Hans G. Bauer (Mitarbeiter, Vorstandsmitglied, Gesellschafter bei der Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung GAB München) und Prof. Dr. Fritz Böhle (Professor an der Universität Augsburg / ISF München)
Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeitswelt erscheint es notwendig, dass durch die berufliche Bildung und Weiterbildung ‚Digitalisierungs-Kompetenzen‘ vermittelt werden (vgl. Friedrichsen, Wersig 2020). Doch was ist damit konkret gemeint? Handelt es sich um Kenntnisse über allgemeine technische Grundlagen und Prinzipien der Digitalisierung bei der Steuerungstechnik, Logistik, Dokumentation, Textverarbeitung u. a., oder vor allem um die Fähigkeit des praktischen Umgangs mit unterschiedlichen technischen Systemen und Tools. Der Begriff Kompetenz verweist darauf, dass die Fähigkeit zur praktischen Handhabung in jedem Fall ein wichtiges Lernziel und -ergebnis sein sollte.
Lange Zeit wurde die Fähigkeit zum praktischen Umgang mit Technik lediglich als eine Frage der Umsetzung von allgemeinem systematischem Wissen oder/und ein Ergebnis eines bloßen ‚Learning by Doing‘ gesehen. Es schien somit nicht notwendig, sich damit genauer zu befassen. Seit den 1990er Jahren hat sich diese Sicht jedoch geändert. Die Umsetzung allgemeinen systematischen Wissens in praktisches Handeln erfordert besondere Fähigkeiten, und das ‚Learning by Doing‘ umfasst weit mehr als bloße Anlernung und Einübung praktischer Fertigkeiten. Allgemeines Wissen muss auf konkrete Anwendungsgebiete hin (re-)kontextualisiert und durch ein kontextbezogenes Arbeitsprozesswissen ergänzt werden (vgl. Fischer 2000). Mit dem ‚Learning by Doing‘ verbindet sich ein spezielles, nämlich selbstgesteuertes Lernen und die Fähigkeit, durch praktisches Handeln Wissen nicht nur anzuwenden, sondern auch ein besonderes Erfahrungswissen über konkrete Gegebenheiten zu erwerben. Speziell Letzteres gewinnt im Zusammenhang mit der Digitalisierung eine besondere Bedeutung. Es wird deutlich, dass in der beruflichen Bildung in besonderer Weise Potenziale zur Förderung dieses Lernens bestehen und hierdurch nicht nur fachlich notwendige Kompetenzen, sondern auch die Entwicklung der Persönlichkeit gefördert wird. Beides sei im Folgenden näher erläutert.
Erwerb von neuem Wissen durch praktisches Handeln
Bei einem Referat über neue Anforderung an Weiterbildung bei Digitalisierung beendete der Betriebsrat eines Konzernes der Automobilindustrie seine Ausführungen mit der Feststellung: „Eine pauschale Qualifizierung für eine Industrie 4.0 kann und wird es nicht geben, da die technische Entwicklung immer schneller und weniger vorhersehbar ist. Die betriebliche Qualifizierung muss stattdessen agiler gestaltet werden, damit diese adaptiv und schnell auf Veränderungen reagieren kann. Notwendig scheint in dieser Perspektive die Entwicklung einer neuen, agilen Weiterbildungskultur (Lorz, 2017).
Dies unterstreicht die Bedeutung des Lernens im Arbeitsprozess durch praktisches Handeln. Weiterbildung auf der Grundlage von Schulungen, Seminaren und Kursen greift bei kontinuierlichem technischem Wandel und Innovationen zu kurz, da sie zwangsläufig den neuen Entwicklungen hinterher hängt. Sie kann somit ’nur‘ ergänzend wirksam werden, wohingegen in erster Linie ein selbstgesteuertes Lernen und der Erwerb von Erfahrungswissen im praktischen Umgang mit technischen Veränderungen notwendig ist.
Oft wird unter Erfahrungswissen nur ein in der Vergangenheit angesammelten Erfahrungsschatz und eine über Zeit erworbene Routine verstanden. Doch das im praktischen Handeln erwerbbare Erfahrungswissen umfasst (noch) weit mehr (Böhle, 2015).
Beim praktischen Umgang mit technischen Systemen ist ein Wissen notwendig, das sich sowohl auf die Technik selbst bezieht, wie aber auch auf die jeweiligen Gegenstandbereiche, die technisch bearbeitet und verarbeitet werden, sowie die Wirkungen, die hierbei entstehen. Dies gilt für den Umgang mit physisch-organische Materialen in gleicherweise wie für immaterielle Informationen und Daten. Beim Umgang mit Werkzeugmaschinen sind daher sowohl technische Kenntnisse der Wirkungsweise der Maschinen wie auch Kenntnisse über Metall und die Wirkungen der maschinellen Metallbearbeitung notwendig. Ebenso sind bei der Be- und Verarbeitung von Daten Kenntnisse über die technischen Tools als auch Kenntnisse über die be- und verarbeiteten Daten sowie die Wirkungen ihrer digitalen Be- und Verarbeitung erforderlich. Dabei zeigt sich, dass in der Praxis immer auch Wirkungen und Situationen auftreten, die sich nur beim praktischen Einsatz von Technik zeigen und die im Voraus nicht antizipierbar sind. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt darin, dass im Unterschied zum Labor die in der Praxis auftretenden Einflussgrößen niemals vollständig vorhersehbar und kontrollierbar sind. Technische Systeme wirken in der Praxis somit in mehr oder weniger ‚offenen‘ Umgebungen. Eine Folge ist, dass in der Praxis nicht vorhersehbare Unwägbarkeiten sowohl in den jeweiligen Gegenstandsbereichen wie auch bei der konkreten Wirksamkeit der Technik auftreten (vgl. Bauer u.a. 2016). Das im praktischen Umgang mit technischen Systemen gewonnene Erfahrungswissen bezieht sich in besonderer Weise hierauf und kann nicht durch noch so ausgefeiltes, allgemeines systematisches Wissen ersetzt werden. Es ist ein Wissen darüber, dass Unwägbarkeiten auftreten können, und vor allem darüber, wie man solche Unwägbarkeiten bewältigt.
Dieses besondere Erfahrungswissen entsteht aber nicht von selbst. Wie empirische Untersuchungen zeigen, hängt es davon ab, sich mit den jeweiligen Sachverhalten praktisch auseinanderzusetzen und sich auf sie erfahrungsgeleitet einzulassen. Das praktische Handeln beschränkt sich dabei nicht darauf, Wissen anzuwenden, sondern es dient vor allem dazu, Wissen über neue Sachverhalte zu erwerben. Man kann daher nicht nach dem Grundsatz ‚erst denken bzw. planen und dann handeln‘ vorgehen, sondern man muss sich an Unbekanntes herantasten, es durch praktisches Handeln erkunden und mit den jeweiligen Gegebenheiten in eine Interaktion und einen Dialog treten. Um auf diese Weise etwas zu ‚erfahren‘, müssen relevante Informationen mit ‚allen Sinnen‘ sowie mit subjektivem Empfinden und Gespür wahrgenommen und interpretiert werden. Damit einher geht nicht nur ein begriffliches, sondern auch assoziativ-bildhaftes Denken sowie eine quasi intime, auf persönlichem Engagement beruhende Beziehungen zu Gegenständen. In der wissenschaftlichen Diskussion wird dies als ein erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln im Unterschied zu einem planungsgeleitet-objektivierenden Handeln systematisch gefasst (Böhle, 2017).
In der modernen Industrie- und Wissensgesellschaft wird ein solcher Erwerb von Wissen nicht besonders geschätzt und eher mit Misstrauen betrachtet. Doch genau hierauf beruht eine eigenständige, menschliche Fähigkeit, in neuen, noch unbekannten Situationen Wissen über die jeweiligen Sachverhalte zu erwerben und auf dieser Grundlage handlungsfähig zu sein. Angesichts kontinuierlicher technischer Neuerungen erweist sich dieser Erwerb von (Erfahrungs-)Wissen als eine unverzichtbare Voraussetzung für die Realisierung technischer Innovationen. Damit kehrt sich das Verhältnis zwischen institutioneller Weiterbildung und dem Lernen im Arbeitsprozess in gewisser Weise um. Letzteres beschränkt sich nun nicht mehr nur auf eine ergänzende Anwendung und Konkretisierung des in Schulungen und Kursen Gelernten. Es wird vielmehr selbst zum Ausgangspunkt, von dem aus – vor allem von den Beschäftigten selbst – Anforderung an ergänzende Schulungen und Kurse gestellt werden.
Die berufliche Bildung enthält durch die Verbindung von schulischer Bildung und Praxis ein besonderes Potential, ein solches praktisches Lernen und den Erwerb von Erfahrungswissen zu beachten, zu entwickeln und zu fördern. Selbstgesteuertes Lernen im Arbeitsprozess beschränkt sich in dieser Sicht nicht nur auf die selbstgesteuerte Nutzung vorhandener Informationen im Internet oder speziellen Lernplattformen. Es beinhaltet vor allem die Fähigkeit, durch praktisches Tun Wissen über die Wirkungsweise von Neuem und dem praktischen Umgang damit zu erwerben (vgl. Bolte, Neumer, 2021). Darüber hinaus führt ein solches selbstgesteuertes Lernen nicht nur zum Erwerb von fachlichen Kompetenzen, sondern ebenso auch zur Förderung der Persönlichkeit.
Förderung der Persönlichkeit durch Erfahrungsgeleitetes Lernen
Das erfahrungsgeleitet-subjektivierende Handeln und Lernen zielt nicht darauf ab, ein bestimmtes Erfahrungswissen zu erwerben. Es geht vielmehr darum, die Fähigkeit zu entwickeln, ein besonderes (Erfahrungs-)Wissen über konkreten Gegebenheiten (selbst) zu generieren. Die hierfür notwendigen Fähigkeiten, mit ’allen Sinnen‘ und mit Gespür wahrzunehmen, sich dialogisch-interaktiv (auch) mit Gegenständen auseinanderzusetzen und sich in das ‚Gegenüber‘ hineinzuversetzen, sind grundsätzliche menschliche Potenziale. Sie müssen aber gerade im beruflichen Kontext, ähnlich wie etwa die Fähigkeit zu abstraktem Denken oder planmäßigen Vorgehen, (weiter-)entwickelt und gefördert werden. Das ‚Erfahrungen-Machen‘ ist dabei sowohl Methode wie Ziel dieses Lernens. Erfahrungen können allerdings nur dann erworben werden, wenn sich ein (lernender) Mensch aktiv in reale bzw. ‚ernste‘ Anforderungssituationen hineinbegibt. So ist der Ausgangspunkt eines jeden erfahrungsgeleiteten Lernens die praktische Handlungssituation (s. Bauer/Munz/Pfeiffer, 1999, Bauer/Munz 2000). Auslöser des Lernimpulses ist damit nicht die Begegnung zwischen Lehrer bzw. Ausbilder und Lernendem, sondern Lernen entsteht durch die Begegnung des Lernenden mit Handlungssituationen und deren Anforderungen. Damit verschiebt sich die Verantwortung anderer (Lehrer/Ausbilder) hin zu einer Selbstverantwortung für das eigene Lernen. Ich als Lernender muss die Situation als Lernanlass verstehen und in ihr lernbereit sei. Ich muss etwas wagen, muss mich in für mich neue, herausfordernde Situationen hineinbegeben, ich muss entdecken, mich herantasten. Ich muss erlebnisoffen sein und mich Einlassen-Können auf die jeweiligen Gegebenheiten. Ich muss diese erkunden und – ebenso auch mich selbst mit meinen Fähigkeiten, Schwächen wie auch ggf. Ängsten u.a. Hiermit sind eine Reihe von Merkmalen angesprochen, die über die fachlichen Aspekte des Lernens hinaus persönlichkeitsbildende Relevanz besitzen. Der Lernende lernt als ‚ganze‘ Person und wird als ‘ganze‘ Person berührt.
Der Lernende muss beim empfindend-spürenden ‚Erfahrung-Machen ‚das, was er „den Dingen tut und was er von ihnen erleidet, nach rückwärts und vorwärts miteinander in Verbindung bringen“ (Dewey 1986, 141). Der hier von dem Philosophen John Dewey gebrauchte Begriff „erleiden“ unterstreicht, dass hierbei tiefere, emotionale, motivationale Schichten der Persönlichkeit berührt werden und aktiviert werden müssen. Das „rückwärts und vorwärts“ kennzeichnet die dialogisch-interaktive Beziehung, die notwendig ist, um Erfahrungen zu generieren („was er von ihnen erfährt“). Die Qualität dieser Erfahrungen hängt dabei maßgeblich von der Empfindsamkeit bzw. Sensibilität der Wahrnehmungen ab. Hiermit sind Aspekte der Persönlichkeit angesprochen und herausgefordert, die in üblichen Lernformen eine untergeordnete Rolle spielen.
Es ist von großer Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung, wenn Lernende das, was sie lernen sollen, selbst entdecken und ihre eigenen Lernprozesse in großem Umfang selbst steuern können. Sie erleben damit Selbstwirksamkeit und steigern ihr Selbstbewusstsein und ihre Autonomie Dies vor allem dadurch, dass man lernt, wie man durch praktisches Handeln Wissen (selbst) generiert und erwirbt.
Bei einem solchen subjektorientierten Kompetenzverständnis wird dann nicht nur von einer Kompetenzentwicklung, sondern sogar von einer „Kompetenzreifung“ gesprochen (vgl. Arnold/Erpenbeck 2014). Dies bezieht sich auf die Tatsache, dass ein erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln und Lernen ohne eine ‚Reifung‘ der Persönlichkeit nicht stattfinden kann. In der beruflichen Bildung bestehen durch die Verbindung von Theorie und Praxis, von schulisch-theoretischem und praktisch-erfahrungsbasiertem Lernen besondere Potentiale, eine solche Entwicklung der Persönlichkeit zu fördern und die Entwicklung fachlicher Kompetenzen mit der Persönlichkeitsbildung zu verbinden.
Literatur:
Arnold, Rolf (2012): Ermöglichen. Texte zur Kompetenzreifung. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler.
Arnold, Rolf, Erpenbeck, John (2014): Wissen ist keine Kompetenz. Dialoge zur Kompetenzreifung. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler.
Bauer, Hans G., Munz, Claudia, Pfeiffer, Sabine (1999): Erfahrungsgeleitetes Lernen und Arbeiten als Methode und Ziel. In: berufsbildung, H. 57, 8-9.
Bauer, Hans G., Munz, Claudia (2000): Lernen, erfahrungsfähig zu werden. In: Dehnbostel, Peter, Novak, Hermann (Hrsg.): Arbeits- und erfahrungsorientierte Lernkonzepte. Sammelband 11. Hochschultage Berufliche Bildung, W. Bertelsmann Verlag, Bielefeld.
Bauer, Hans G., Böhle, Fritz, Munz, Claudia, Pfeiffer, Sabine, Woicke, Peter (2006): Hightech-Gespür. Erfahrungsgeleitetes Arbeiten und Lernen in hoch technisierten Arbeitsbereichen, 2. überarbeitete Auflage, Bertelsmann, Bielefeld.
Böhle (2015): Erfahrungswissen jenseits von Erfahrungsschatz und Routine in: Dietzen, Agnes u. A. (Hrsg.): Soziale Inwertsetzung von Wissen, Erfahrung und Kompetenz in der Berufsbildung, Beltz Juventa, Weinheim und Basel, 34 – 63.
Böhle (2017): Arbeit als Subjektivierendes Handeln. Handlungsfähigkeit bei Unwägbarkeiten und Ungewissheit, Springer VS, Wiesbaden.
Bolte, Annegret; Neumer, Judith (Hrsg.) (2021): Lernen in der Arbeit. Erfahrungswissen und lernförderliche Arbeitsgestaltung bei wissensintensiven Berufen: Augsburg/München, Rainer Hampp Verlag.
Dewey, John (1986): Erziehung durch und für Erfahrung. Stuttgart.
Fischer, Martin (2000): Von der Arbeitserfahrung zum Arbeitsprozesswissen, Springer Fachmedien, Wiesbaden
Friedrichsen, Maik; Wersig, Wulf (Hrsg.) (2020): Digitale Kompetenz: Herausforderungen für Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, Springer Gabler, Wiesbaden.
Lorz, Jörg (2017): Herausforderung: Lernen in der digitalen Arbeitswelt. Präsentation bei der Veranstaltung der IG-Metall ‚Denken am See‘ am 27.07.2017 in Tutzing.