Günther Heil (GGSD – Fachreferent für Pflege, Fort- und Weiterbildung | GeBEGS e.V. – Mitglied des Vorstandes)

Mit dem Jahr 2023 beginnt für die Pflegebranche eine neue Zeitrechnung. Denn der erste Jahrgang hat nun die neue Berufsausbildung zur generalistischen Pflegefachperson abgeschlossen. Nach langwierigen berufspolitischen Diskussionen mit vielen pflegepolitischen Zerwürfnissen wurde vor fünf Jahren mit dem Pflegeberufegesetz die Vereinheitlichung der Berufsbilder Kinderkrankenpflege, Altenpflege und Gesundheits-/Krankenpflege beschlossen. Dabei standen die Interessen der Leistungsanbieter (private und öffentliche Klinik- und Altenhilfeträger) zumeist in großem Widerspruch zu Berufs- und Bildungsverbänden und auch zur Politik.

Die Reform-Agenda ist mit dem Anspruch angetreten, ein Berufsbild zu schaffen, das den demografischen Entwicklungen aber auch den europäischen Normen gerecht wird. Denn schon längst hat die EU gefordert, eine Anerkennung und Gleichstellung des deutschen Pflegeberufs in Europa vollziehen zu können. Damit besteht für die zukünftigen Pflegefachpersonen nun große Flexibilität. Sie können unterschiedliche Tätigkeitsfelder wählen, die Arbeitsbranchen wechseln und sind auch außerhalb Deutschlands anerkannte Pflegefachkräfte.

Natürlich hat man sich nicht blindlings in das Abenteuer „Generalistik“ gestürzt, sondern zuvor schon über zehn Jahre lang mittels Schulversuchen Erkenntnisse gesammelt: Was kommt dabei heraus, wenn man statt der bisher drei spezialisierten Ausbildungen eine generalistische Profession schafft? Dabei wurde u.a. deutlich, dass die Absolvent*innen mit dem Zeitpunkt des Berufsabschlusses in den meisten Funktionsbereichen noch relativ wenig Eigenständigkeit und Berufsroutine erlangt haben. Denn sie durchlaufen während der drei Jahre eine kompakte Ausbildung, welche die Pflege in allen Altersstufen (Längsschnittverlauf des Lebens) mit breitem Aufgabenspektrum (Querschnittbereiche der Pflege) umfasst. Auch die Vielfalt der erforderlichen Praxiseinsätze soll die Heterogenität der späteren Berufsfelder abbilden. Damit sind dann nicht nur ambulante Pflegedienste, Pflegeheime und Allgemeinkrankenhäuser gemeint, sondern auch pädiatrische und psychiatrische Schwerpunkteinrichtungen oder auch Reha-Kliniken, Hospize, Intensiv- oder Palliativ-Abteilungen. Wir wissen also nicht erst seit heute: Die generalistischen Pflegefachpersonen sind mit dem Berufseintritt noch keine Expert*innen. Doch sie haben bereits vielfältige Vorerfahrungen und hermeneutisches Vorwissen, an die sehr gut angeknüpft wird und die schnell vertieft werden können … durch Fort- und Weiterbildung.

Die „Generalistik“ ist also der Anfang und – frei nach Aristoteles – erst die Hälfte des Ganzen. Deshalb muss jetzt dringend die Weiterbildungslandschaft neu gedacht und reformiert werden. Doch während die dreijährige Pflegeausbildung einheitlich durch ein Bundesgesetz geregelt ist, liegt die Verantwortung für den Weiterbildungsbereich in ganz vielen, unterschiedlichen Händen: Im Bereich der Altenhilfe gibt es beispielsweise Rechtsnormen durch den GKV-Spitzenverband, im SGB V und XI und in den landesspezifischen Heimgesetzen. Im Bereich der Klinikversorgung sind es wiederum die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), der Gemeinsame Bundesauschuss (G-BA) und zahlreiche Fachverbände, welche Richtlinien und Empfehlungen für Weiterbildungen in der Pflege definieren. In Bayern gibt es deshalb beispielsweise rund 40 Weiterbildungsangebote für Pflegekräfte, um sich auf Funktions- und Leitungsstellen hin zu qualifizieren. Doch bei keiner ist bereits das neue Ausgangsniveau der generalistischen Pflegefachpersonen berücksichtigt.

Noch komplizierter wird es, seit in mehreren Bundesländern – neben den bundesweit tätigen Berufsverbänden – einige Landespflegekammern und -vereinigungen ihre Arbeit aufgenommen haben. Sie haben den gesetzlichen, aber unterschiedlich definierten Auftrag zur beruflichen Selbstverwaltung und -bestimmung erhalten. Dass es hier auch noch zu Schnittmengen und Zuständigkeitskonflikten mit den Gewerkschaften kommt, erklärt sich von selbst, gerade wenn es um die tarifliche Mitbestimmung und arbeitsrechtliche Einordnung bestimmter Weiterbildungsabschlüsse geht. Somit sind hinsichtlich einheitlicher Weiterbildungsstandards noch mehr Interessengruppen und -konflikte entstanden.

Die Vielfalt der Stake-Holder in der Weiterbildungslandschaft führt also zu folgendem Problem: Mit der Generalistik wurde zwar ein solides Wissensfundament gegossen, doch gibt es noch keinerlei Baupläne für das zukünftige „Weiterbildungs-Gebäude“. Sehr viele Architekten und Ingenieure, Handwerker und Dekorateure wollen und müssen nun an der Pflegeprofession weiterarbeiten, insbesondere an den der „Pflege vorbehaltenen Aufgaben und Tätigkeiten“. Unterschiedliche Pflegesettings sowie alle Führungsebenen benötigen umfangreiche Befähigungen … aber auch Befugnisse.

Die Architektur des zukünftigen „Weiterbildungs-Gebäudes“ braucht in manchen Bereichen sicherlich klare und einfache Bauhaus-Strukturen. So sollten bei Fachweiterbildungen modulare Elemente enthalten sein, die für unterschiedliche Disziplinen identisch sind und wechselseitig anerkannt werden können, wie z.B. pflegewissenschaftliche, ethische und rechtliche Grundlagen. Auch Soft-Skills wie Empathiefähigkeit, Kommunikations- und Beratungskompetenz sind in verschiedenen Fachspezialisierungen ähnlich erforderlich, ob es sich nun um Angehörige von pädiatrischen, onkologischen oder gerontopsychiatrischen Patient*innen handelt. Bei Leitungsqualifikationen sind die erforderlichen Kompetenzen im Umgang mit Team- und Führungskonflikten vergleichbar, denn diese treten auf allen Führungsebenen und in allen Pflegesettings auf. Auch betriebswirtschaftliche und arbeitsrechtliche Grundlagen sind für jede Leitungskraft essenziell.

An anderen Stellen muss die architektonische Formensprache aber variabel und differenzierter sein, da sich krankheits- und pflegebedingt sowie aufgrund medizinischer und therapeutischer Standards die Fachweiterbildungen hier ja wesentlich unterscheiden, wie z.B. die neo-natologische, die psychiatrische oder die palliative Pflege. Auch im Führungsalltag werden auf höheren Hierarchieebenen erweiterte Kompetenzbereiche erforderlich, wie z.B. in den Bereichen Marketing und Controlling. Aber in den unterschiedlichen Branchen unterscheiden sich wiederum die spezielle Betriebswirtschaftslehre und Finanzierung sowie Betriebs- und Sozialrecht wesentlich.

Aufgrund der Halbwertszeit von Wissen bedarf das „Weiterbildungsgebäude“ sicherlich auch einer regelmäßigen Instandhaltung. Somit wäre die Verpflichtung zu regelmäßigen Aktualisierungs-Fortbildungen erforderlich, welche den State-of-the-art in den jeweiligen Fachdisziplinen abbilden.

Hoffentlich hört also das Tau-Ziehen um die Weiterbildungs-Hoheit in der Pflege bald auf. Verbände, Kostenträger und Politik müssen jetzt aufeinander zugehen. Dann könnten im Hinblick auf die Generalistik die weiteren Kompetenzziele definiert und gemeinsame Weiterbildungsstandards entwickelt werden. Nur bleibt zu hoffen, dass es hier nicht zu lange dauert, denn unser Gesundheitswesen steht bereits ziemlich nahe am Abgrund … und muss dringend seine Richtung ändern.

Autor

  • Ausbildung zum Altenpfleger, Dipl.-Pflegewirt (FH) und Gerontologe (M.Sc.) Langjährige Berufserfahrung in der Altenhilfe. Seit 2011 beschäftigt bei der GGSD (ein Beteiligungsunternehmen der DAA Stiftung Bildung und Beruf) Seit 2021 ist er dort Referent für den Fort- und Weiterbildungsbereich mit dem Schwerpunkt Pflege. Div. ehrenamtliche Vorstandstätigkeiten, u.a. bei GeBEGS (Verband gemeinnütziger Bildungsträger im Gesundheits- und Sozialwesen)

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