Jörg Kunkel (Abteilungsleiter Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik der IGBCE)

Die chemisch-pharmazeutische Industrie ist eine Hightech-Branche, die sich in einem ständigen Veränderungsprozess befindet. Diese Veränderungen führen zu angepassten Anforderungen an die Beschäftigten. Zunehmend werden aufgrund der neuen, digitalen Anforderungen grundlegend andere Kompetenzen und Fertigkeiten benötigt. Neben den für die Ausübung der beruflichen Tätigkeit notwendigen Kompetenzen und Fertigkeiten ist es notwendig, die Offenheit der Beschäftigten für diversere Arbeitsteams und den Veränderungsprozess für neue Technologien und Arbeitsweisen zu erreichen. Mit einer Zukunftsvision und der Sicherheit, dass der Veränderungsprozess gemeinsam mit den Beschäftigten bewältigt wird, kann die notwendige Motivation erzeugt werden. Eine gelebte, verlässliche Mitbestimmungskultur ist ein unerlässlicher Bestandteil eines erfolgreichen Prozesses.

Die Teilnahme an einem lebensbegleitenden Lernprozess gewinnt an Bedeutung, um die Beschäftigungsfähigkeit zu sichern, zumal im Kontext einer digitalen, beschleunigten Arbeitswelt.

Die chemie-typischen Berufsbilder Chemikant*in, Chemie-, Biologie- und Lacklaborant*in wurden in den letzten Jahren an die digitale Entwicklung angepasst. Mit ihrer Technikoffenheit ermöglichen sie heute, alle betrieblichen Arbeitsgänge in der Ausbildung abzubilden. Sie bilden ein gutes Fundament auf dem ein lebensbegleitender Lernprozess aufbauen kann.

Vor diesem Hintergrund haben die Chemiesozialpartner 2019 in der Nationalen Weiterbildungsstrategie (NWS) der Bundesregierung sechs gemeinsame Commitments abgegeben.

Diese waren eine Zusammenfassung der wesentlichen Erkenntnisse eines zuvor stattgefundenen, gemeinsamen Diskussionsprozesses unter dem Slogan WORK@INDUSTY 4.0. In diesem Prozess hatten sich die beiden Organisationen – BAVC[1] und IGBCE – zu verschiedenen Zukunftsfragen der Branche – darunter auch die Weiterbildung – mit betrieblichen Vertreter*innen beider Seiten intensiv ausgetauscht.

Die Ergebnisse dieses Diskussionsprozesses machten deutlich, dass der Ausbau der Weiterbildung in den Betrieben kein Selbstläufer sein wird. Viele sich ergänzende Aktivitäten, die vergleichbar einem Puzzle ein Gesamtbild ergeben, sind nötig.

Gemeinsame Commitments der Chemiesozialpartner

In den NWS-Commitments verpflichteten sich die Chemiesozialpartner eine tarifliche Regelung zum Thema Qualifizierung und eine Sozialpartnervereinbarung „Zielbild Weiterbildung 4.0“ zu verabschieden. In einem Projekt sollten der Einsatz von „Weiterbildungsmentor*innen“ erprobt werden. Vertrauensleute und Betriebsräte der IGBCE sowie Beschäftigte aus dem Bereich Personalwesen sollten mit finanzieller Projektunterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung für eine niederschwellige, kollegiale Beratung ausgebildet werden.
Mit der Entwicklung eines niederschwelligen Qualifikationsanalyse-Tools und einem branchenspezifischen Beratungsangebot für Beschäftigte und/oder Unternehmen sollten weitere Bausteine, die insbesondere KMUs unterstützen sollen, das Gesamtbild vervollständigen.

Tarifliches Fundament für die Kernelemente

Im November 2019 wurde tariflich die „Qualifizierungsoffensive Chemie – Innovativ und wettbewerbsfähig bleiben —richtige Kompetenzen fördern und fordern“ vereinbart. In ihr wurden drei der beschrieben Commitments auf eine tarifvertragliche Basis gestellt.

  • Mit einem Future-Skills-Report sollte die aktuelle Entwicklung der Branche im nationalen und internationalen Vergleich dargestellt werden. Der Report sollte den betrieblichen Akteur*innen Hinweise geben, um diese mit der individuellen betrieblichen Situation zu spiegeln. Der Report wurde mit Hilfe eines Dienstleisters in drei Workshops mit betrieblichen Vertreter*innen aus Betriebsräten und Personal- und Ausbildungswesen entwickelt. Die erste Version wurde im März 2021 im Internet freigeschaltet und ist für alle Interessierten frei zugänglich. In der zweiten Jahreshälfte 2023 soll eine erweiterte Version 2.0 veröffentlicht werden. Die Erfahrungen der betrieblichen Vertreter*innen wurde wieder in die Überarbeitung einbezogen.
  • Mit Pythia konnte ein bestehendes Tool, welches in einem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) geförderten Projekt durch das Institut für Beschäftigung und Employability (IBE) entwickelt wurde, auf die Chemie-Branche angepasst werden. Es stellt ein Excel basiertes Instrument der strategischen Personalplanung dar. Auf Grundlage der Strategie des Unternehmens und der damit verbundenen, erforderlichen Kompetenzen, über die die Beschäftigten in Zukunft verfügen müssen, wird ein Soll-Ist-Vergleich mit den vorhandenen Qualifikationen gesetzt und so der Qualifizierungsbedarf ermittelt. Das Angebot steht den Mitgliedern zum Download zur Verfügung.
  • Mit dem Kooperationspartner Bundesagentur für Arbeit (BA) wurde am 24. September 2020 mit einem „Letter of Intent“ eine Zusammenarbeit bei der lebensbegleitenden Berufsberatung der Beschäftigten und der Qualifizierungsberatung der Betriebe vereinbart. In Modellregionen sollte die Zusammenarbeit erprobt werden. Im Vorfeld der BA-Beratung sollte ein durch die Sozialpartner finanzierter Bildungscoach den Einsatz und das Ziel mit den betrieblichen Vertreter*innen klären.

Der Zuspruch zu diesem Angebot hielt sich bisher in Grenzen. Ursache hierfür waren die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die eine betriebliche Ansprache erschwerte oder unmöglich machte. Aber auch nach der Pandemie waren aufgrund der stark gestiegenen Energiekosten- und Lieferkettenprobleme, welche einen erhöhten Arbeitsaufwand in den Betrieben beinhalteten, erhebliche Anstrengungen notwendig, um Betriebe für die Zusammenarbeit zu gewinnen. Die Hoffnung über die regionalen Arbeitgeberverbände einen Zugang zu Betrieben mit erweiterten Transformationsdruck zu erhalten, erfüllt sich bisher noch nicht.

Oder vielleicht stimmt auch die Feststellung: „Führungskräfte beschönigen und verdrängen Krisen[2]“. Nach dem jährlich erscheinenden „Workforce Attitudes Toward Mental Health Report“ von Headspace, einer Plattform für mentale Gesundheit, versagen CEOs in Deutschland im Krisenmanagement. Nicht einmal jeder zweite CEO hat eine Strategie für den Umgang mit globalen Krisen. Sollten weitere Krisen eintreten, will die Mehrheit der Führungskräfte ihren Beschäftigten sogar vorspiegeln, dass alles in Ordnung sei.[3]

Trotzdem sind erste Erfolge der Qualifizierungsoffensive Chemie zu verzeichnen. So will ein Unternehmen, welches sich zuvor mit Personalabbau beschäftigte, mit Unterstützung der Qualifizierungsoffensive Chemie die Transformation mit der Belegschaft schaffen. Der finnische Mutterkonzern unterstützt diese Bestrebungen.

Die Erkenntnisse zeigen, dass die Qualifizierungsoffensive trotz sozialpartnerschaftlichen Ansatzes kein Selbstläufer ist.

Die Weiterbildungsmentor*innen haben darüber hinaus eine wichtige Funktion. Sie sollen den Beschäftigten ein niederschwelliges, kollegiales Beratungs- und Unterstützungsangebot anbieten. Insbesondere Kolleg*innen mit negativen Bildungserfahrungen können von diesem Angebot profitieren. Dieses Engagement muss in eine ganzzeitliche, betriebliche Führungs- und Lernkultur eingebettet werden. Das Angebot der Weiterbildungsmentor*innen mit den lebensbegleitenden Beratungsangebot der Branche zu verbinden, um im Bedarfsfall den erweiterten Beratungsbedarf abdecken zu können, wird eine Herausforderung der Zukunft sein.

Führungs- und Lernkultur – ein künftiges Handlungsfeld

Für eine Führungs- und Lernkultur 4.0 haben sich die Chemie-Sozialpartner in ihrer Sozialpartnervereinbarung „Zielbild: Weiterbildung 4.0“ ausgesprochen. In Sozialpartnervereinbarungen wird das gemeinsame Verständnis der Partner zu wichtigen Herausforderungen der Branche beschrieben und hat eine unterstützende Funktion für die betrieblichen Akteur*innen.

Im Zielbild werden zehn Ziele beschrieben. Neben der bereits beschriebenen Führungs- und Lernkultur 4.0, den Weiterbildungsmentor*innen, der Empfehlung, die Analyseinstrumente zur Qualifizierungsbedarfsermittlung und das Beratungsangebot zu nutzen, beinhaltet das Zielbild noch folgende Ziele:

  • In eine zeitgemäße Aus- und Weiterbildung mit einer breiten fachlichen und sozialen Qualifikation soll investiert werden.
  • Die Weiterbildung soll als selbstverständlicher Bestandteil des Arbeitslebens und gemeinsame Aufgabe von Arbeitgebern und Beschäftigten verstanden werden.
  • Die Berufsbilder sollen zeitgemäß weiterentwickelt und Weiterbildungskonzepte erarbeitet werden. Die Weiterbildungskonzepte sollen auf die angepassten Ausbildungsordnungen aufbauen.
  • Beschäftigte die vor einer Novellierung ihre Facharbeiter*innenprüfung abgelegt haben, sollen die Möglichkeit zu einem „Update“ der Neuerungen des jeweiligen Berufsbildes gegeben werden. Für die Produktionsbeschäftigten, die durch den Schichtbetrieb und ihren Tätigkeiten vor besonderen Herausforderungen stehen, sollen darauf abgestimmte Weiterbildungsangebote entwickelt werden. Die Sozialpartner sprechen sich im Zielbild für die Schaffung von Qualifizierungszeiträumen aus.
  • Mit Qualifizierungsverbünden sollen insbesondere KMUs gefördert werden, ihre Beschäftigten gemeinsam weiterzubilden.
  • Mit ihren Aktivitäten wollen die Chemiepartner die Förderung einer neuen Weiterbildungskultur in Deutschland und Europa unterstützen.

Mit der Beschreibung der Ziele ist nur der erste Schritt getan. In der Zukunft werden aus den Zielen Handlungen abzuleiten sein.

Am Beispiel eines zentralen Zieles – einer neuen Führungs- und Lernkultur 4.0 – kann man dieses verdeutlichen. Die Beschreibung im Zielbild lautet:

„So wie die einzelne Arbeitnehmerin bzw. der einzelne Arbeitnehmer von ihrem Unternehmen erwarten darf, dass es in ihre bzw. seine Weiterbildung investiert, kann das Unternehmen vom einzelnen Beschäftigten erwarten, dass er bzw. sie sich am individuellen Aufbau der für den Unternehmenserfolg notwendigen Kompetenzen beteiligt. Dafür braucht es aber Führungskräfte, die sich als Lernmotivatoren und -begleiter verstehen – und ihre Vorbildfunktion wahrnehmen, indem sie sich selbst weiterbilden. Weiterbildung darf kein „Add-on“ sein, sondern muss Teil des Arbeitsprozesses selbst werden.“

Dieses Ziel in Handlung und der Beschreibung von notwendigen Rahmenbedingungen zu überführen, macht die Beantwortung verschiedener Fragen notwendig. Einige werden nachfolgend beispielhaft aufgeführt:

  • Wie können Beschäftigte in einem lebensbegleitenden Lernprozess einbezogen werden, auch wenn sie negative Bildungserfahrungen gemacht haben?
  • Wie kann die Motivation gefördert werden?
  • Welche Rolle spielt das Zukunftsbild für das Unternehmen, den Betrieb und den Arbeitsplatz?
  • Kann durch die Validierung von erworbenen non-formalen Kompetenzen die Qualifizierungserfolge sichtbar gemacht und ein Motivationsinstrument geschaffen werden?
  • Wie sehen lern- und kompetenzförderliche Arbeitsbedingungen im digitalen Zeitalter aus?
  • Welche Möglichkeiten und Grenzen haben digitale Lernformen? Wie können sie didaktisch sinnvoll in eine Qualifizierungsstrategie eingebaut werden?

Diese Liste könnte mühelos erweitert werden. Es zeigt, dass ein großer Teil der Arbeit noch vor den Sozialpartnern liegt. Negative Einflüsse, wie die Bedrohung der Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Betriebe durch die gestiegenen Energiekosten, verdrängen oft das Zukunftsthema Weiterbildung in der Priorisierung des Augenblicks. Dieser Aufschub löst die Herausforderung nicht, sondern wird die Herausforderung vergrößern.

Weiterbildung: ein Zukunftsthema für die Interessenvertretung

Es bleibt Aufgabe der Gewerkschaften und ihrer Betriebsräte das Zukunftsthema Weiterbildung im Fokus zu behalten. Neben der üblichen technischen Entwicklung, in der die neue Technik eine Fortentwicklung der derzeit in Gebrauch befindlichen Technik darstellt, wird es zu Brüchen in der technischen Entwicklung kommen. So könnte es beispielsweise sein, dass ein Kunststoffbetrieb, der bisher mit Spritzgussmaschinen den Markt beliefert, zukünftig seine Marktposition durch individuellere Angebote oder kleinere Stückzahlen verstärken möchte. Mit dem 3D-Druck wäre ein solches Angebot heute denkbar. Hierfür benötigen die Beschäftigten jedoch eine andere Kompetenz.

Vergleichbare Herausforderungen lassen sich an vielen Arbeitsplätzen in der Produktion und Verwaltung finden. Der Future-Skills-Report soll die betrieblichen Akteur*innen unterstützen, sie zu identifizieren.

Es bedarf nicht viel Phantasie sich vorzustellen, vor welchen Herausforderungen die Beschäftigten und ihre Interessenvertreter*innen stehen, wenn die Beschönigungs- und Verdrängungsstrategie der Führungskräfte wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Der Weiterbildungsbedarf, der sich aus dem Transformationsdruck ergibt und der bei einer vorausschauenden, strategischen Personalpolitik mit mehr Zeit abgearbeitet werden könnte, wird dann unter Zeitdruck erfolgen. Man sollte sich erinnern, dass die heutige Fachkräftekrise ihre Ursache auch im Versagen der Unternehmen, die nicht ausreichend ausgebildet haben, liegt. Eine erfolgreiche Personalpolitik benötigt Zeit.

Mit dem Qualifizierungsgeld hat die Politik ein neues Förderinstrument geschaffen, welches ab dem 1. April 2024 die Betriebe bei der Bewältigung dieser Herausforderung unterstützt. Für die Interessenvertreter*innen der Beschäftigten gibt es damit neue Möglichkeiten, die Bewältigung der Auswirkungen der Transformation im Sinne der Beschäftigten zu gestalten. Dabei muss es darum gehen, den Kolleg*innen neue Perspektiven zu eröffnen und die Beschäftigungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu sichern.

[1] Bundesarbeitgeberverband Chemie e.V.

[2] Führungskräfte beschönigen und verdrängen Krisen | Personal | Haufe

[3] ebenda

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