Interview – Plädoyer für ein gemeinsames Lernen zwischen praxisorientierter Soziologie und beratungsoffener Gewerkschaftspolitik
Uta Kupfer (Bereichsleiterin Berufsbildungspolitik), Prof. Dr. Sabine Pfeiffer (Hochschullehrerin) und Thomas Ressel (Ressortleiter bei der IG Metall)
Unter Coronabedingungen trafen wir uns am 07. Mai zu einem (virtuellen) Gespräch. Unsere Gesprächspartner*innen waren: Sabine Pfeiffer; Uta Kupfer und Thomas Ressel. Das Gespräch führten Roman Jaich und Bernd Kaßebaum. Als langjährige Kolleginnen und Kollegen haben wir im Gespräch das „Du“ genutzt.
1. Haben arbeitsorientierte Wissenschaft und Gewerkschaften eine gemeinsame Problemsicht?
Für eine gute Zusammenarbeit zwischen arbeitsorientierter Wissenschaft und Gewerkschaften – so würden wir gerne mit einer These beginnen – ist notwendig, dass beide Seiten eine gemeinsame Sicht auf die Probleme und Handlungsanforderungen rund um Arbeit und Bildung haben. Könnt ihr dieser These zustimmen? Gibt es Grenzen, z.B. aus der Tatsache, dass Gewerkschaften und Wissenschaft unterschiedliche Zeithorizonte haben: hier eher an der Tagespolitik orientiert, dort mit weiterreichenden und grundsätzlichen Perspektiven?
Thomas: Auch Gewerkschaften müssen über die Tagespolitik hinausschauen. Es gibt für mich ein gutes Beispiel. Vor einigen Jahren haben wir Sabine angesprochen, weil wir mit ihrer Hilfe eine Aussage empirisch begründen wollten, die für die Berufsbildungspolitik der Gewerkschaften zentral ist. Ich meine unser Selbstverständnis, dass berufliche Bildung eine große Innovationskraft für Arbeit und Gesellschaft hat. Wir stellten fest, dass trotz aller Belege eigentlich eine empirische wissenschaftliche Grundlage fehlte. Die war uns aktuell ganz wichtig, um den Stellenwert von Facharbeit und unsere Forderung nach einer partizipativen Gestaltung von Industrie 4.0 zu unterstreichen. Wir führten gemeinsame Workshops durch, die uns sehr halfen, empirische Daten und eine wissenschaftliche Begründung zu erhalten. In den Workshops zeigte sich schnell, dass wir eine gleiche Problemsicht bekamen und wir erkannten, dass wir in einem gemeinsamen Prozess waren, der längst nicht zu Ende ist.
Uta: Ich kann direkt anknüpfen. Zu Beginn der Diskussion über Digitalisierung prasselten jede Menge Studien auf uns ein, die behaupteten, mit der Digitalisierung kommt auch das Ende der Facharbeit und der dualen Berufsausbildung. Das hat ja Auswirkungen in den Führungsebenen der Unternehmen, wenn dort solche Studien akzeptiert werden. Ein Beispiel hierfür ist die Versicherungswirtschaft. Mindestens ein Bachelorabschluss, besser noch der Master wird zukünftig als Voraussetzung für die Arbeit in der Versicherungswirtschaft vermutet. Das hat dann auch Auswirkungen für die Eltern, die ihre Kinder über sinnvolle Ausbildungswege beraten wollen. Ich gebe zu, dass mich das auch ein Stück verunsichert hat. Und da haben mir deine Studien, Sabine, gut geholfen, weil sie alles ein Stück vom Kopf auf die Füße gestellt haben. Facharbeit wird sich wandeln, aber sie wird bleiben. Wir brauchen wissenschaftliche Expertise und das Beispiel zeigt, wie wichtig sie für uns ist.
Sabine: Vielen Dank für eure Einschätzungen. Ich weiß gar nicht, ob ich eine gute Repräsentantin für die Wissenschaft bin. Ich habe durch meine Biografie einen anderen Blick als viele Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft. Ich war im Betrieb, habe eine Ausbildung gemacht. Ich war Jugendvertreterin und bin über den Zweiten Bildungsweg und ein Stipendium meinen Weg in die Wissenschaft gegangen. Ich kenne Arbeit also aus einer anderen Perspektive. Ich bin deshalb mindestens so sehr Gewerkschafterin wie ich Wissenschaftlerin bin. Vielleicht ist dieser Hintergrund sogar wichtiger für meine inhaltlichen Positionen, z.B. zu meinem Verständnis von Arbeit, als die konkrete Zusammenarbeit in wissenschaftlichen Projekten oder in gemeinsamen Workshops mit den Gewerkschaften. Der von mir wissenschaftlich verfolgte „Arbeitsvermögensansatz“, also im Strukturwandel in den Beschäftigten nicht zuerst Qualifikationsdefizite zu erkennen, sondern ihr Arbeitsvermögen, ihre Erfahrungen und Kompetenzen zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu machen, ist mit diesem Werdegang verbunden.
Dennoch sind für mich die längerfristigen und gemeinsamen Prozesse nicht nur in der Wissenschaft, sondern gerade auch zwischen Gewerkschaften und Wissenschaften ganz wichtig. Zwei Beispiele, an denen ich beteiligt bin, sind der Arbeitskreis Arbeitsforschung und Arbeitspolitik bei der IG Metall oder der Wissenschaftliche Beraterkreis von ver.di und IG Metall zur Bildungspolitik.
Ich mache ein großes Fragezeichen beim Thema „Langfristigkeit“. Auf die Wissenschaft prasseln die gleichen, oft aus der Unternehmensberatung stammenden, kurzfristigen Studien ein, die damit auch einen Teil der wissenschaftlichen Debatte bestimmen. Wissenschaft wird dadurch zu kurzfristigen Aussagen gedrängt. Dazu kommen öffentliche Programmausschreibungen und die Prozesse in den Hochschulen selbst, in denen Kennziffern immer mehr Raum einnehmen.
2. Interessen- und Anwendungsbezug von Wissenschaft
Sabine, dein letztes Argument haben wir so verstanden, dass wissenschaftliche Erkenntnis als Antrieb für wissenschaftliches Handeln durch die genannten Entwicklungen nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher hat. Ist das richtig? Was ist es dann?
Sabine: Natürlich geht es Wissenschaft weiterhin um Erkenntnis. Aber die Bedingungen haben sich verändert. In der Wissenschaft gibt es vergleichbare Prozesse wie auch in der Wirtschaft. In den Hochschulen wird Wissenschaft immer mehr über Kennzeichen gesteuert. Da geht es um das Einwerben von Drittmitteln oder die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen, bei denen allerdings häufig nur die Publikationen gelten, die in der Regel wenig praxisorientiert sind.
Es gibt heute einen Drall hin zur Drittmittelförderung, der sich eine Wissenschaftlerin nicht entziehen kann. Man muss auch die dadurch initiierten Diskurse bedienen. Ein Problem für mich ist hierbei, dass die großen Programme, wie z.B. die vom BMBF, auch eine große Definitionsmacht haben. Dadurch werden Forschungsprojekte in den Randgebieten eher erschwert. Aber es gibt auch eine andere Seite. Über den Weg der Drittmittelforschung, z.B. über die Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung, können auch gewerkschaftliche Fragestellungen verfolgt werden.
Thomas, um noch einmal von einer anderen Seite auf das Thema zu schauen: Wenn es einen Widerspruch zwischen dem Selbstverständnis von Wissenschaft und der Realität von wissenschaftlichem Arbeiten gibt, wenn zudem der Anwendungsbezug von Wissenschaft umstritten ist, was können Gewerkschaften dann erwarten? Und noch einmal zugespitzt: Wieviel Interessenbezug im Sinne der Gewerkschaften ist der Wissenschaft dann noch möglich?
Thomas: Die Schilderungen von Sabine sind ernüchternd. Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verorten sich. Wissenschaft findet selbst in einem System von Interessenbezügen statt. Es gibt viele wissenschaftliche Veröffentlichungen, die wissenschaftlich unbestritten zu Ergebnissen kommen, die aus gewerkschaftlicher Sicht problematisch sind. Daher erscheint mir eine gemeinsame Problemsicht und ein in den Grundzügen gemeinsamer Interessenbezug zentral zu sein. Es gibt z.B. viele Studien zur Teilqualifizierung, die wissenschaftlich begründet sind, die sich aber an einem Verwertungsgedanken orientieren, der für die Gewerkschaften nicht akzeptabel ist, da dort letztlich Facharbeit in Frage gestellt werden. Dagegen steht unsere Position, Beruflichkeit als Ganzes zu erhalten.
Einerseits wurde von Sabine hervorgehoben, dass vergleichbare biografische Hintergründe, also Erfahrungen in der Ausbildung oder in der Erwerbsarbeit, für das Entstehen gemeinsamer Problemsichten und Interessenbezüge wichtig sind, andererseits ist doch schon mehrfach das Stichwort „Dialog“ gefallen. Wie müsste dieser Dialog zwischen Gewerkschaften und Wissenschaft aussehen?
Uta: Ein gutes Beispiel ist der Dialog, den wir im Gesundheitsbereich bei der Neuausrichtung in den Gesundheitsfachberufen begonnen haben. Da geht es um die Frage, wie zukünftig die Ausbildung stattfinden soll. Auch das neue Pflegegesetz spielt eine Rolle. Es geht um den künftigen Stellenwert der akademischen Bildung, aber auch um die Verhinderung möglicher kurzer Assistenzausbildungen. Wir haben hier zum Dialog mit der Wissenschaft eingeladen und offene Türen wahrgenommen, weil beide Seiten profitieren. Die Wissenschaftler*innen suchen Unterstützung für die Umsetzung der von ihnen entwickelten Konzepte, wir können unsere Argumente schärfen.
Was erwartet ihr in diesen Dialogen? Ist eure Erwartung, dass ihr eine gute Analyse bekommt? Oder erwartet ihr auch konkrete Handlungsanforderungen?
Uta: Uns ist ganz wichtig, dass wir uns nicht nur über die Analyse verständigen, sondern dass sich in den Gesprächen auch ein gemeinsames Verständnis von Handeln entwickelt. Es geht uns um einen gegenseitig fruchtbaren Dialog. Und dann nehmen wir diese Vorschläge auch an und beraten sie intern. Das praktizieren wir auch in anderen Bereich wie z.B. der öffentlichen Verwaltung. Uns ist dabei der Blick von außen ganz wichtig, oft sind wir als gewerkschaftlich Handelnde in einem Klein-Klein verfangen.
Thomas: Ich möchte Utas Argument ergänzen und kurz zu unserem Wissenschaftlichen Beraterkreis kommen. Natürlich erwarte ich mir gute wissenschaftliche Analysen, aber auch Handlungsempfehlungen. In den Papieren des Beraterkreises werden Empfehlungen gemacht, die mit gewerkschaftlichen Positionen übereinstimmen, die wir teilen und unterstützen, aber auch solche, zu denen im Moment andere Auffassungen vertreten werden. Damit muss man sich dann auseinandersetzen. Dies ist legitim und gewünscht, weil sie uns in den Gewerkschaften weiterbringen.
Wie sieht dieses Verhältnis von Analyse und Handlungsfähigkeit aus Sicht der Wissenschaftlerin aus? Gibt es da nicht auch manchmal ein Spannungsverhältnis, weil Wissenschaft durchaus auch ein kritisches Bild von Gewerkschaft und ihrem Handeln hat?
Sabine: Bezogen auf unsere gemeinsames Thema Beruflichkeit erlebe ich kein wirkliches Spannungsverhältnis. Aber es gibt durchaus Erfahrungen damit. So habe ich erlebt, dass in einem betrieblichen Projekt unterschiedliche Auffassungen zwischen den Hauptamtlichen der Gewerkschaft und den Betriebsratsvorsitzenden einerseits und den Forschern andererseits auftraten. Es ging den Forscherinnen und Forschern darum, herauszufinden, warum eine an sich gute Betriebsvereinbarung nicht wirklich umgesetzt und gelebt wurde. Der Streit entzündete sich daran, dass wir Forscher vorschlugen, auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Arbeitsbereichen einzubeziehen, um ihre Antworten auf diese Frage zu bekommen. Es lief nicht rund, unser Vorgehen war in diesem Fall nicht gewollt.
Ein anderer Punkt ist, dass es viele Zusammenhänge zwischen Gewerkschaften und Wissenschaft gibt, ich denke da z.B. an die großen gewerkschaftlichen Tagungen, da kann man nicht wirklich offen miteinander sprechen. Da gibt es Vertreterinnen und Vertreter von gewerkschaftsferneren Instituten, mit denen die Gewerkschaften die Zusammenarbeit suchen, weil sie sich durch sie mehr Renommee und Aufmerksamkeit erhoffen. Das kritisiere ich nicht. Das ist in einem gewissen Rahmen notwendig.
Ich wünsche mir aber zusätzlich Zusammenkünfte, wo ich auch mal aus der Rolle als Wissenschaftlerin, auch als gewerkschaftsnah arbeitender Wissenschaftlerin herausgehen und in die Rolle als Gewerkschafterin schlüpfen kann. Aber dafür braucht man gegenseitiges Vertrauen. Vielleicht auch überschaubare und längerfristig zusammenarbeitende Gruppen, in denen sich gegenseitig Vertrauen entwickeln kann.
3. Das Problem der gemeinsamen Pfadabhängigkeiten von Wissenschaft und Gewerkschaften.
Sabine, kannst du ein Beispiel aus deiner wissenschaftlichen Arbeit nennen?
Sabine: Eine meiner Fragen im Bereich der beruflichen Bildung im Kontext von Industrie 4.0 ergibt sich aus dem Arbeitsvermögensansatz. Gerade in der aktuellen Debatte über die Notwendigkeit von Weiterbildung in der Digitalisierung ist Weiterbildung zum Mantra der Digitalisierung geworden. Aus interessenpolitischer Sicht ist dieser immerwährende Ruf nach Weiterbildung jedoch aus meiner Sicht auch schwierig. Natürlich ist er notwendig. Aber die Beschäftigten werden in aller Regel als defizitäre Wesen gesehen, die den Strukturwandel nicht schaffen, wenn sie nicht in Weiterbildungsmaßnahmen gelangen.
Mein Ausgangspunkt sind aber die Erfahrungen, das Wissen und das Vermögen der Beschäftigten, ohne die Veränderung in der Vergangenheit nicht möglich war und ohne die auch die Herausforderungen durch Industrie 4.0 nicht bewältigt werden können. Das ist ein ganz anderer Ansatz. Natürlich kommst du dann auch an Weiterbildung. Aber was Weiterbildung in einem solchen Verständnis sein kann, spielt derzeit kaum eine Rolle. Gerade, weil die Beschäftigten in den nächsten Jahren für die Transformation gebraucht werden, hat man interessepolitisch einen Hebel, von dem ich meine, dass er von den Gewerkschaften nicht wirklich genutzt wird. Da könnten z.B. die Diskurse beginnen. Man kann gute Wissenschaft machen und in einem gemeinsamen Dialog nach Handlungsstrategien suchen. Wissenschaft kann dazu einen Beitrag leisten. Und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können sich an dieser interessenpolitischen Diskussion beteiligen.
Kann man deine Anmerkung zur Weiterbildung auch dahingehend verstehen, dass die gegenwärtige Diskussion manches verdeckt, was eigentlich diskutiert werden müsste, um den Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels gerecht zu werden?
Sabine: Ein klares „Jein“. Wenn interessenpolitisch immer wieder die Weiterbildung herausgehoben wird, entsteht ein Subtext, der sagt, dass die zentralen Probleme der Digitalisierung damit zu tun haben, dass die Beschäftigten nicht kompetent genug sind. Eigentlich müsste die Geschichte anders erzählt werden. Die Beschäftigten verfügen über Erfahrungen und Kompetenzen, ohne die die digitale Transformation nicht möglich wäre. Deshalb finde ich es bedenklich, dass immer wieder auf die Weiterbildung hingewiesen wird. Dabei wissen auch die Arbeitgeber nicht, was wirklich gute Konzepte sein könnten. Am Ende, sollte die digitale Transformation nicht so laufen wie erhofft, sind dann die Beschäftigten Schuld. Tatsächlich haben sie aber eine Menge geleistet, um den Strukturwandel hinzubekommen.
Thomas: Ich denke auch, dass man mit dieser Diskussion über Weiterbildung viel verdecken kann. Das betrifft uns in den Gewerkschaften auch. Aus meiner Sicht sollte man z.B. so ehrlich sein und sagen, dass man aufgrund der Rationalisierungseffekte von Digitalisierung auch gar nicht jeden und jede mitnehmen kann. Es wird Verliererinnen und Verlierer geben. Und wir tragen als Gewerkschaften durch unsere Art der Debatte ein Stück dazu bei, ob man diese Themen sieht oder nicht. Tatsächlich befinden wir uns in einem Verteilungskonflikt und da sehe ich auch eine Aufgabe für Wissenschaft, das deutlich auszusprechen. Da sollte die Wissenschaft die Finger in die Wunde zu legen und den Konflikt als Verteilungskonflikt im Kapitalismus benennen und diskutieren. Der Weiterbildungsdiskurs, so wie er gegenwärtig geführt wird, macht das Individuum verantwortlich, die strukturellen Aspekte bleiben außen vor. Das ist eine Anleihe an den Neoliberalismus.
Uta: Dazu noch ein Beispiel: In der Versicherungsbranche erleben wir erhebliche Veränderungen der Arbeitsorganisation, Stichwort Digitalisierung. Wir stellen hier fest, das Schadensabwicklung in deutlich stärkerem Umfang digital ohne Beteiligung von Beschäftigten erfolgt. Dies hat in der Branche zu Personalabbau geführt – wenn auch meist sozialverträglich. In einem Unternehmen wurde mit Betriebsrat und Gewerkschaft ein Zukunftstarifvertrag ausgehandelt, der auf Qualifizierung statt Personalabbau setzt.
Muss man daher nicht viel stärker in den bestehenden Weiterbildungsdiskurs eingrätschen? Besteht hier nicht die Gefahr, die sich ergibt, wenn sich sowohl Wissenschaft und als auch Gewerkschaften gemeinsam in einem Mainstream bewegen ohne ihn zu hinterfragen? Das kann sehr bequem sein, weil man sich gegenseitig bestärkt. Aber man kommt in diesem Diskurs anscheinend nicht an die wesentlichen Fragen. Das kann – so lässt sich der bisherige Diskussionsverlauf zusammenfassen – nicht der Kern eines produktiven Diskurses sein. Es stellt sich also nach wie vor die Frage: Wie kommt man an die wesentlichen Fragen und über sie an die Handlungsstrategien?
Sabine: Ich stimme zu, wenn man sagt, man muss diesen Diskurs kapitalismuskritisch erweitern. Aber das ist kein Konsens, auch nicht in den arbeitsorientierten Wissenschaften. Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es auch eine Gewerkschaftspraxis gibt, die durchaus pragmatisch ist und ihre guten Erfolge hat, selbst aber keine grundsätzlicheren Fragen aufwirft. Zudem kann es auch nicht die Lösung sein, den „schlimmen“ Kapitalismus ein weiteres Mal zu benennen, sondern es geht in meinem Verständnis um konkretes Handeln in sich wandelnden Kontexten. Für mich hat Wissenschaft allerdings auch eine Grenze. Nicht ich als Wissenschaftlerin habe die Aufgabe, kämpferische Parolen in die Betriebe zu tragen. Das ist Sache der Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. Da bin ich Zuschauerin. Aber – um in dem Beispiel zu bleiben – kann ich die Kampfbereitschaft empirisch erheben und gemeinsam mit den Gewerkschaftern daraus Handlungsperspektiven erarbeiten.
Thomas: Das Thema Weiterbildung ist für die Gewerkschaften ganz wichtig. Da möchte ich nicht missverstanden werden. Aber ich sehe die Gefahr, dass der Weiterbildungshype verteilungspolitische Fragen verdeckt. Die Gewerkschaften haben gute Vereinbarungen durchgesetzt. Es ist auch wichtig, sich weiter in der nationalen Weiterbildungsstrategie zu engagieren. Aber die Diskussion muss darüber hinaus gehen.
Würdet ihr der These zustimmen, dass es eine Aufgabe der arbeitsorientierten Wissenschaft ist, Pfadabhängigkeiten in Wissenschaft und Gewerkschaftsarbeit zu erkennen, Denkweisen zu hinterfragen und damit auch den Blick für andere Strategien zu öffnen?
Uta: Ich möchte mit einer Gegenfrage antworten: Müssen die Gewerkschaften die Veränderung der Arbeit und der Gesellschaft so klaglos hinnehmen, wie sie derzeit diskutiert und umgesetzt wird? Mit all den negativen Folgen für Beschäftigung und Arbeitsbelastungen? Wo die einen immer mehr arbeiten müssen und andere keine Arbeit mehr bekommen? Im Pflegebereich führt die Digitalisierung derzeit nicht zu Arbeitserleichterung oder zur Reduktion von Belastungen oder zu einer besseren Pflege. Es geht also um die Frage, welche Alternativen möglich sind. Und um die Frage, ob Digitalisierung zu humanerer Arbeit führen kann. Also, wie kann man den Digitalisierungsprozess gestalten, was kann Wissenschaft beisteuern. Gewerkschafterinnen und Wissenschaftlerinnen können die gleiche Frage stellen und die Arbeitsprozesse betrachten. Sie haben die Möglichkeit vorauszudenken, Alternativen zu finden und gestaltend einzugreifen. Gemeinsam können Wissenschaft und Gewerkschaften Betriebs- und Personalräte befähigen, sich einzumischen.
Sabine: Die angestrebten Rationalisierungs- und Automatisierungseffekte durch Digitalisierung funktionieren oft gar nicht. Die Gründe dafür können eine schlechte IT sein oder hat man unterschätzt, wie komplex diese Prozesse sind. Das herauszufinden, ist eine Aufgabe der Wissenschaft. Daran wird auch geforscht. Und da stößt man auf die BMBF- Förderung. Die ist interessegeleitet, die Gewerkschaften und Betriebs- und Personalräte sind häufig z.B. als Projektpartner beteiligt. Als Forscherin hat man aber keinen Einfluss darauf, wie sich Betriebs- und Personalräte in die Projekte einbringen, wo sie widersprechen, wo sie eigene Ideen haben oder warum sie z.B. in einer Situation sein können, dass man sich vielleicht gerade passiv verhält. Da helfen auch Hauptamtliche nicht immer, wenn sie selbst die betriebliche Interessenpolitik nicht erfahren haben und diese betriebspolitischen Zusammenhänge nicht kennen.
Wissenschaft ist auf Drittmittel angewiesen. Drittmittelprojekte tragen zur Reputation bei und sie schaffen Arbeitsplätze für wissenschaftlichen Nachwuchs. Die öffentlichen Forschungsförderstrukturen können aber das Gegenteil bewirken von dem was notwendig ist. Ein öffentlich gefördertes Projekt braucht vielleicht ein gutes Jahr, bis ein Projektverbund zusammengefügt, der Antrag gestellt und bewilligt ist. Dann stellt sich das ursprüngliche Problem oft gar nicht mehr wie man es mal vorfand. Oder der Verbund ist so komplex, dass das ursprüngliche Problem durch andere Themen überdeckt wird.
Welche Alternativen seht ihr?
Sabine: Bezogen auf eine Forschung, die direkt an den aktuellen Problemen in den Betrieben ansetzt und die offen ist für unterschiedliche Lösungen und Strategien, braucht man andere Strukturen, in denen man zeitnah in den Forschungsprozess einsteigen könnte. Da könnten kleinteilige Projekte vielleicht mehr bringen. Man könnte Zusammenhänge erkennen und Ergebnisse gemeinsam mit den betrieblichen Akteuren diskutieren und damit auch einen Beitrag für mehr Alternativen leisten. Ein möglicher Ansatz könnte eine Fallstudie sein, die könnte ein Lehrstuhl aus eigenen Mitteln realisieren. Dafür müssten die Gewerkschaften ihnen wichtige Fragestellungen nennen und einen Zugang in den Betrieb schaffen.
Thomas: Interessant ist es, auf die verschiedenen Ebenen zu schauen. Bei betrieblichen Projekten, zumal, wenn sie einen direkten wirtschaftlichen Effekt anstreben, fragt man sich, ob Forschung oder wissenschaftliche Beratung in jedem Fall öffentlich gefördert sein muss oder ob sie nicht vom Betrieb selbst geleistet werden kann. Dann sehe ich auf einer zweiten Ebene durchaus auch die Einflussnahme auf die Förderprogramme und die Initiierung und Begleitung von Projekten mit arbeitnehmerrelevanten Fragestellungen. Zudem möchten wir gerade gegenüber dem BMBF berufsbildungspolitische Fragestellungen aufwerfen, die sich nicht direkt in den Programmen wiederfinden. Und es gibt eine weitere Schiene: natürlich gibt es auch Projekte, z.B. auch in der IG Metall, die von der Gewerkschaft oder der Hans-Böckler-Stiftung initiiert und von ihr oder der Hans-Böckler-Stiftung finanziert werden.
Uta: Ich möchte noch eine Ebene ergänzen. Ich bin bei noch viel kleinteiligeren Ansätzen. Jeder Betriebs- oder Personalrat hat die gesetzliche Möglichkeit, Sachverständige hinzuzuziehen. Aber diese Möglichkeit wird viel zu wenig genutzt. Hier sehe ich gerade in den komplizierten Fragen der Digitalisierung noch viel Potenzial. Auch wenn das in der Regel kleine Projekte sind, die zudem einen starken betrieblichen Bezug haben, können sie auch für die Wissenschaft interessant sind.
4. Perspektiven
Unser Gespräch scheint Konsens zu haben, dass nicht die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Gewerkschaft an sich das Problem ist, sondern die Qualität der Zusammenarbeit. Wo seht ihr Ansätze für die Zukunft?
Thomas: Ich beziehe mich auf den Wissenschaftlichen Beraterkreis. Uns, d.h. den Hauptamtlichen, ist wichtig, dass die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch Gewerkschafter sind. Das ist eine wichtige Voraussetzung für das offene Gespräch und eine solidarische, auch strittige Diskussion. Und was mir ebenfalls ganz wichtig ist: der Beraterkreis ist unabhängig. Das ist aus meiner Sicht eine wichtige Voraussetzung, damit Probleme umfassend diskutiert und auch alternative Handlungsstrategien sichtbar werden. In dieser Konstellation bekomme ich Impulse, die ich in der Qualität nur in diesem Dialog bekommen und die ich an anderer Stelle in den Gewerkschaften umsetzen kann. Vielleicht ist der Beraterkreis hier in der Art, wie Wissenschaft und Gewerkschaften zusammenarbeiten können, auch Vorbild für andere Bereiche.
Uta: Gewerkschaften und Wissenschaft brauchen mehr Annäherung. Es braucht gemeinsame Zeithorizonte. Hier müssen – ergänzend zu dem was Sabine gerade gesagt hat – Gewerkschaften lernen, wieder verstärkt längerfristig zu denken und daraus ihre Fragen an Wissenschaft ableiten. Dazu kommt, dass es bei vielen Betriebs- und Personalräten auch immer noch Vorbehalte gegenüber Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gibt. Das sind Vorbehalte in der Sprache, vielleicht auch Milieu bedingte Unterschiede. An dieser Schnittstelle haben Hauptamtliche eine Aufgabe, Brücken zu bauen, Misstrauen ab- und Vertrauen aufzubauen. Das Thema „Sachverständige“, dass wir gerade diskutiert haben, sollte verstärkt in den gewerkschaftlichen Schulungen besprochen werden. Das könnte ein guter Ansatz der praktischen Zusammenarbeit zwischen den Betriebs- und Personalräten und interessierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sein. Da möchte ich dranbleiben.
Sabine: Der Dialog zwischen arbeitsorientierter Wissenschaft und Gewerkschaften, oder wie ihr eingangs mit Bezug auf Hans Jürgen Urban formuliert habt, zwischen „praxisorientierter Soziologie und beratungsoffener Gewerkschaftspolitik“, braucht Rahmenbedingungen. Dazu gehört, dass die Inhalte überwiegen. Der Dialog sollte problembezogen sein. Wenig attraktiv sind Formate, die ich auch an anderer Stelle bekommen kann, z.B. Tagungen, in denen sich Vortrag an Vortrag reiht. Sicherlich brauchen Gewerkschaften und Wissenschaften auch diese Begegnungen. Aber mir geht es um den gemeinsamen Dialog an offenen und auch noch unklaren Fragestellungen, die auf einer gemeinsamen Problemsicht basieren und in dem die Wissenschaft gewissermaßen als „Sparringpartner“ dienen kann. Diese Offenheit in einem Gespräch zwischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, die sich nicht scheuen, auch ungeklärte Sachverhalte zu thematisieren und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich selbst auch als Gewerkschafter verstehen, die mit ihren Mitteln und Kenntnissen ihren Beitrag zur Klärung dieser offenen Fragen leisten wollen, ist aus meiner Sicht wünschenswert.
Vielen Dank für das offene Gespräch!