Eine für alle(s). Oder irgendwie, irgendwo, irgendwann.

Annäherungen an eine Nationale Bildungsplattform

Jeanette Klauza (Leiterin der Referate Frühkindliche Bildung, Schulpolitik, Inklusion, Alphabetisierung und Grundbildung beim DGB-Bundesvorstand) und Mario Patuzzi (Leiter des Referats für Grundsatzfragen der beruflichen Aus- und Weiterbildung beim DGB Bundesvorstand)

Sie geistert durch unzählige Statements zur Bildungspolitik, wird gehypt und ist doch seltsam unkonkret: Die Nationale Bildungsplattform (NBP) begeistert als Idee – und ansonsten nur wenig. Jeanette Klauza und Mario Patuzzi machen hier den Versuch, die NBP in einen Kontext einzusortieren, ihre eigentliche Zielsetzung und den Entstehungsweg nachvollziehbar zu machen und aus einer gewerkschaftlichen Sicht einzuschätzen.

Mit dem Aufkommen von digitalen Plattformen, der Entstehung von digitalen Ökosystemen und der Entwicklung von ganz neuen, andersartigen digitalen Geschäftsmodellen haben sich in der vergangenen Dekade völlig neue Möglichkeiten für Unternehmen und Konsumenten ergeben. Die Stichworte spotify, Netflix, Amazon, Uber, Lieferando oder airbnb mögen als Beleg dafür ausreichen.  Diese digitalen Ökosysteme verändern bereits vielfach die meisten Branchen und haben einen erheblichen Impact auf die gesamte Wirtschaft, der auch zunehmend die Verwendung von Begriffen und Sprache im Allgemeinen verändert. Dies gilt auch im Hinblick auf Bildungsangebote, Bildungsprozesse sowie Lehr- und Lernmedien. Unzählige Lernplattformen sowie eine wachsende EdTech-Industrie bieten Bildungsdienstleistungen in aller Form und mit unterschiedlichster Software an. Sie reichen von professionellen online-Seminaren über kommerzielle Lernapps bis hin zu Peer-to-Peer Tutorials. Ein wachsender Markt für digitale Bildungsdienstleistungen aller Art ist in den letzten Jahren entstanden. Seit Beginn der Corona-Pandemie ist zudem eine steigende Anzahl von Schulplattformen, Länderportalen, Hochschulplattformen festzustellen.

Trendsetter EU-Kommission

Diesen Trend hat sicherlich die Europäische Kommission frühzeitig erkannt. Mit der Europass-Plattform, deren (noch nicht vollständig umgesetzten) Funktionalitäten sowie mit ESCO als mehrsprachiger Klassifikation für Fähigkeiten, Kompetenzen, Qualifikation und Berufe hat sie eine europäische Version eines digitalen Bildungsökosystems aufgebaut. Ob die Europass-Plattform für User attraktiv sein wird und letztlich auch von Bürger*innen, Unternehmen, Bildungsinstitutionen und Bildungsanbietern nutzbar gemacht wird, steht (noch) in den Sternen. Die Europäische Kommission hat aber immerhin erheblich dazu beigetragen, dass sich politische Entscheidungsträger zunehmend die Frage gestellt (bekommen) haben, wann in Deutschland so etwas wie eine (nationale) Bildungsplattform entstehen wird.

Undurchsichtig bis kompliziert: Entwicklung und Aufbau einer NBP

Vieles soll sie können, die NBP: Vorhandene und neue Bildungsangebote und Lernformate über die gesamte Bildungskette hinweg durch nur einen Klick für alle Lehrende und Lernende zugänglich und nutzbar machen. Das Erlangen und Ablegen von Zertifikaten in der schulischen, hochschulischen und beruflichen Bildungslaufbahn ermöglichen und Treffpunkt für Lehrende und Lernenden sein. Ein hohes Ziel, ein komplexes Vorhaben.

Ob es eine NBP überhaupt geben wird, ist aktuell noch offen. Das für die Entwicklung und Finanzierung zuständige Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) lässt sich nur ungern in die Karten schauen. Die 2021 veröffentlichen Ausschreibungen zielen auf die Entwicklung von technischen Grundlagen und Funktionalitäten ab. In mehreren Versuchs- und Testprojekten wie BIRD und den sogenannten Ziel 3-Projekten soll die Umsetzbarkeit einer NBP erprobt werden. Dies gilt auch für die Entwicklung von Angeboten für Lehrende (Ziel 2-Projekte) sowie für digitale Bildungsangebote für Lernende (Ziel 1-Projekte). Wie der aktuelle Stand dazu ist, wird nicht kommuniziert, mensch muss schon selbst nachforschen[i]. Die Ziel 3-Projekte sind mittlerweile spurlos verschwunden. Stattdessen erfolgte 2022 eine zusätzliche Ausschreibung im Rahmen der NBP, die auf die Bildung eines Pools von Entwicklern abzielt, welche dann für die schrittweise und kleinteilige Entwicklung der technischen Grundlagen der NBP über sogenannte „Sprints“ nach dem Wettbewerbsprinzip herangezogen werden sollen. Darüber hinaus besteht mit dem vom BMBF ebenfalls geförderten Innovationswettbewerb INVITE (Digitale Plattform berufliche Weiterbildung) eine weitere Verzweigung. Die im Rahmen dieses Wettbewerbs geförderten und erfolgreichen Projekte sollen in das entstehende digitale Bildungsökosystem eingegliedert werden (können). Mit all diesen Projekten sollen Erfahrungen zu notwendigen Abstimmungsfragen und Schnittstellen gemacht werden, um die organisatorischen, technischen und politischen Herausforderungen aufdecken und lösen zu können, bevor die NBP ausgeschrieben und aufgebaut werden kann. Schließlich soll die NBP auch mit der von der Bundesagentur für Arbeit (BA) zu verantworteten und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) finanzierten Nationalen Online-Weiterbildungsplattform (NOW) vernetzt werden.

Die Darstellung des prozessualen Aufbaus von technischen Grundlagen und Funktionalitäten einer zukünftigen NBP ist zugegeben etwas langweilig, aber umso notwendiger für das Verständnis des Entwicklungsstandes. Die NBP ist noch keine Realität, sondern eine hohe Ambition des BMBF und aller Beteiligten. Sie befindet sich in einer Art Aufbauphase, um die technologische und technisch-organisatorische Basis in einem hochdynamischen Feld aufzubauen, das sich ständig verändern wird und weiterentwickelt werden muss. Die NBP soll deshalb und vor allem eines sein: eine Metaplattform, die verschiedenste Dienste (Services) und Funktionalitäten (Tools) durch Vernetzung von Plattformen und digitalen Ökosystemen verfügbar machen und europäisch anschlussfähig sein soll.

Ambitioniert bis visionär: die Zielsetzung der NBP

Am Ende sollen über die NBP Lernenden digital gestützt individuelle Bildungspfade über den gesamten (möglichen) Bildungsverlauf eröffnet und so über alle Altersstufen und Bildungsbereiche möglich werden, sich ungehindert und ohne Brüche durch digital gestützte Lehr-/Lernszenarien zu bewegen. Dies soll auch analoge Angebote einschließen, welche digitale Komponenten integrieren. Dabei sollen Lernende wie Lehrende ihre Daten selbstbestimmt verwalten und über ihre Nutzung entscheiden können. Dieses visionäre, mindestens aber hoch ambitionierte Vorhaben zielt auf eine Vernetzung und Verknüpfung von bestehenden und digitalen Bildungsplattformen und Angeboten unter der Prämisse der Nutzersouveränität ab, wobei darunter nicht nur „Lernende“ wie Schüler*innen, Auszubildende, Studierende, Beschäftigte, Arbeitslose, Selbstständige, Rentner*innen, zu verstehen sind, sondern auch Anbieter aller Art, bei gemeinsamen Standards und offenen Schnittstellen. Über die Vernetzung und Verknüpfung sollen Dienste und Funktionalitäten den Nutzern zugänglich gemacht werden, die sich in folgende Teilbereiche gliedern lassen:

  • Digitalisierte bildungsadministrative Dienste im Kontext des Online-Zugangs-Gesetzes (OZG) wie z.B. digital credentials (digitale Zeugnisse und digitale Bildungsnachweise),
  • Vernetzung von bestehenden (und zukünftigen) halbwegs öffentlich-rechtlichen Plattformen der Länder, von Schulen, Hochschulen (z.B. die Weiterbildungsplattform der Hochschulen „hoch und weit“), von NOW und anderen,
  • Einbindung von Bildungsangeboten und Bildungsplattformen privater Dienstleister und Anbieter,
  • Einbindung von Qualifizierungs– und Lernangeboten für Lehrende und Lernende.

Neben vielen technisch-organisatorischen bis hin zu politisch-koordinativen Fragen ist vor allem offen, welcher Content letztlich verfügbar sein soll und wie dieser „qualitätsgesichert“ werden soll.

Herausforderung Standard(um)setzung

Eine der großen Herausforderungen scheint auch die regulatorische Umsetzung. Für den Bereich der beruflichen Weiterbildung hat die Begleitforschung des INVITE-Wettbewerbs eine stattliche Anzahl von 125 Standards recherchiert[ii], die neben Gesetzen und Verordnungen auch DIN- und ISO-Normen, Branchen- und Gremienstandards enthalten. Abgesehen von der Tatsache, dass für digitale Lehr- und Lernangebote derzeit keine akzeptierten und verbindlichen pädagogischen Standards und Qualitätskriterien existieren, stellt sich auch die Frage, wie praktikabel die Umsetzung dieser 125 Standards ist und welchen Mehrwert sie haben. Das Ziel, mit zeitgemäßen Standards hochwertige Inhalte auf funktionalen Plattformen anzubieten, verdeckt in der Formulierung, dass der rechtlich-regulative Rahmen für Plattformen gerade im Bildungsbereich noch sehr zu wünschen übriglässt. Das Fehlen von Standards wie auch die Nicht-Einhaltung von zugestimmten Standards können die Akzeptanz und Nutzung von Diensten im Rahmen der NBP erheblich beeinträchtigen. Dies birgt ein erhebliches Risiko im Hinblick auf das Scheitern des Projekts.

Ein paar Leitplanken

Ob die NBP als digitale Vernetzungsstruktur Bildung überhaupt das Licht der Welt erblickt, hängt insbesondere davon ab, ob die technologische und technisch-organisatorische Umsetzung funktioniert. Scheitert die Entwicklung bereits beim Aufbau der Grundstruktur, hat es keinen Sinn, dieses Projekt weiterzuverfolgen. Erfahrungsgemäß ist allerdings mit einer langen Anlaufzeit und einem langen Atem beim Aufbau von Plattformen und digitalen Ökosystemen zu rechnen. Die Zeit sollte sich das BMBF nehmen – und auch die dafür nötigen Ressourcen einplanen. Über die Fragen des Aufbaus einer Grundstruktur für die NBP wollen wir abschließend ein paar Gedanken teilen, die als eine Art Leitplanken für die Bewertung der Zukunftsaussichten einer NBP angesehen werden könnten:

  1. Digitale Plattformen und digitale Ökosysteme sind dann erfolgreich, wenn sie für User attraktive Dienste und Funktionalitäten anbieten sowie Partner für ihre Plattform und für ihr Ökosystem gewinnen können. Die NBP hat den Vorteil, dass sie über den institutionalisierten Bildungsbereich von der Allgemein- über die Berufsbildung bis zu Hochschulen und Erwachsenenbildung eine Grundmasse an Usern („die Lernenden“ in den Bildungsbereichen) wie auch Partner (Länder, öffentliche und öffentlich-rechtliche Institutionen aus den Bereichen der formalen Bildung) einbeziehen können. Wenn es gelingt, die formalen Bildungsbereiche und ihre Bildungsteilnehmenden zum Kern der „User“ der NBP zu machen, und für den Ausbau der NBP ausreichend Ressourcen für die Entwicklung und das Angebot von Mehrwertdiensten bereitgestellt werden, sehen wir für die NBP durchaus gute Chancen, das Licht der Welt zu erblicken.
  2. Eine große Stärke der NBP ist ihre Vision, Lernenden digital gestützt individuelle Bildungspfade über ihren gesamten Bildungsverlauf anzubieten und dabei ihre Daten, insbesondere digitale Bildungsnachweise, selbstbestimmt zu verwalten. Die „Lernenden“ verstehen wir dabei als Bürger*innen, die über die Dienste und die Funktionalitäten der NBP ein Anspruchsrecht auf Teilhabe an Bildung verwirklichen könnten. Dies gilt es vor allem im Hinblick auf die Integration digitaler bildungsadministrativer Dienste aus dem OZG-Kontext zu berücksichtigen. Hier könnte ein echter Mehrwert der NBP liegen. Auch die Weiterentwicklung von digitalen Nachweisen zu e-Portfolios kann als Chance für eine bessere Sichtbarmachung und Anerkennung von formalen, non-formalen und informellen Lernen verstanden werden.
  3. Offen ist allerdings die Frage, was Angebot und Funktion einer öffentlich verantworteten NBP sein sollen und welche Dienste und Funktionalitäten sie anbieten kann, soll und muss. Das BMBF hat sich bisher einer Diskussion dieser Fragen entzogen. Wir sind der Ansicht, dass der Einsatz öffentlicher Ressourcen für eine Förderung von öffentlichen Angeboten zu konzentrieren ist. Dabei müssen eminent politische Fragen geklärt werden: Wer soll die NBP in Zukunft betreiben? Wie wird sie dauerhaft finanziert? Wer sichert den Zugang zur Nutzung der NBP und wie wird die Qualität der Dienste, Funktionalitäten und Angebote dauerhaft gesichert und kontrolliert? Wer übernimmt die fachliche Umsetzungskontrolle und wer ein Qualitätsmonitoring? Wer ist wem gegenüber verantwortlich?  Eine Inbetriebnahme der NBP kann aus unserer Sicht nicht erfolgen, solange diese Fragen nicht politisch, d.h. über den Weg der Gesetzgebung, geklärt sind.
  4. Eine öffentlich verantwortete und finanzierte NBP darf keine unregulierten Zugänge für private, kommerzielle Anbieter ermöglichen. Dies gilt insbesondere wegen der Gefahr einer Vermessung und Bewertung von Nutzern für kommerzielle Eigeninteressen. Zugänge für private Anbieter müssen zwingend an Qualitäts- und Transparenzstandards gebunden werden. Dafür sind pädagogische (Mindest)Qualitätsstandards festzulegen und vorzuschreiben. Ein regelmäßiges Qualitätsmonitoring für (alle) Angebote, Dienste und Funktionalitäten halten wir für unerlässlich.

Lehren und Lernen werden sich in Zukunft weiter verändern. Digitale, ortsunabhängige Lernformate werden klassische Präsenzangebote ganz selbstverständlich ergänzen. Aus unserer Sicht können sie jedoch nur eine Ergänzung sein, denn Lernen heißt auch miteinander in den Austausch zu treten, zu diskutieren und andere Meinungen zu verstehen oder mindestens ertragen zu können. Dafür sind digitale Angebote zu linear. Sie können auch darum nur Ergänzung sein, weil es einen staatlich verantworteten Bildungsauftrag gibt, der in der Regel aus dem Staatshaushalt und nicht aus dem Geldbeutel der Lernenden finanziert wird. Dies ist ein hohes Gut, auch wenn es um die Qualität unseres Bildungssystems nicht gut bestellt ist. Bildung darf keine individuell verantwortete Holschuld werden und auch nicht auf kommerzielle Bildungsanbieter abgeschoben oder outgesourct werden. Wenn es den politisch Verantwortlichen gelingt, beides – die staatlich verantworteten Bildungseinrichtungen und die Nationale Bildungsplattform – qualitativ hochwertig (weiter) zu entwickeln und alle Menschen mit ihren individuellen Bedarfen anzusprechen, dann kann die NBP sogar ein Beitrag zur Förderung von Chancengleichheit leisten.

[i] Eine sehr schöne Übersicht über Ziel und Aufbau der Teilprojekte der ersten Ausschreibung zur NBP hat das Bündnis für Bildung (BfB) erstellt. Die Datei steht hier zum Download bereit: „Kurzübersicht: Das Projekt BIRD und die Nationale Bildungsplattform“ (Januar 2022) (abgerufen am 21.10.2022)

[ii] Reichow, Insa; Hochbauer, Monica; Goertz, Lutz: Standards und Empfehlungen zur Umsetzung digitaler Weiterbildungsplattformen in der beruflichen Bildung: ein Dossier im Rahmen des INVITE-Wettbewerbs. Bonn, 2021. Online: https://res.bibb.de/vet-repository_779586 (abgerufen am 21.10.2022)

Autoren

  • Leiterin der Referate Frühkindliche Bildung, Schulpolitik, Inklusion, Alphabetisierung und Grundbildung beim DGB-Bundesvorstand

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  • Mario Patuzzi studierte u.a. Politikwissenschaften, Soziologie und Neuere und Neueste Geschichte und schloss noch mit dem Abschluss „Magister Artium“ ab. Zudem ist er non-formal zertifizierter Sozialbetriebswirt. Seit 2004 arbeitet er als Gewerkschaftssekretär, zuerst als Jugendsekretär in Augsburg für Schwaben und Oberbayern, dann als Bezirksjugendsekretär der DGB-Jugend Bayern in München. Dort begegneten ihm viele spannende Aufgaben, Tätigkeiten und Erfahrungen, vor allem aber seit 2008 insbesondere die Berufliche Bildung. Seit 2013 der Gewerkschaftsjugend entwachsen, widmete er sich kurzzeitig den breiten Themenfeldern der bayerischen Bildungs-, Forschungs- und Technologiepolitik beim DGB Bayern. 2014 kam der Wechsel nach Berlin als Referatsleiter für Grundsatzfragen der Berufsbildung / Weiterbildung mit einem schwer abzugrenzenden und hin und wieder auch ausufernden Portfolio. Als Beispiele seien nur wenige Stichworte genannt: BBiG, AZAV, Cedefop, DQR, Validierung, NWS u.v.m.

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