingeschränkt vermittelbar, in allen Dimensionen kein oder nur geringer Handlungsbedarf (Marktkunde) / Mit Hilfen zur Beseitigung der Hemmnisse vermittelbar (Beratungskunde Fördern) / Mit Hilfen zur Steigerung von Motivation und Engagement vermittelbar (Beratungskunde Aktivieren) / Mittelfristig nicht zu vermitteln, zunächst sind die meist multiplen Einschränkungen zu beseitigen (Betreuungskunde)“. (Bundesagentur für Arbeit: Arbeitshilfen zu Eingliederungsvereinbarung und Profiling, in: Aktuelles, 40: Nur für den Dienstgebrauch; SR 2 / PG SGB II; AZ: 5400.1/5000/5013.3/6423.1 vom 26.11.2004; Hervorh. im Original).
- Wir betonen die Bedeutung der Relevanzsetzungen gegenüber den „Motiven” des (Nicht-)Handelns, weil sie die strategische, nicht immer explizit erfolgende, in jeder konkreten Entscheidungssituation aber abrufbare Rationalität des („bewussten”) Handelns erklären (zum Aufbau von Relevanzstrukturen vgl. Hack 1977, v.a. Kap. V). Das klassische „Motiv” (in des Begriffes engem Sinne) des Mörders „M.“ ist dagegen sein Getriebensein: Er kann nicht anders, befindet sich weder objektiv noch subjektiv noch latent in einer Entscheidungssituation.
- Der Theorie rationaler Wahlen, die hier durchscheint, ist nicht ganz zu Unrecht vorgehalten worden, den homo oeconomicus zu unvermittelt in die Soziale Welt versetzt zu haben. Sie hat aber die Augen geöffnet für lebensökonomische Formen der Interessenwahrnehmung, die in psychologischen Handlungsmodellen meist zu kurz kommen. Dahinter steht ein Menschenbild, das in bürgerlich-liberaler Tradition die Beweggründe der Einzelnen ernstnimmt – und eben nicht auf Dispositionsreaktionen verkürzt (vgl. Swedberg 1990).
- Dafür stehen auch, in der Umkehrung, Ergebnisse eines groß angelegten international vergleichenden Forschungsprojekts (Brown/Bimrose 2010). Danach wird berufliche Weiterbildung vor allem dann als sinnvoll erfahren, wenn individuelle erwerbsbiographische Wendepunkte anstehen und zu meistern sind.
- Und zwar „erfolgreich“ – sonst hätten sie nicht so lange überlebt.
- Mit der gesellschaftlichen Akkumulation von Manpower würden die Makrostrukturen zwangsläufig unter Veränderungsdruck geraten.
- Es ist eigentlich erstaunlich, wie oft – wie im Kompetenzentwicklungsdiskurs – auch gerade subjektorientiert sich verstehende Pädagogik die sozialen Rahmungen ausblendet, in denen Lernprozesse – oder ihre Verweigerung – stattfinden (vgl. hierzu
Bremer 2006 b).
* Bei diesem Beitrag handelt es sich, von wenigen Korrekturen und Ergänzungen abgesehen, um ein Referat, das ich vor bald zwei Jahrzehnten im Bundesinstitut für Berufsbildung vorgetragen habe. Dokumentiert wurde es seinerzeit in einem Sammelband zur Tagung: BIBB (Hrsg.), Redaktion: Knüpper-Heyer, Ursula; Strohmeier, Eckart: Zukunft beruflicher Bildung. 5. BIBB-Fachkonferenz 2007, Bielefeld, wbv, 2008. Es entstand unter dem Eindruck zum einen der Ergebnisse langjähriger Forschung zur Bildungsbeteiligung – die im Laufe der Zeit immer mehr zur Forschung zum bis dato und bis heute unterschätzten Phänomen der Abstinenz von und des Widerstands gegen veranstaltete Bildung geriet – und, zum anderen, der ersten überwiegend negativen Erfahrungen mit dem heute wieder in die Diskussion gebrachten Prinzip des „Forderns und Förderns“ – das eigentlich, latent, vor allem dazu dient, Einzelnen die Schuld für Phänomene zuzuschreiben, die strukturell verursacht sind. Wer die alltägliche Praxis jener Jahre an der Basis der Prozesse miterlebt hat, wird das nachvollziehen können. Ein drittes Phänomen war das in jenen Tagen in den Personalabteilungen vor allem der Großbetriebe propagierte „Wissensmanagement“, dem man durchaus die Funktion attestieren konnte, die „hidden competencies“, also jenes in lebenslanger individueller und kollektiver Arbeitserfahrung angeeigneten Wissens und Könnens dem Betrieb zu übereignen und im Kapitalinteresse auszubeuten, das bislang als nicht dokumentierte „Überschussqualifikation“ nur den Beschäftigten zur Verfügung stand. Dagegen müsse, so argumentierten wir, in viel größerem Maße, als es tatsächlich praktiziert wurde, so etwas wie ein „subjektives“ Wissensmanagement gesetzt werden, das die „erweiterte Beruflichkeit“, wie sie IG Metall und der Wissenschaftliche Beraterkreis von ver.di und IGM vertreten, ihrerseits noch stärker betont um die Lebens(arbeits)perspektive erweitert. Und zwar weil die tatsächlichen Qualifikationen und Kompetenzen der Einzelnen sich erst im je individuellen Berufs- und Arbeitsleben, auf der Berufsausbildung aufbauend, herausbilden und, bedingt nicht zuletzt durch technische Innovationen, verändern, anreichern (s. hierzu stellvertretend für viele Belege etwa die Beiträge von Schelepa 2010, Voß 2012 und Corsten 2012).
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