Der Wandel der Arbeitswelt in Deutschland

Welche Chancen bietet die Validierung non-formal und informell erworbener Kompetenzen?

Franziska Laudenbach (Politikwissenschaftlerin)

Einleitung

Der seit Jahren konstatierte Wandel der Arbeitswelt bewegt viele Bereiche und Akteur*innen in der deutschen Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik ebenso wie in Wissenschaft und Forschung. Viele Initiativen sind im letzten Jahrzehnt entstanden, um sich damit auseinander zu setzen und Strategien im Umgang damit zu entwickeln (bspw. die Nationale Weiterbildungsstrategie verschiedener Ministerien und Sozialpartner oder auch die Kommission „Arbeit der Zukunft“ der Hans-Böckler-Stiftung). Die Herausforderungen des Fachkräftemangels, aber auch der Digitalisierung werden uns auch in den nächsten Jahren weiterhin beschäftigen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich beide Herausforderungen auch im Zuge der COVID-19 Pandemie noch einmal als besonders relevant erwiesen haben. Erste Schritte im Umgang damit wurden von verschiedensten politischen Akteur*innen initiiert. Besonders die Förderung von Weiterbildung scheint für viele das Gebot der Stunde zu sein. Die Möglichkeiten, die sich aus einer Validierung non-formaler und informeller Lernerfahrungen ergeben können, scheinen dabei aber eher wenig berücksichtigt zu werden. Welche Potenziale bietet die Validierung non-formaler und informeller Kompetenzen in diesem Kontext? Und was können wir von unseren Nachbarländern lernen, um diese Potenziale nachhaltiger und umfassender auszuschöpfen? Diesen Fragen werde ich in diesem Beitrag nachgehen. Dafür erfolgt zunächst eine Darstellung des Status quo – wo stehen wir eigentlich gerade und wo legen die politischen Akteur*innen zurzeit ihre Schwerpunkte?

Wo liegen die aktuellen Schwerpunkte im Umgang mit dem Wandel der Arbeit?

Mit Blick auf arbeitsmarkt- und bildungspolitische Ansätze hat sich die Suche nach Lösungsmöglichkeiten für die anstehenden Veränderungsprozesse in der Arbeitswelt in Deutschland vor allem auf den Bereich der Weiterbildung fokussiert. So legt die Nationale Weiterbildungsstrategie, die im Jahr 2019 von verschiedenen Bundesministerien und sozialpartnerschaftlichen Organisationen verfasst wurde, vor allem ihren Schwerpunkt in der Ausweitung und Verbesserung von Weiterbildungsangeboten. In dieser Strategie wird auch auf die Sichtbarmachung und Anerkennung von berufsrelevanten Kompetenzen, die außerhalb des formalen Bildungssystems erworben wurden, verwiesen (BMBF 2019). Dies erscheint aber nur als ein kleines Puzzleteil im Gesamtkonstrukt der Nationalen Weiterbildungsstrategie.

Auch die Kommission „Arbeit der Zukunft“ formuliert in ihren Denkanstößen die Relevanz von Bildung insbesondere in Prozessen der Veränderung: „Sie legt den Grundstein für eine mündige Existenz, Urteilsfähigkeit, Verständnis für komplexe Zusammenhänge und einen aktiven Bürgerstatus in einer demokratischen Gesellschaft – und sie bereitet, so der Idealfall, die Menschen auf Berufseinstieg, Aufstieg und Umstieg im Erwerbsleben vor“ (Jürgens et al. 2017: 80, Hervorhebung im Original). Die gleiche Kommission stellte auch fest, dass Bildung, Weiterbildung und Berufliche Bildung einem Veränderungsdruck ausgesetzt sind und es nachhaltige Ansätze braucht, damit umzugehen. Die Kommission sieht Handlungsbedarf vor allem mit Blick auf Niedrig- bzw. Unqualifizierte Arbeitnehmer*innen, die, so die Prognosen, zukünftig mit einem Arbeitsverlust rechnen müssten (Jürgens et al. 2017: 85).

Im Rahmen der Qualifizierungsoffensive verabschiedete die Bundesregierung ein Qualifizierungschancengesetz, das zum 01.01.2019 in Kraft trat. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf einem vereinfachten Zugang zu Weiterbildung für Arbeitnehmer*innen, die besonders vom Strukturwandel betroffen sind. Darüber hinaus forciert dieses Gesetz eine verstärkte, lebenslaufbegleitende Beratung die durch die Agentur für Arbeit durchgeführt wird und so im Sinne des Lebenslangen Lernens einen flexibleren Ansatz von Lernen unterstützt. Der hier nur kursorische Überblick über Ansätze zum Umgang mit dem Wandel der Arbeitswelt zeigt einen Fokus im Bereich der Weiterbildung. Die Validierung non-formaler und informeller Kompetenzen spielt hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Aus meiner Sicht wird hier aber viel Potenzial verschenkt, das wir dringend für die Bewältigung des Wandels der Arbeitswelt nutzen sollten.

Was steckt hinter der Validierung non-formal und informell erworbener Kompetenzen?

Primär haben Validierungsverfahren das Ziel, eine Bewertung und Vergleichbarkeit von Lernergebnissen zu ermöglichen, bei der auch non-formale und informelle Lernprozesse berücksichtigt werden[1]. Die Europäische Kommission hat sich bereits im Jahr 2012 dafür entschieden, Validierungsverfahren stärker zu forcieren. Im Rahmen einer Empfehlung hat sie alle Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, ein Validierungssystem im Einklang mit ihrem Bildungssystem zu implementieren (Europäischer Rat 2012). Das CEDEFOP hat dafür einen idealtypischen Ablauf von Validierungsverfahren entwickelt, der trotz aller Unterschiedlichkeit in den verschiedenen Mitgliedsstaaten eine gewisse Kohärenz sicherstellen soll. Demnach sollte der Validierungsprozess aus vier Schritten bestehen: (1) Die Identifikation der Lernerfahrungen, die eine Person in non-formalen und informellen Lernkontexten gesammelt hat, (2) die Dokumentation der individuell vorhandenen Kompetenzen und Lernerfahrungen, (3) die Bewertung der vorhandenen Kompetenzen und Lernerfahrungen durch geeignete Expert*innen, und (4) die Zertifizierung der vorhandenen Lernerfahrungen durch eine Qualifikation bzw. durch Vergabe von Leistungspunkten, die zu einer Qualifikation führen können (Cedefop 2016, 16).

Validierungsverfahren bieten im Transformationsprozess unterschiedliche Chancen, die im Portfolio der politischen Ansätze stärker berücksichtigt werden sollten. So kann eine Validierung den Zugang zu einem Bildungsabschluss, aber auch eine Anrechnung von Teilen eines Bildungsgangs ermöglichen bzw. zur Anrechnung von Lernergebnissen genutzt werden. Ebenso können Validierungsverfahren dem Erfahrungswissen, das Arbeitnehmer*innen im Zuge ihrer beruflichen Tätigkeiten durch non-formale Weiterbildungen oder informell on the job sammeln, einen Wert im Vergleich zu formalen Lernerfahrungen geben. Generell können Validierungsverfahren zu einer Aufwertung aller bereits vorhandenen, non-formal und/oder informell erworbenen beruflichen Kompetenzen beitragen (Laudenbach/Lis 2019).

Am Zentrum für Arbeit und Politik (zap) wurde das Erasmus+ Projekt EffectVPL[2] durchgeführt. Ein Ziel des Projektes war es, sich mit den Effekten einer Validierung non-formal und informell erworbener Kompetenzen für Geringqualifizierte zu beschäftigen. Mittels biographischer Interviews, die mit Personen mit Validierungserfahrungen in Deutschland, Dänemark, Polen und der Türkei durchgeführt wurden, konnten unterschiedliche Effekte für formal Geringqualifizierte ganz konkret herausgearbeitet werden. Hier hat sich gezeigt, dass Validierungsverfahren einen sehr positiven Effekt für formal Geringqualifizierte haben können. Einerseits gingen sie oft gestärkt aus solchen Verfahren heraus, da ihnen viel bewusster wurde, über welche Kompetenzen sie bereits verfügen. Andererseits konnten sie sich viel besser auf dem Arbeitsmarkt positionieren, da sie mehr in der Hand hatten. Generell erfuhren die Interviewten eine individuelle aber auch berufliche Aufwertung, die sie in ihrer Position im Arbeitsmarkt gestärkt hat.

Betrachten wir die Validierung non-formal und informell erworbener Kompetenzen im Kontext einer sich wandelnden Arbeitswelt, bietet es sich an, die bereits vorhandenen Kompetenzen von zukünftig von Stellenverlust betroffenen Arbeitnehmer*innen herauszuarbeiten und so ihre Potenziale für eine Weiterbeschäftigung an anderer Stelle (mit anderen Schwerpunkten) sichtbar zu machen. Dies könnte innerhalb eines Betriebes strategisch genutzt werden, müsste aber auch im Zuge von Betriebswechseln nachvollziehbar und verwertbar möglich gemacht werden. Erste Ansätze für Validierungsverfahren gibt es bereits in Deutschland in Form des Projekt Valikom (DIHK/DHKT 2018).

Was Deutschland von anderen Ländern lernen kann

Ein Blick in unsere Nachbarländer zeigt, dass hier noch viel mehr möglich ist. Als gutes Beispiel zeigt sich Dänemark. Hier sind Validierungsverfahren ein elementarer Bestandteil zu Beginn einer formalen Qualifizierung. Hier wird anhand von Validierungsverfahren festgestellt, welche Kompetenzen die Personen bereits mitbringen, die im Rahmen der geplanten Qualifizierung relevant sein können. Entsprechend der schon vorhandenen Kompetenzen, kann die geplante Qualifizierung den individuellen Bedürfnissen angepasst werden und z.B. entsprechend der bereits vorhandenen Berufserfahrungen gekürzt werden. Die Validierungsverfahren helfen hier eine höhere Passgenauigkeit für die Bedürfnisse der jeweiligen Person in der jeweiligen Situation zu schaffen (Aagaard 2015).

Polen wiederum hat seit 2016 ein neues nationales Qualifikationssystem (Zintegrowany System Kwalifikacji – ZSK), in dem auch non-formale und informelle Lernergebnisse einen großen Stellenwert einnehmen. Ziel dieses Qualifikationssystems ist es, vorhandene Ansätze zu ordnen und Kohärenz zu schaffen. Ein wichtiger Bestandteil des Qualifikationssystems stellt ein Qualifikationsregister dar, in dem alle Qualifikationen und Abschlüsse Polens hinterlegt sind und bei dem Lernergebnisse im Mittelpunkt stehen (und nicht nur formale Zertifikate) (Duda 2016).

Dänemark zeigt uns, dass es sich lohnt zu Beginn einer Weiterbildung von formal Geringqualifizierten aber auch von Fachkräften eine Bilanz der bereits vorhandenen Kompetenzen und Lernerfahrungen zu ziehen. Dies kann die von Arbeitsverlust betroffenen Arbeitnehmer*innen bestärken, ihnen ihre eigenen Fähigkeiten bewusster machen, möglicherweise aber auch eine Weiterbildung verkürzen. Hieraus kann sich letztendlich auch eine Zeit- und Kostenersparnis ergeben – sowohl für die Arbeitnehmer*innen, die Unternehmen aber auch für das Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland. Gleichzeitig können wir aus Polen die Idee eines Qualifikationsregisters mitnehmen. Ein solches Register, in dem bspw. Anforderungsprofile oder Tätigkeitsbeschreibungen von Mitarbeiter*innen in ihrer jeweiligen Rolle aufgeführt sind, könnte besonders die Mobilität über die Grenzen des aktuellen Betriebs deutlich erleichtern. Gleichzeitig würde ein solches Register non-formal und informell erlangte Kompetenzen sichtbarer machen und aufwerten.

Die hier beschriebenen Ansätze zeigen, dass es andere Möglichkeiten gibt, die Validierung aller Lernergebnisse praktisch umzusetzen und dabei vor allem die Kompetenzen der Individuen sichtbar zu machen. Gerade im Wandel der Arbeitswelt ist es wichtig, die von Stellenabbau betroffenen Arbeitnehmer*innen mit ihren individuellen Kompetenzen wahrzunehmen und ihnen einen beruflichen Wechsel so passgenau wie möglich zu ermöglichen.

[1] Die Europäische Union unterscheidet drei Ebenen des Lernens: formales Lernen, das in einem strukturierten Bildungskontext stattfindet und zu einem Schul- bzw. Berufsabschluss führt, non-formales Lernen, das strukturiert stattfindet, aber zu keinem formalen Abschluss führt und informelles Lernen, das en passant im Arbeitsalltag aber auch im privaten Kontext oder dem Ehrenamt stattfindet (Cedefop 2015, 15, zu den drei Ebenen des Lernens siehe auch: Rogers 2014).

[2] Effectiveness of VPL Policies and Programmes for Labour Market Inclusion and Mobility – Individual and Employer Perspectives, mehr Informationen zum Projekt finden sich hier: https://blogs.uni-bremen.de/effectvpl/

Aagaard, K. (2015): Ansätze und Verfahren der Anerkennung der Ergebnisse informellen und nonformalen Lernens bei formal Geringqualifizierten in ausgewählten Ländern. Länderstudie Dänemark. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Kompetenzen anerkennen. Was Deutschland von anderen Staaten lernen kann. Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 146-189.

BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung (2020): Das neue Berufsbildungsgesetz (BBiG). Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung. Download: https://www.bmbf.de/upload_filestore/pub/Das_neue_Berufsbildungsgesetz_BBiG.pdf (Zugriff am 13.12.2020).

BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung (2019): Wissen Teilen. Zukunft Gestalten. Zusammen Wachsen. Nationale Weiterbildungsstrategie. Download: https://www.bmbf.de/files/NWS_Strategiepapier_barrierefrei_DE.pdf

(Zugriff am 03.12.2020).

BQFG – Gesetz über die Feststellung der Gleichwertigkeit von Berufsqualifikationen (Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz – BQFG). Download: https://www.gesetze-im-internet.de/bqfg/BJNR251510011.html (Zugriff am 13.12.2020).

Cedefop – Europäisches Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (2016): Europäische Leitlinien für die Validierung nicht formalen und informelles Lernens. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. Cedefop references series; No 104. Download: http://dx.doi.org/10.2801/669676 (Zugriff am 11.12.2020).

Deutscher Industrie- und Handelskammertag/Deutscher Handwerkskammertag (2018): Talente sichtbar machen. Validierung als neuer Weg in der Berufsbildung. Ergebnisse und Handlungsempfehlungen des Verbundprojekts »Abschlussbezogene Validierung non-formal und informell erworbener Kompetenzen« von Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern. Berlin: Deutscher Handwerkskammertag/Deutscher Industrie- und Handelskammertag. https://www.valikom.de/index.php?eID=tx_securedownloads&u=0&g=0&t=1565042935&hash=1ee4c871e16a281a118257a08fcf442fe7356b75&file=/fileadmin/user_upload/valikom/download/valikom-abschlussbericht_10-2018_download.pdf (Zugriff am 01.08.2019).

Duda, A. (2016): Country report Poland. 2016 update to the European inventory of validation of non-formal and informal learning. Thessaloniki: European Center for the Development of Vocational Training. Download: https://cumulus.cedefop.europa.eu/files/vetelib/2016/2016_validate_PL.pdf (Zugriff am 01.08.2019).

Europäischer Rat (2012): Empfehlung des Rates vom 20. Dezember 2012 zur Validierung nichtformalen und informellen Lernens, (2012/C 398/01). Download:

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32012H1222(01)&from=EL (Zugriff am 11.12.2020).

Jürgens, K., Hoffman, R. & Schildmann, C. (2017): Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission »Arbeit der Zukunft«. Bielefeld: transcript Verlag.

Laudenbach, F. & Lis, A. (2019): Enhancing Mobility – validation of prior non-formal and informal learning and its impact on individuals’ employment biography. Qualitative insights from Germany and Poland. In: Widening Participation and Lifelong Learning, 21 (1), 8-28.

DOI: http://doi.org/10.5456/WPLL.21.1.8

Rogers, Alan (2014): The base of the iceberg. Informal learning and its impact on formal and non-formal learning. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Autor

  • Franziska Laudenbach hat Politikwissenschaft in Braunschweig, Toulouse und Bremen studiert. Seit 2017 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Arbeit und Politik (Universität Bremen). Hier beschäftigt sie sich insbesondere mit Fragen der Governance von Ausbildung, Weiterbildung und Arbeitsmarktpolitik. Mit einem vergleichenden Ansatz untersucht sie Arbeitsmarktmobilität, Berufsbildungssysteme und Validierungsverfahren in unterschiedlichen europäischen Ländern. Weiterhin erforscht sie Orte und Motive der Solidarität in der transnationalen Arbeitswelt. Im Rahmen eines BMBF Projekts untersucht sie Praktiken solidarischen Handelns in transnationalen Sozialen Dialogen und Europäischen Betriebsräten.

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