Berufliche Handlungsfähigkeit als Voraussetzung aufwertungsorientierter Digitalisierung in der Akutpflege

Michaela Evans (Sozialwissenschaftlerin, Direktorin des Forschungsschwerpunktes „Arbeit und Wandel“ am Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule (Gelsenkirchen)) und Wolfram Gießler (Lehrer für Pflegeberufe)

Digitale Technik hält zunehmend Einzug in die Arbeitswelt professionell Pflegender, insbesondere in der stationären Akutversorgung. Viele Erwartungen gehen damit einher. Denn der Einsatz digitaler Technik eröffnet die Chance, um Belastungen in der professionellen Pflege zu reduzieren, pflegespezifische Versorgungs-, Informations- und Kommunikationsprozesse effizienter zu organisieren und die Versorgungsqualität zu erhöhen. Die digital gestützte Reorganisation von Verantwortungs-, Aufgaben- und Tätigkeitsfeldern in der professionellen Pflege gilt als Option, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Mit dem Einzug digital gestützter Arbeits- und Versorgungsprozesse wird jedoch die Bedeutung von Qualifikation, Kompetenz und Erfahrungswissen professionell Pflegender neu verhandelt. Zwar wird Kontext der digitalen Transformation nicht per se die Organisation von Arbeit im Konzept der Beruflichkeit zur Disposition gestellt. Gleichwohl geraten eine mögliche Erosion von Beruflichkeit und Dequalifizierungsrisiken in den Blick. Grundsätzlich ist für alle Berufsgruppen im digitalen Transformationsprozess erforderlich, dass berufliche Ansprüche und Interessen artikuliert und berufliche Handlungsfähigkeit sichergestellt werden muss (vgl. Meyer 2019, S. 122).

Dies gilt insbesondere für die Pflegearbeit mit und an Menschen. Denn subjektivierendes Arbeitshandeln, analytische Problemlösung und hermeneutisches Fallverstehen bilden den Ausgangs- und Bezugspunkt berufsfachlichen Handelns in der professionellen Pflege. Vor dem Hintergrund zunehmend digitalisierter Arbeits- und Versorgungsprozesse werden neue und erweiterte Kompetenzanforderungen für beruflich Pflegende diskutiert (vgl. Konttila et al. 2019; Höhmann/Schwarz 2017). Die Entwicklung „digitaler Kompetenzen“ zielt, auf Basis der Rahmenlehr- und -ausbildungspläne für die generalistische Pflegeausbildung, jedoch primär auf die Vermittlung von „Anwender- und Informationskompetenzen“. Demgegenüber wird der arbeitsplatz- und arbeitsprozessbezogenen Gestaltungs- und Reflexionskompetenz beruflich Pflegender für und in digitalisierten Arbeitswelten nur ein geringer Stellenwert eingeräumt (Becka/Bräutigam/Evans 2020).

Mit Blick auf die Aufwertung professioneller Pflegearbeit ist einerseits kritisch zu reflektieren, wie berufliche Handlungsfähigkeit unter der Bedingung technisch induzierter Formalisierung sichergestellt werden kann. Andererseits ist herauszuarbeiten, welche Relevanz berufliche Handlungsfähigkeit und das Erfahrungswissen professionell Pflegender für eine souveräne, berufsfachlich-emanzipatorische und qualitätsorientierte Techniknutzung im Arbeitshandeln haben. Damit werden Beruflichkeit und berufliche Handlungsfähigkeit als Voraussetzungen einer aus Sicht professionell Pflegender nutzenstiftenden Digitalisierung in den Blick genommen. Ausgehend hiervon sind folgende Fragen zu adressieren: Welche Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume existieren in digitalisierten Arbeitskontexten und wie werden sie von den professionell Pflegenden genutzt? Welche Aneignungspraktiken der Beschäftigten werden im Arbeitsalltag an der Schnittstelle von Informatisierung, technisch- organisatorischer Formalisierung und situativen Erfordernissen im patientenbezogenen Arbeitshandeln sichtbar? Welche Rolle spielen hierbei berufliche Handlungskompetenz und Erfahrungswissen beruflich Pflegender?

Ein solcher Zugang kann dazu beitragen, den Diskurs über die notwendigen Kompetenzen professionell Pflegender für eine aufwertungsorientierte Gestaltung der Digitalisierung vom Kopf auf die Füße zu stellen: Denn ob der Einsatz digitaler Technik hinsichtlich Entlastung, attraktiverer Arbeitsbedingungen und höherer Versorgungsqualität gelingt oder misslingt, ist nicht allein von strategischen Roadmaps, spezialisierten IT-Stabsstellen oder Anwenderschulungen abhängig. Entscheidend ist, wie beruflich Pflegende die Nutzung digitaler Technik in ihrem Arbeitshandeln reflexiv, d.h. unter Berücksichtigung situativer Handlungserfordernisse faktisch gestalten und unter Rückgriff auf berufsfachliche Erfordernisse ausgestalten können.

Digitalisierung und berufliche Handlungsfähigkeit: Erfahrungswissen und interpretierende Gestaltung

Folgen der Digitalisierung für Beruflichkeit und berufliche Handlungsfähigkeit ergeben sich nicht zwangsläufig aus der eingesetzten Technik. Für den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in der Krankenpflege wurde schon früh gezeigt, dass betriebliche Gestaltungsspielräume zur arbeitsorganisatorischen Auslegung eingeführter technischer Systeme und für soziale Praktiken ihrer Einbindung in den Arbeitsalltag der Beschäftigten existieren (vgl. Wagner 1991). Rinard (1996) kritisiert in einer historischen Analyse technischer Transformation der beruflichen Pflege für die Jahre 1950 bis 1990 in den USA, dass die sozialwissenschaftliche Forschung zum Technikeinsatz in der Pflege mit einem verengten Blick arbeite. Diese zeige zwar auf, wie Technikeinsatz nicht nur Arbeitsroutinen beruflich Pflegender verändere, sondern auch Dequalifizierung befördere, aber professionelle Empathie, Beziehungskompetenz und „tacit knowlegde“ in diesem Kontext oftmals ausblende. In der betrieblichen Praxis wird deutlich, dass professionelle Pflege jenseits bisheriger Formalisierungsformen durch die digitale Transformation auf neue Art unter Rationalisierungsdruck gerät. Dabei verändern sich nicht nur Arbeitsprozesse, Aufgaben und Tätigkeiten, sondern es werden auch neue Formen der Inwert-Setzung von Pflegearbeit sichtbar (vgl. Jungtäubl et al. 2018).

Das arbeitssoziologische Konzept der „Aneignung“ fokussiert auf „Antworten der Subjekte auf gestellte Herausforderungen, den damit verknüpften Leistungsansprüchen sowie auf ihre aktiven und kreativen Handlungen“ (vgl. Baethge-Kinsky/Kuhlmann/Tullius 2018: 94; Walker 2017). Aneignung fokussiert das Subjekt und seine kreativen Eigenleistungen unter organisationalen Rahmenbedingungen (Eigensinn). Hierüber werden Prozesse des „interpretierenden Gestaltens“ offengelegt und die Strategiefähigkeit der Subjekte betont. Es geht gerade nicht um situativ kompetentes Arbeitshandeln in dem Sinne, dass professionell Pflegende dafür sorgen können, dass Technik funktioniert. Gerade interaktive Arbeitsprozesse in der professionellen Pflege implizieren komplexe Empathie, situatives Handeln und zeitkritische Reaktion. Für digitale Arbeitskontexte in der professionellen Pflege geht es somit nicht nur um ethische Implikationen der Techniknutzung im beruflichen Handeln (vgl. Remmers 2019), sondern darüber hinaus rücken Spannungsverhältnisse von Sicherheit und Kontrolle im Arbeitsprozess, Folgen der Techniknutzung für das Problemlösungshandeln beruflich Pflegender sowie der Status von Erfahrungswissen und Kompetenz in den Mittelpunkt.

Ausgehend hiervon gewinnt die Fähigkeit der Beschäftigten zur Selbstbeobachtung im Arbeitshandeln an Gestaltungsrelevanz, insbesondere mit Blick auf Diskrepanzen zwischen standardisierten Programmen und Realprozessen (vgl. Evans/Hilbert 2020). Nicht zuletzt der Bedeutungsgewinn „intelligenter“ Assistenz- und Entscheidungsunterstützungssysteme in der beruflichen Pflege lenkt die Perspektive darauf, welche spezifischen Aspekte des Pflegerischen und welche Leistungen der Beschäftigten sich mittels digitaler Technik einerseits entbergen lassen, und welche nicht abbildbaren Aspekte andererseits verborgen bleiben (vgl. Hülsken-Giesler 2020). Technik darf somit nicht auf eine instrumentelle Logik reduziert werden, sondern sie ist selbst Reflexionsbegriff (vgl. Grunwald/ Julliard 2005, S. 140). Dies bedeutet, dass oftmals erst in einem systematischen Reflexionsprozess über Erfahrungen mit Technik im Arbeitsprozess Orientierungen, berufsfachliche Gestaltungsspielräume und -risiken sichtbar und erfahrbar werden.

Experimentierraum DigiKIK: Formalisierung, Erfahrungswissen und kollektive Lernprozesse

Das Projekt „DigiKIK – Digitalisierung – Krankenhaus – Interaktion – Kompetenz“ wird im Rahmen des BMAS/INQA-Programms „Experimentierräume“ gefördert (Laufzeit: 2018-2021). Es widmet sich der Fragestellung, welche Herausforderungen für das betriebliche Kompetenz- und Personalmanagement bei der Anwendung digitaler Technik in interaktiven Arbeitskontexten in Krankenhäusern entstehen. Wie im Projekt DigiKIK deutlich wurde, findet die Kompetenzentwicklung von Pflegekräften im Umgang mit digitalen Techniken häufig durch informelle Lernprozesse statt. Die formelle Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, sei es zur Digitalisierung oder auch zu anderen beruflichen Handlungsfeldern, hat aus Sicht der Beschäftigten einen deutlich geringeren Nutzen für die Aufgabenerfüllung und die Bewältigung veränderter Arbeitsprozesse. Dem gegenüber steht ein noch weit verbreitetes Verständnis der Personalentwicklung, das primär auf geplante und gezielte Lernvorgänge ausgerichtet ist. Ungeplante Lernvorgänge, Sozialisations- und Integrationsleistungen im Arbeitszusammenhang werden dabei explizit als Bestandteil der Personalentwicklung ausgeschlossen (vgl. Becker 2005, S. 3).

Durch die Digitalisierung werden jedoch gerade informelle und unvorhergesehene Entwicklungs- und Lernprozesse zum Gegenstand der Personalentwicklung (vgl. Dehnbostel/Gießler 2019). Für die berufliche Pflege ist das informelle Lernen schon immer ein wesentlicher Bestandteil ihrer Kompetenzentwicklung und Beruflichkeit. Dabei gilt: „Informelles Lernen kann nicht erzeugt werden, es entsteht individuell in unorganisierten Alltagsbedingungen und braucht genau diese. Unterstützt werden soll und kann vielmehr das Design im Sinne einer attraktiven und herausfordernden Lernlandschaft als ein kreativer Möglichkeitsraum, in dem individuelle Um- und Abwege nicht nur in Kauf genommen, sondern als genuin eigene Such- und Erkenntnisprozesse ermöglicht werden und erwünscht sind“ (Kirchhoff 2007, S. 174). Auf technische Unterweisung zielende Anwendungsschulungen reichen deshalb nicht aus, weil in digitalisierten Arbeitskontexten Beschäftigte im Arbeitshandeln zwischen Informationsgewinnung und Informationsnutzung agieren, sie reflektieren Diskrepanzen zwischen standardisierten Programmen und Realprozessen und nutzen hierbei ihr Erfahrungswissen interpretierend und korrigierend.

Formalisierung, informelles Lernen und die Rolle von Erfahrungswissen

Am Beispiel digitaler Eingaben zum Pflegeassessment wird dies deutlich. So ist der Barthel-Index (BI) ein Assessmentinstrument zur Beurteilung der Selbstständigkeit eines Patienten und wird von den Kostenträgern für die Gewährung von Rehabilitationsleistungen gefordert. Zeigen die erhobenen Werte des BI ein höheres Maß an selbstständiger Ausübung bei Mobilität und Übernahme der Körperpflege durch Patient:innen, wird dies als Indikator für die Wirksamkeit beispielsweise aktivierender Pflege angesehen und zugleich gegenüber den Kostenträgern die Rehabilitationsfähigkeit des Patienten für eine geplante Anschlussheilbehandlung dokumentiert. Die digital erhobenen Daten sind also sowohl für den Qualitätsnachweis als auch für die leistungsrechtliche Gewährung der Versorgung relevant. Der erhobene Punktwert des Barthel-Index müsste im Idealfall aus dokumentierten Beobachtungen und Maßnahmen im digitalen Pflegebericht nachweisbar sein. An dieser Stelle kommen jedoch die realen Arbeitshandlungen der Pflegekräfte und die individuelle Situation des Patienten ins Spiel, die durch die digital vorgegebenen Skalen des BI und standardisierte Eingabefelder nicht abgebildet werden. Um die Versorgungssituation adäquat fachlich einzuschätzen, sind neben der digitalen Eingabe u. a. folgende Fragen relevant:

  • In welchen Situationen zeigt der Patient einen erhöhten Selbständigkeitsgrad und wodurch wird dieser begünstigt oder auch wieder eingeschränkt?
  • Welche Rolle spielt die Umgebung, die Arbeitsorganisation oder die unterschiedliche fachliche Kompetenz im Pflegeteam?
  • Wie lösen Pflegekräfte das fachliche Spannungsfeld auf, dass in den Expertenstandards standardisierte Assessmentinstrumente von ihrer Evidenz eher kritisch gesehen werden, jedoch kostenträger- und abrechnungsinduzierte Vorgaben für den Einsatz des Barthel-Index in der Einschätzung von Patienten eingesetzt werden müssen?

Aus der Perspektive einer kostenträgerrelevanten Datenerfassung steht in dieser Arbeitssituation die formalisierte Eingabe von Assessmentdaten im Vordergrund. Die dahinter liegende berufsfachliche Anforderung und Kompetenz, den Patienten, die Versorgungssituation und den institutionellen Kontext in die Beurteilung des Pflegebedarfs mit einzubeziehen, wird über die digitale Ebene dieses Arbeitsprozesses möglicherweise nicht hinreichend abgebildet. Dies hat einerseits zur Folge, dass vorhandenes berufliches Erfahrungswissen zur Einschätzung der Selbstständigkeit eines Patienten nicht sichtbar wird, weil es für die digitale Ebene nicht relevant ist. Andererseits wird eine komplexe pflegerische Arbeitssituation auf die formale digitale Ebene reduziert, in der eine reflexive fachliche Einschätzung nicht vorgesehen ist. Im Arbeitshandeln erbringen die professionell Pflegenden zwischen formalisierter Dokumentation einerseits und erfahrungsbasierter Bewertung situationsspezifischer Erfordernisse andererseits eine Eigenleistung. Digitalisierung ohne eine gesicherte berufsfachlich-reflexive Rahmung, die in den Arbeitsprozessen selbst verankert und organisatorisch unterstützt wird, birgt die Gefahr, das berufliche Kompetenz entwertet und Versorgungsmängel für Patienten entstehen (vgl. Urban/Schulz 2020, S. 85).

Kollektive Lernprozesse und Kompetenzerfordernisse

Soll Digitalisierung in der Pflege die Erwartungen nach Entlastung und Aufwertung der Arbeit und Verbesserung der Versorgung erfüllen, sind arbeitsintegrierte Lernprozesse notwendig, die an das vorhandene informelle Lernen der Beschäftigten anknüpfen und dies methodisch-organisatorisch unterstützen. Im Gegensatz zu Anwendungsschulungen geht es um die Eröffnung von beteiligungsorientierten Lern- und Experimentierräumen in der Arbeit, in denen Beschäftigte gemeinsam ausprobieren, üben, sich austauschen und darüber Wissen und Kompetenz aneignen (vgl. Friemer 2020, S. 143). Im Rahmen des Projekts DigiKIK werden in den beteiligten Kliniken hierzu betriebliche Experimentierräume eingerichtet, in denen Beschäftigte Ideen für die Weiterentwicklung der Digitalisierung in ihren Arbeitsbereichen entwickeln, um diese Ideen anschließend auf ihre Umsetzbarkeit prüfen und erproben können. So wurden z. B. in einer beteiligten Klinik zunächst vier Ideenworkshops zu folgenden Handlungsfeldern durchgeführt: Digitale medizinische Dokumentation, Ergebnisorientiertes Pflegeassessment (ePA-AC), Zusammenarbeit Pflege und IT-Abteilung sowie Digitale Kommunikation. Dabei wurden die Ideen der Beschäftigten gezielt auf die zukünftigen Vorstellungen abgefragt unter der Leitfrage, was soll im Jahr 2024 in den benannten Handlungsfeldern mit Digitalisierung anders sein. Die Teilnahme an den Workshops war freiwillig und ein offenes Angebot für alle Beschäftigten der Klinik. An den Workshops nahmen insgesamt 23 Pflegekräfte teil. Die Dauer war auf zwei Stunden begrenzt und je Workshop wurde durchschnittlich 20 Ideen entwickelt.

Hier zeigte sich, dass die Beschäftigten sehr präzise Vorstellungen haben, wenn es um die Gestaltung und Integration digitaler Prozesse in die pflegerische Versorgung geht und auch die Umsetzbarkeit wurde unter Berücksichtigung der betrieblichen, organisatorischen und personellen Bedingungen realistisch eingeschätzt. So wurde z. B. für die weitere Umsetzung des Pflegeassessments folgende Idee entwickelt: „Pflegeverständnis und Pflegeleistung in Bezug zu ePA-AC muss geklärt werden, Arbeitsgruppen zu dieser Thematik müssen wieder aktiviert werden“. Aus Sicht der Teilnehmenden wurde die Idee als sofort umsetzbar eingeschätzt. Als nächster Schritt wird diese Idee nun mit den Beschäftigten im Rahmen des Projekts DigiKIK umgesetzt und erprobt. Durch dieses iterative Vorgehen wird ein Lernraum ermöglicht, in welchem die Veränderungen der Digitalisierung in ihren Folgen für die Pflegeprozesse in eine gestaltbare arbeitsintegrierte Lernform überführt werden. Grundlage dafür ist eine institutionalisierte Form der Beteiligung interessierter Beschäftigter, die durch die betriebliche Projektsteuerungsgruppe und den Betriebsrat der Klinik gewährleistet werden. Diese offene Form der Kompetenzentwicklung fördert die Reflexions-, Analyse- und Entscheidungskompetenz in digitalisierten Arbeitskontexten der Pflege (Becka/Bräutigam/Evans 2020, S. 11).

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Die Pflege ist gefordert, ihren arbeits- und berufspolitischen Zugang zur Digitalisierung programmatisch herauszuarbeiten. Für die Personalentwicklung entstehen mit digitaler Pflegearbeit auch Anforderungen an die reflexive (und nicht allein instrumentelle) Nutzung professioneller Standards. Eine einseitige Fokussierung in betrieblichen Digitalisierungsprozessen auf instrumentelle Kompetenzvermittlung im Sinne technischer Unterweisung greift hier zu kurz. Denn es zeigt sich, dass Digitalisierung gerade auch unnormierte Arbeitsvollzüge befördert, die durch unvollkommene formale Festlegungen überhaupt erst erzeugt werden (Wendt/Manhart 2020, S. 15). Die Herausforderungen im Arbeitsalltag entstehen durch eine sich wandelnde arbeitsalltägliche Realität, in der sich Anforderungen technisch induzierter Formalisierter mit den Anforderungen professionell Pflegender aus der Perspektive der Patientenorientierung situativ neu ordnen. Somit darf Digitalisierung der Pflegearbeit nicht allein auf Extraktion und Objektivierung setzen, sondern bleibt auf Erfahrungswissen, informelle und kollektive Lernprozesse angewiesen. Unabhängig vom Qualifikationsniveau professionell Pflegender gewinnt im Spannungsfeld digitaler Formalisierung einerseits und situativer, patientenorientierter Anforderungen andererseits die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung im Arbeitsprozess an Relevanz. Die Beteiligung von Beschäftigten an der Nahtstelle von digitalen Prozessen und ihrer Gestaltung für eine patientenorientierte Pflege fördert und erfordert zugleich Selbstreflexion, Selbstlernkompetenz und Selbstorganisation. Diese sind ein wesentlicher Faktor für die Beruflichkeit in der Pflege, gerade auch um Entwertung und Dequalifizierung durch Digitalisierung zu verhindern. Voraussetzung dafür sind die Bereitschaft und Fähigkeit von Führungskräften, betrieblichen Interessenvertretungen und Beschäftigten, sich auf Veränderungen als dauerhafte Konstante in der Arbeit einzustellen und eine Lern- und Veränderungskultur in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu entwickeln die, wie am Beispiel gezeigt, die Beruflichkeit der Pflegekräfte stärkt.

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Autoren

  • Michaela Evans, geb. 1972, Sozialwissenschaftlerin, Studium an der Ruhr-Universität Bochum. Direktorin des Forschungsschwerpunktes „Arbeit und Wandel“ am Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule, Gelsenkirchen. Forschungsfelder: Arbeitspolitik und Arbeitsbeziehungen in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft, Interessensorganisationen im Wandel, Arbeitsgestaltung in der personenbezogenen Dienstleistungsarbeit, Lehrbeauftragte an der Hochschule für Gesundheit (HSG), Bochum, Lehrbeauftragte an der Fakultät für Sozialwissenschaften, Ruhr-Universität Bochum.

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  • Wolfram Gießler, geb. 1958, Krankenpfleger, Lehrer für Pflegeberufe, Studium der Arbeitswissenschaft Universität Hannover, Bachelor Buisiness Administration Steinbeis Hochschule Berlin. Lebt in Wuppertal und arbeitet als Dozent und Berater in Projekten des BiG Bildungsinstituts im Gesundheitswesen. Lehrbeauftragter der Hamburger Fernhochschule in den Studiengängen Gesundheits-, Sozial- und Pflegemanagement, Studienschwerpunkt „Migration“. Beratung und Begleitung von Projekten zur interkulturellen Öffnung in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Wohlfahrtsverbänden

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