Kooperationsmodelle zwischen Arbeitsforschung und Gewerkschaften
Erfahrungen aus der Begleitforschung des IAQ zum gewerkschaftlichen Projekt Arbeit 2020
Prof. Dr. Thomas Haipeter (Leiter der Forschungsabteilung Arbeitszeit und Arbeitsorganisation am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen)
Arbeitsforschung und Gewerkschaften beschäftigen sich zwar mit dem gleichen Gegenstand der Entwicklung von Arbeit und Arbeitsbedingungen abhängig Beschäftigter, doch geschieht dies aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Interessen: Mitgliedergewinnung nach innen und Steigerung der – vor allem tarifpolitischen – Durchsetzungsfähigkeit auf Seiten der Gewerkschaften stehen die Einhaltung wissenschaftlicher Standards und das Streben nach Anerkennung in der wissenschaftlichen Community – nicht zuletzt durch „hochgerankte“ Publikationen – auf Seiten der Arbeitsforschung gegenüber. Diese Interessen sind nicht leicht unter einen Hut zu bekommen. Während die Gewerkschaften Lösungen für organisations-, arbeits- oder tarifpolitische Problemstellungen suchen, geht es der Arbeitsforschung darum, wissenschaftliche Befunde zu generieren, aus denen wiederum innovative Beiträge für den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs entstehen sollen.
Die Schwerpunktsetzungen zwischen den gewerkschaftlichen Problemlagen auf der einen und dem wissenschaftlichen Diskurs auf der anderen Seite können allerdings weit voneinander entfernt sein. Dies gilt erstaunlicherweise umso mehr, je größer diese gewerkschaftlichen Problemlagen sind; denn große Probleme können zwar Forschungsinteresse erzeugen, signalisieren aber auch einen Bedeutungsverlust und ziehen damit die Gefahr nach sich, allmählich aus einem (sozial-)wissenschaftlichen Diskurs ausgeblendet zu werden, der sich zunehmend um neue Trendthemen und zugespitzte Gegenwartsdiagnosen dreht. Ein Beispiel dafür ist das Thema „Agilität und agile Arbeitsorganisation“, neben dem Fragen der Tarifbindung oder betrieblicher Mitbestimmungsprozesse als „outdated“ gelten. Dies kann für Wissenschaftler*innen, die sich für solche Forschungsgegenstände interessieren, die praktische Folge, haben, dass sie im Diskurs marginalisiert und, als materielles Korrelat, bei der Besetzung von Stellen weniger berücksichtigt werden.
Dennoch könnten gerade daraus neue Schnittmengen gemeinsamer Interessen entstehen. Denn natürlich bestimmt der sozialwissenschaftliche „Mainstream“ die Szenerie nicht gänzlich. Und nach wie vor existiert eine Arbeitsforschung, die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung von Arbeit und Arbeitsbedingungen auf der einen Seite und ihrer kollektivvertraglichen Regulierung in den Arbeitsbeziehungen auf der anderen Seite in den Fokus ihres Interesses stellt. Dafür wiederum bietet die seit Jahren anschwellende Krise der Arbeitsbeziehungen in Deutschland mit ihren Erscheinungsformen wie dem Rückgang der Tarifbindung, der schrumpfenden Verbreitung der betrieblichen Mitbestimmung oder den Mitgliederrückgängen der Gewerkschaften einen zentralen Ausgangstatbestand. Dieser ist wiederum untrennbar verbunden mit neuen Trends und Entwicklungen wie der Digitalisierung oder der Dekarbonisierung. Je mehr die Gewerkschaften diese Trends aufgreifen und im Sinne ihrer Interessen politisieren, umso mehr lassen sie sich auch im wissenschaftlichen Diskurs als aufregende und interessante Akteure platzieren, die plötzlich nicht mehr zum alten Eisen gehören, sondern gesellschaftliche Trends mitgestalten.
Es ist also paradoxerweise dieser Fokus von Gewerkschaften und Arbeitsforschung auf gemeinsame Themen und Probleme gerade in der Verbindung der Krise der Arbeitsbeziehungen und -regulierung mit neuen Megatrends, der einen neuartigen Raum für Kooperationen eröffnet. Gewerkschaften, die neue Antworten für neue Probleme suchen und Wissenschaftler*innen, die belastbare Befunde zum Wandel der Arbeit unter den Vorzeichen der neuen Megatrends erforschen wollen, haben wieder einen gemeinsamen Handlungsgegenstand, nämlich die Frage der Regulierung und Gestaltung von Arbeit in einer sich digitalisierenden und dekarbonisierenden Ökonomie, denn mit diesem Gegenstand ist untrennbar die Frage der Verfassung und Entwicklung der kollektiven Akteure der Arbeitsregulierung und -gestaltung verbunden. Und, so lässt sich daraus schließen, wo gemeinsame Themen und Probleme existieren, lassen sich Schnittstellen identifizieren und es ist auch Raum für Kooperationen. Wie aber können solche Kooperationen zwischen Gewerkschaften und Wissenschaft aussehen?
Vor allem drei Ansatzpunkte oder Modelle der Kooperation fallen dabei ins Auge: Erstens der Rollenwechsel zwischen Gewerkschaft und Wissenschaft, der sich dadurch auszeichnet, dass sich Wissenschaftler*innen auch als Gewerkschaftler*innen definieren oder Gewerkschafter durch Publikationen auch am wissenschaftlichen Diskurs über Arbeit teilnehmen. Zweitens eine Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaft und Wissenschaft, die dadurch entsteht, dass Gewerkschaften als Untersuchungsobjekt oder als Quelle von Expert*innenwissen dienen und die Arbeitsforschung Wissen produziert, das von den Gewerkschaften zur Reflexion ihres Handelns genutzt werden kann. Und drittens schließlich gemeinsame Projekte, in denen Gewerkschaften und Wissenschaft in ihrer Vertretungs- und Forschungspraxis zusammenarbeiten und ihre jeweiligen Ziele und Interessen aktiv koordinieren und wechselseitig von ihren unterschiedlichen Kompetenzen partizipieren können.
Die beiden erstgenannten Modelle sind seit Jahrzehnten etabliert und bilden die „Normalformen“ der Kooperation. Das dritte Modell ist demgegenüber jung und wenig erprobt. Wichtige Beispiele dafür sind die neuartigen Transferprojekte, die in dem Beitrag von Manuela Maschke und Manfred Wannöffel angesprochen werden und in denen die gemeinsame Problemdefinition, Wissensgenerierung und dann der eigentliche Wissenstransfer im Vordergrund stehen. Ich möchte im Folgenden exemplarisch kurz ein anderes Beispiel beleuchten, dass kein Transferprojekt im engeren Sinne darstellt, sondern stärker ein innovations-, arbeits- und auch organisationspolitisches Projekt ist: das gewerkschaftliche Projekt „Arbeit 2020 in NRW“, das von den Gewerkschaften IG Metall, IG BCE und NGG und dem DGB Mitte des Jahres 2015 gestartet wurde.
Schon der von den Gewerkschaften gewählte Begriff „Projekt“ signalisiert, dass es sich hierbei um eine Praxis handelt, die man Gewerkschaften lange Zeit nicht zugeschrieben hat, während in der Wissenschaft das projektförmige Arbeiten, vor allem über die Drittmittelforschung, schon lange verankert ist. In den Gewerkschaften wurde erste gewerkschaftliche Projekte in den 2000ern als Organisationsform für Initiativen entwickelt, die nicht mit vorhandenem Personal und Ressourcen durchgeführt werden konnten. Diese Projekte haben sich auf unterschiedliche Themen bezogen; im Vordergrund standen dabei zum einen Projekte des Organizing, die mit Budgets, Zielen und Endzeitpunkten unterlegt wurden, und zum anderen Projekte der „Aktivierung“ der Betriebsräte durch neue Koordinierungs- und Unterstützungsleistungen der Gewerkschaften, mit deren Hilfe ihre Handlungsfähigkeit erhöht und ihre Aufmerksamkeit für neue Themen wie Digitalisierung oder Globalisierung geschärft werden soll. Genau um diese zweite Art von Projekt handelt es sich bei „Arbeit 2020“. Dabei war von Anfang an das Projekt als Rahmen gedacht, Handlungswissen durch Reflexion unterschiedlicher Perspektiven zu erzeugen. Neu an diesem Projekt – und im Unterschied zu Vorläuferprojekten wie dem Projekt „Besser statt Billiger“ der IG Metall – war, dass die Arbeitsforschung in das Projektdesign und damit in die Reflexion der Perspektiven integriert wurde. Während einzelne Projekte zuvor zwar auch Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung waren, zeichnete sich dieses Projekt demgegenüber durch eine enge Einbeziehung der Wissenschaft im Prozess des Projekts aus.
Diese Kooperation begann bereits vor der Antragstellung, als Gewerkschafter*innen, die das Projektvorhaben vorantrieben, und Wissenschaftler*innen des IAQ über die Frage diskutierten, wie sich ein Projekt gestalten ließe, in dem die Handlungsfähigkeit der Betriebsräte zum Thema Digitalisierung gesteigert werden sollte, und welche konstruktive Rolle Wissenschaft dabei spielen könnten. Daraufhin wurde relativ parallel Anträge bei Drittmittelgebern – das Land NRW im Falle der Gewerkschaften, die Hans-Böckler-Stiftung im Falle der Arbeitsforschung – gestellt und dankenswerterweise bewilligt, so dass dann der Prozess von Aktivierung und Forschung beginnen konnte. Im Zentrum des Projekts standen betriebliche Workshops, die Gewerkschaftssekretär*innen koordinierten, gewerkschaftsnahe Berater*innen moderierten und Wissenschaftler*innen – zumindest in zuvor mit den Gewerkschaften bestimmten Fällen, denn eine Begleitung in allen gut 20 einbezogenen Betrieben hätte die Kapazität des wissenschaftlichen Projektteils gesprengt – begleitet haben. Im Zentrum dieser Workshops standen vier Schritte: erstens die Bestandsaufnahme der Digitalisierung in den Betrieben in Form von Landkarten der Abteilungen, in denen mit Beteiligung von Beschäftigten als Expert*innen ihrer Arbeit Digitalisierungstiefe und Folgen für Beschäftigung und Arbeitsbedingungen abgetragen wurden; zweitens die Identifizierung der zentralen arbeitspolitischen Themen, die daraus folgten; drittens der Versuch, mit den Geschäftsleitungen dann betriebliche Vereinbarungen – im Projekt als Zukunftsvereinbarungen bezeichnet – zu treffen, in denen gemeinsame Prozesse definiert wurden, auf deren Grundlage Betriebsräte in die Digitalisierungsprozesse und die damit verbundene Arbeitsgestaltung stärker als zuvor einbezogen werden konnten; und viertens schließlich diese Prozesse und die Erkenntnisse auch in Handeln der Betriebsräte umzusetzen und dafür Anstöße und Begleitung zu anzubieten.
Die Rollenklärung unter den Projektpartnern war ein wichtiges Element in diesem Prozess. Dies galt zum einen für die Beziehungen zwischen Gewerkschaft und Beratung und die Frage, wer dabei konkret welche Aufgaben übernimmt, inwieweit also die Gewerkschaftssekretär*innen die Moderation mitgestalten und wann die Gewerkschaft die Federführung übernimmt; klar war dabei, dass die Verantwortung für Verhandlungen auf Seiten der Gewerkschaftler*innen lag. Insgesamt aber bildeten Gewerkschaft und Beratung zumeist eingespielte Teams. Dies galt für die Arbeitsforschung weniger; die Wissenschaftler*innen mussten ihre Aufgabe erst finden. Dazu gehörte zunächst die Protokollierung der Workshops, die für die weitere Ausgestaltung der Prozesse wichtig war. Dazu gehörte dann aber auch, aktiv in den Workshops zu intervenieren. Diese Intervention unterschied sich von denen der Gewerkschaften und der Beratung, denn dabei ging es zumeist um inhaltliche und fachliche Fragen, in denen wissenschaftliche Expertise gefragt war. So konnten z.B. in einem Fall die Ergebnisse betrieblicher Erhebungen zu den Arbeitsbedingungen in einem Betriebsbereich mit anderen wissenschaftlichen Daten gespiegelt werden und dem Management und den Betriebsräten dadurch aufgezeigt werden, dass hier gravierende Probleme vorlagen. Für die Legitimität dieser Aussagen aber war die strenge Rollentrennung wichtig; denn erst die Autorität der Wissenschaft verlieh ihnen Glaubwürdigkeit beim Management.
Die gemeinsame Arbeit im Projekt hielt noch einen weiteren wichtigen Punkt bereit, die gemeinsame Reflexion des Prozesses. Diese fand zum einen im Rahmen der betrieblichen Fälle statt. Hier gab es jeweils Vor- und Nachbesprechungen, in denen eine Marschroute festgelegt wurde und die Erfahrungen aus den abgelaufenen Workshops diskutiert wurden. Reflexionsrunden gab es aber auch im Gesamtprojekt; hier stellten die Wissenschaftler Zwischenauswertungen vor, die dann diskutiert wurden und in die weitere Prozessgestaltung im Projekt einbezogen wurden.
Daneben wurde weitere Kooperationen praktiziert, die eher der Logik der anderen beiden Kooperationsformen entsprach. Ein Aspekt war das Schreiben gemeinsamer Texte mit allen drei Prozessbeteiligten – Gewerkschaft, Beratung und Wissenschaft – mit sowohl wissenschaftlicher als auch praktischer Orientierung in der Logik des Rollenwechsels. Und ein zweiter Aspekt schließlich war die Auswertung und wissenschaftliche Analyse des Projekts im Rahmen eines Endberichts. Dieser Aspekt entsprach dem Modell der Arbeitsteilung, denn auf der einen Seite wurde damit Orientierungswissen systematisiert, das von der Gewerkschaft bei Bedarf genutzt werden konnte, zumal der gewerkschaftliche Projektteil deutlich länger lief als der wissenschaftliche. Und auf der anderen Seite profitierten die Wissenschaftler*innen von den Fallzugängen. Doch nicht nur das, sie konnten auch die vertieften Erfahrungen der gemeinsamen Workshops und damit ein Prozesswissen nutzen und auswerten, das der Wissenschaft sonst nicht zur Verfügung steht. An diesem Punkt wurde durch die Kooperation im gemeinsamen Projekt auch die Kooperation im Rahmen der Arbeitsteilung deutlich ausgeweitet.
Das Modell der gemeinsamen Projekte hebt damit die Kooperation zwischen Gewerkschaften und Arbeitsforschung auf ein neues Niveau und eröffnet beiden Akteuren deutliche Vorteile gegenüber den traditionellen Modellen. Die Kooperation wird auf einen gemeinsamen Projektprozess ausgeweitet, in den die Akteure mit ihren jeweiligen Rollen und Interessen eintreten und den sie durch die Reflexion ihrer unterschiedlichen Perspektiven voranbringen können. Dabei ist ein weiterer entscheidender Vorteil die Synchronisierung der Zeitperspektiven. Denn die wissenschaftliche Forschung hat für gewöhnlich einen anderen – und deutlich längeren – Zeithorizont als die gewerkschaftliche Problemlösung, so dass möglicherweise Wissen dann produziert ist, wenn das zugrundeliegende Thema oder Problem gar nicht mehr aktuell ist. In einem gemeinsamen Projekt hingegen löst sich dieses Dilemma auf.
Das heißt schließlich aber nicht, dass damit alle Probleme gelöst sind. Denn die Taktungen der Workshops und laufende gemeinsame Treffen stellen die Wissenschaftler*innen vor terminliche Verbindlichkeiten, die sie aus anderen Projektformen nicht gewohnt sind. Auch muss sich erst ein Verständnis der gemeinsamen Erwartungen einspielen. Dazu gehören ganz praktische Fragen wie die Form der Aufbereitung von Prozesswissen, damit dann darüber diskutiert werden kann, gemeinsame Sprachregelungen gegenüber Dritten und vor allem auch die Anforderung, Rollen und Arbeitsteilung laufend zu reflektieren. Dies gilt insbesondere für Formate wie Workshops, in denen Gewerkschaften und Arbeitsforschung nur dann erfolgreich zusammenarbeiten können, wenn sie sich an ihre Rollenvorgaben halten und politische Orientierungen und wissenschaftliche Expertise sauber trennen.