Anerkennung beruflicher Bildung
Instrument der Teilhabe und gewerkschaftliche Integrationspolitik
Falko Blumenthal (Politikwissenschaftler, Berufspädagoge) und Malte Meyer (Politikwissenschaftler)
Seit ungefähr zwei Jahrzehnten unterscheidet die deutsche Migrationspolitik über Zuwanderung nach dem Grad ihrer Nützlichkeit für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Während Armutsmigrant*innen möglichst schon an den europäischen Außengrenzen aufgehalten und an einer Weiterreise gehindert werden sollen, wird Hochqualifizierten und Fachkräften überall auf der Welt durch Portale wie make-it-in-germany.com ganz offiziell signalisiert, in Deutschland willkommen zu sein. Ihre Migration könnte, so zumindest ein Hintergedanke, einem bereits bestehenden oder in naher Zukunft drohenden Fachkräftemangel in bestimmten Regionen und Sektoren abhelfen. Zwar beteuert die sogenannte Fachkräftestrategie der Bundesregierung, dass auch bisher brachliegende inländische Potenziale bspw. durch Erhöhung der Frauenerwerbsquote noch besser erschlossen werden müssten, ein Fokus richtet sich seit 2012 aber ganz konkret auch auf Verbesserungen bei der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen. Insbesondere in pflegerischen oder medizinischen Berufen soll so der Mangel an geeignetem Personal behoben werden, der in der Coronakrise auch aus gewerkschaftlicher Sicht noch einmal besonders deutlich geworden ist. Tatsächlich sind deshalb in den zurückliegenden Jahren vielfältige Anstrengungen unternommen worden, das bis dahin recht komplizierte Berufsanerkennungswesen einfacher, transparenter und nutzerfreundlicher zu machen. Außer dem Aufbau einer Informations- und Beratungsinfrastruktur ist in diesem Zusammenhang vor allem die Einführung eines Anerkennungszuschusses zu nennen, mit dem seit 2017 zumindest ein Teil der im Anerkennungsverfahren auflaufenden Kosten abgedeckt werden kann.
Gewerkschaften unterstützen das Anerkennungsgesetz vor allem, weil es sich dabei um ein Instrument zur Verbesserung der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben handelt – in diesem Fall dem Zugang zum Arbeitsmarkt. Berufsanerkennung verbessert nach ihrer Einschätzung individuelle Arbeitsmarktchancen, ist aber auch Ausdruck kollektiver Wertschätzung gegenüber der Arbeits- und Lebensleistung von Menschen, die ihren Berufsabschluss im Ausland erworben haben. Eine grundsätzliche positive Beurteilung erleichterter Berufsanerkennungsverfahren hält die Gewerkschaften indessen nicht davon ab, im Einzelnen auch auf problematische Entwicklungen und konkrete Defizite hinzuweisen. So warnen sie beispielsweise davor, dass eine gezielte Anwerbung bspw. von ausländischen Pflegekräften dazu ausgenützt werden könnte, schlechte Arbeits- und Entlohnungsbedingungen im Pflegebereich zu konservieren. Der Umgang, den vor allem private Vermittlungsagenturen mit „ihren“ Arbeitsmigrant_innen pflegen, trägt nach bisherigen Erfahrungen jedenfalls nicht gerade dazu bei, solche Befürchtungen zu entkräften. Als bedenklich erscheint darüber hinaus auch die hier und da beobachtbare Tendenz, die Berufsausbildung durch Anpassungs- und Nachqualifizierungen stärker modularisieren und in Einzelteile zerlegen zu wollen. Aus gewerkschaftlicher Sicht können solche Angebote möglicherweise dazu ausgenutzt werden, mit neuartigen Schmalspurqualifikationen etablierte tarifliche Standards zu unterlaufen. Ein weiterer Widerspruch zum offiziell proklamierten Anerkennungsgestus bestünde schließlich darin, wenn anerkennungsinteressierte Kolleg_innen im Namen ihrer betrieblichen und Arbeitsmarktintegration nicht etwa die ihnen zustehenden Gehälter bekommen, sondern bspw. mit Praktikumsvergütungen abgespeist werden.
Durch politischen Lobbyismus, aber auch durch Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit bemühen sich die DGB-Gewerkschaften seit etlichen Jahren darum, das Berufsanerkennungsgeschehen möglichst beschäftigtenfreundlich auszugestalten und problematischen Entwicklungen entgegenzuarbeiten. Zu einem wichtigen Instrument ihrer Einflussnahme entwickelte sich seit 2014 das beim DGB-Bildungswerk BUND angesiedelte und vom Bundesbildungsministerium finanzierte Projekt Anerkannt. Durch seinen Fokus auf betriebliche Interessenvertreter_innen (wie Betriebs- und Personalräte, Vertrauensleute und auch hauptamtliche Gewerkschafter_innen) konnten Jahr für Jahr hunderte von Multiplikator_innen erreicht werden, die das Anerkennungsgesetz und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten in Betrieben und Verwaltungen bekannt bzw. bekannter gemacht haben. In Übereinstimmung mit ihren gewerkschaftlichen Grundüberzeugungen haben diese Kolleginnen und Kollegen so einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, einen manchmal vielleicht etwas hochtrabend klingenden Begriff wie Anerkennungskultur mit praktischem Leben zu füllen. Dank der Bildungsarbeit des Anerkannt-Projekts wissen zahlreiche Betriebsratsgremien und gewerkschaftliche Migrationsausschüsse heute ungleich besser, wie sie mit beruflichen Anerkennungsinteressen ihrer Kolleg_innen umgehen können und welche Beratungsstellen sie in Anspruch nehmen können. Zugewanderten Menschen, denen Deutschland ohnehin häufig allzu bürokratisch vorkommt, ist mit solchen guten Tipps und Hinweisen erfahrungsgemäß schon ziemlich geholfen.
Darüber hinaus sorgt die Arbeit der Gewerkschaften und des DGB für Sichtbarkeit von Anerkennung als eine Dimension von Solidarität: Beschäftigte mit Migrationsgeschichten auf Tagungen in ihrer Rolle als Erfahrungsexpert_innen und in der Öffentlichkeitsarbeit von Jahreskalender bis Social Media unterstützen „oben“ Prozesse der Selbstermächtigung von als migrantisch gelesenen Kolleg_innen „unten“. Augenhöhe im betrieblichen Alltag und in der Vergütung sind auch ein Ausdruck der Gemeinsamkeit von Interessen. Ob Pflegekraft oder Handwerkerin: Fachliche und rechtliche Anerkennung kann ein Baustein für Solidarisierung sein, gerade wenn die Bemühungen um Neuorientierung der Qualifikationsanalyse weg vom Defizitmodell und hin zu einem vielfaltsoffenen Kompetenzmodell in den Verordnungen ankommen.
Im Jahr 2020 verschärften sich die Tendenzen, die Beschäftigte und Neuzugewanderte zergliedern und spalten: Form der Einreise, Art der Qualifikation, „Systemrelevanz“ und Flexibilität der Beschäftigung sorgen für Beratungsarbeit der Projekte von Faire Mobilität bis zum IQ Netzwerk. Gleichzeitig sind Betriebsversammlungen, Sprechstunden und Gewerkschaftsdemonstrationen – die Orte, an denen eine gewerkschaftliche Perspektive auf Anerkennung diskutiert werden können – seltener geworden. Auch steigt der Druck auf Beratungsstellen: Einreisestopps, Reduzierung der betrieblichen Tätigkeiten und Kontaktverbote legen Anerkennungsverfahren auf Eis. Parallel suchen grade jetzt von Jobverlust bedrohte Beschäftigte nach Wegen zur Gleichwertigkeitsfeststellung oder Zeugnisbewertung. Auch jenseits der Arbeitswelt spielt Anerkennung eine teils dramatische Rolle: Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz hatte, trotz Einspruch der Gewerkschaften, den sogenannten „Spurwechsel“ ausgeschlossen. Damit kann im laufenden Prozess eine Asylbewerber_in nicht mehr in den Status Fachkraft wechseln. Geflüchtete Auszubildende, Akademiker_innen und Fachkräfte, auch in Mangelberufen, werden so aus Schulen und Betrieben heraus abgeholt und abgeschoben.
Trotz aller wichtigen Untersuchungen und Vorschauen der Hans-Böckler-Stiftung und ihrer Institute: Es herrscht Unsicherheit, welche Kosten die Krise weiter verursachen wird. Aus gewerkschaftlichem Blickwinkel: Welche weiteren Löcher in Biographien, Familien und Betriebe gerissen werden. Aus den Erfahrungen der Wirtschaftskrise 2009/10, vor allem aber aus unserer täglichen Arbeit in den Gewerkschaften und in der Beratung gehen wir davon aus, dass der Bedarf nach Beratung am Schnittpunkt Migration, Bildung und Arbeitsrecht intensiver wird. Auch Beratung für Beratungsstellen selbst kann wichtiger werden. Längerfristige Kurzarbeit, Betriebsschließungen und Neuorientierung ganzer Branchen in der Transformation können wieder vermehrt Menschen mit Migrationsgeschichten zu Ratsuchenden machen, die bei Kammern, Kommunen, Verbänden und Gewerkschaften anrufen. Hier wird auch digitale Beratung ihre Rolle finden. Sie darf aber nicht Gruppen von Anerkennungsinteressierten nach dem Grad ihrer digitalen Medienkompetenz ausschließen. Beratung und Bildung ist jedoch nicht allein Rolle von hauptamtlichen Strukturen: Außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit ist, trotz leerer Veranstaltungsräume in der Coronakrise, eine Chance, in Kontakt mit neuzugewanderten Communities zu treten: Mit der Präsenz des DGB im Quartier oder der Wohngebietsarbeit einiger Gewerkschaften kann dieser breite Beratungsbedarf zur Aktivierung der Ratsuchenden selbst werden. Vor allem aber kann hier durch Verweisberatung und Kontakt zu den Communities jeweils ein kleines Netzwerk von Anerkennungswissen angestoßen werden. Aber auch der Kernbereich gewerkschaftlichen Handelns kann dem kommenden Bedarf an Anerkennungsberatung und Verfahren der Kompetenzfeststellung begegnen. Sozialpläne und Tarifverträge können Beratungsleistungen und Freistellungen für Kompetenzfeststellungsverfahren, Qualifikationsanalysen und formale Schritte wie Kenntnisprüfung und Externenprüfung mit aufnehmen. Vorbild ist hier die Freistellung zum CNC-Kurs aus den 1970er Jahren. Begegnen Betriebs- und Tarifpolitik dieser Herausforderung im Handlungsfeld Migration, entwickeln sie dabei gleichzeitig Instrumente für Anpassungsqualifizierungen und Maßnahmen für die Breite der Beschäftigten – auch im Handlungsfeld ökologische und digitale Transformation der Berufe.
Zuletzt auch ein Blick auf 2022: Die anstehende deutsche Umsetzung der europäischen Validierungsrichtlinie für die Anerkennung non-formal und informell erworbener Kompetenzen kann ein neues Fundament für eine solidarische Diskussion um Anerkennung werden. Mit einem deutschen „Validierungsgesetz“ wird das Ungleichgewicht zwischen Erwerbssuchenden und Beschäftigten nach Ort und Art der beruflichen Qualifikation abgemildert. Wenn wir alle etwas haben, das wir uns anerkennen und validieren lassen wollen, sind breite Bewegungen zu einer solidarischen Anerkennungskultur wieder neu denkbar.