Uwe Elsholz hat eine Berufsausbildung zum Industriekaufmann absolviert und eine berufliche Tätigkeit als kaufm. Angestellter. Dann begann er das Studium der Sozial-, Verwaltungs- und Erziehungswissenschaften an den Universitäten Konstanz und Hannover sowie der FernUniversität in Hagen. Abschluss als Diplom-Sozialwissenschaftler (Universität Hannover). Dann war er Jugendbildungsreferent beim DGB Nord in Hamburg. Seine wissenschaftliche Karriere startete er als wiss. Mitarbeiter an den Universitäten Bremen, der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, dem Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb) in Nürnberg und ...
[weitere Informationen]
Die „digital natives“ kommen in den Hochschulen an. Die Entscheider im Hochschulsystem sind jedoch noch weitestgehend „digital immigrants“ – Professoren und Hochschulleitungen sind nur selten ähnlich medienaffin wie die Studierenden von heute. Vielleicht ist dies einer der Gründe dafür, dass die deutschen Hochschulen und das Hochschulsystem bisher nur in homöopathischen Dosen auf die digitale Herausforderung reagiert haben – von einzelnen Initiativen wie dem Hochschulforum Digitalisierung abgesehen. Dabei stellt die Digitalisierung nicht nur für viele Wirtschaftszweige die Frage nach möglicherweise disruptiven Innovation – das sind solche Innovationen, die ein komplettes Geschäftsmodell in Frage stellen (wie Amazon den stationären Handel oder Uber den Taximarkt grundlegend bedrohen).[i]
Es gibt gute Gründe für die Hochschulen, das eigene „Geschäftsmodell“ und hier vor allem die gegenwärtige Lehre kritisch in Frage zu stellen und weiter zu entwickeln. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass die Digitalisierung der Bildung letztlich zu derart attraktiven alternativen Bildungsmöglichkeiten führt, dass die Daseinsberechtigung der Hochschulen als Bildungsinstitutionen und Bildungsort in Frage gestellt wird. Diese These mag zunächst überzogen klingen – die starke Schrumpfung von Universitäten angesichts ihrer eigenen Erstarrung ist jedoch historisch nicht ohne Vorbild (vgl. Wehler 1987, S. 296f.), die Frage der Zukunft von Hochschulen angesichts der Digitalisierung wird bspw. in den USA ganz offen thematisiert (vgl. udemy 2016).
In Frage stehen das – zumindest für wissenschaftliches Wissen reklamierte – Wissensmonopol der Universitäten und damit auch deren zukünftige gesellschaftliche Bedeutung. Die angeführte These soll nachfolgend anhand verschiedener Entwicklungen begründet werden, die allesamt auf eine Gefährdung der Hochschulen hinauslaufen. An- und Abschließend werden Vorschläge gemacht, wie Hochschulen auf die Digitalisierung reagieren sollten, wobei sich diese Antwort – das sei vorweg genommen – explizit als pädagogische und weniger als technologische Reaktion versteht.
Nun aber zu den einzelnen Trends, die die Ausgangsthese stützen:
Die von den Anbietern selbst angegebenen Nutzerzahlen klingen beeindruckend – so spricht Coursera etwa von über 17 Millionen. Zum Glück – so ist bis dato aus Sicht deutscher Hochschulen zu konstatieren – ist diesen Anbietern allerdings noch kein überzeugendes Geschäftsmodell eingefallen. Die Zahl derjenigen, die längerfristig an MOOCs teilnehmen und diese auch beenden, ist äußerst gering im Vergleich zu den absoluten Teilnehmerzahlen. Dies liegt auch daran, dass die MOOCs in lerntheoretischer Hinsicht weitgehend antiquiert sind und neueren konstruktivistischen Ansätzen nicht gerecht werden (vgl. Schulmeister 2013, S. 37).
Nun ist aber auch hier die Diskussion bereits fortgeschritten und die Anbieter lernen dazu, betreuen die MOOCs stärker und treten der Vereinzelung der Lernenden entgegen (cMOOCs). Einzelne Anbieter wie udacity bieten auch bereits eigene Abschlüsse – so genannte „Nanodegrees“ – an, die auf Karrieren in der TechIndustrie vorbereiten sollen (vgl. udacity 2016). MOOCs sind auch in immer mehr Staaten Bestandteil der universitären Ausbildung, und so werden etwa über edX Kurse angeboten, die mit Credit points versehen sind und das Studium an diversen beteiligten Universitäten verkürzen sollen.
Es sind also zusätzliche „Wettbewerber“ im Bildungssektor entstanden, die bis dato zwar noch keinen durchgreifenden Erfolge erzielt haben, angesichts ihrer Finanzstärke aber technologisch nicht zu schlagen sein werden – und sofern sich mit Bildung Geld verdienen lässt, wie zuvorderst in den USA und England, werden diese Anbieter weiter aggressiv auf dem (Bildungs-)markt auftreten.
Neben den genannten kommerziellen Anbietern kommen andere Entwicklungen hinzu, die das universitäre Selbstverständnis in Frage stellen:
Zusammengefasst: Es gibt einerseits die Digitalisierung von Bildung neue kommerzielle Wettbewerber für Hochschulen, aber andererseits auch quasi emanzipatorische „Bedrohungen“ wie OER, Open education und Open Badges. Im Hinblick auf die MOOCs als exemplarisches Beispiel für die Digitalisierung sei auch an das als „Amara’s Law“ bekannte Diktum erinnert: „We tend to overestimate the effect of a technology in the short run and underestimate the effect in the long run” (Wikipedia 2015).
Der Historiker Andres Rödder kommt interessanterweise bei einer Analyse verschiedener technologischer, gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen der letzten seit den 1970er zu einer ganz ähnlichen Einschätzung. Danach zeigt sich auch bei Entwicklungen bezgl. der Frauenemanzipation, der Energiepolitik aber auch der Digitalisierung ein ähnliches Schema, nämlich dass sich kurzfristig viel weniger verändert als von den Apologeten einer Entwicklung vorhergesagt, dass aber andererseits mittel- bis langfristig solche Veränderungen viel tiefgreifender und grundlegender sind als anfangs angenommen (vgl. Rödder 2015).
Mit dieser Denkfigur wird noch deutlicher, dass das jahrhundealte Monopol der Universitäten zur Vermittlung und Weitergabe von Wissen durch die hier nur angedeuteten Entwicklungen ins Wanken gerät. Der Management-Vordenker Peter F. Drucker hat bereits 1997 den großen Einfluss der Digitalisierung auf das Hochschulsystem prophezeit: “Thirty years from now the big university campuses will be relics. Universities won’t survive. It’s as large a change as when we first got the printed book. (Drucker 1997) – zwanzig Jahre sind seither vergangen…
Es stellt sich vor diesem Hintergrund die nicht ganz unernste Frage, ob und wozu Hochschulen in zehn bis zwanzig Jahren noch gebraucht werden und welche Rolle sie spielen (können)?
Als Forschungsinstitution bleiben Universitäten von diesen Entwicklungen vermutlich weitgehend unberührt, aber braucht es sie noch als Bildungsinstitution?
Diese unterschiedlichen technologischen, ökonomischen und bildungspolitischen Trends kulminieren daher in der These: Hochschullehre in Formaten des 19. Jahrhunderts ist im 21. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß. Sofern sich Universitäten in Bezug auf die Hochschullehre nicht deutlich modernisieren, wird ihre gesellschaftliche Bedeutung als Bildungsinstitution dramatisch sinken.
Sie werden dann – da weiterhin staatlich legitimiert – immer stärker lediglich zu einer Zertifizierungsagentur des Bildungssystems: eine Art „Bildungs-TÜV“ für beliebig z.T. anderweitig und anderswo erworbenes Wissen. (Fach-)Wissen bereitstellen und vermitteln können andere Anbieter und Angebote schneller und flexibler.
Anders gesagt: Es gibt keine Ewigkeitsgarantie für die Universitäten – auch wenn die (vermehrt immer noch) verbeamteten Herren Professoren so tun und sich im Zweifelsfall auf Humboldt oder die grundgesetzlich abgesicherte Freiheit der Lehre berufen, um sich Veränderungen zu wiedersetzen (vgl. FAZ 2015). Die Berufungspraxis in Deutschland mit ihrem genuinen Fokus auf Forschungsleistungen, tut ein übriges, Anreize der Wissenschaftler zu Gunsten innovativer Lehre zu behindern.
Doch für die Institution ist ein Wandel unumgänglich: Um ein Alleinstellungsmerkmal und eine Bildungsfunktion zu erhalten, ist eine Fokussierung hochschulischer Bildung auf den Lernprozess notwendig, eine lernerzentrierte Hochschullehre. Zwar wird der Anspruch „from teaching to learning“ bereits seit geraumer Zeit von der Hochschuldidaktik postuliert (Welbers u.a. 2005), doch ist die hochschulische Lehre bis dato noch allzu oft traditionellen Formaten wie der Vorlesung verhaftet (Arnold 2015, S. 85ff.).
Einige wesentliche Aspekte einer solchen modernen Art der Hochschullehre wären:
Mit den hier nur angedeuteten und zu erweiternden Ansätzen wäre hochschulische Lehre deutlich zu modernisieren. Universitäten sollten nicht nur Wissen vermitteln, sondern Bildung ermöglichen und sich entsprechend organisieren. Digitale Medien können für die Erreichung dieses Ziels ein wichtiges Hilfsmittel sein. Dies gilt etwa für den Einsatz von E-Portfolios, die sowohl das Vorwissen der Studierenden aufnehmen können als auch dazu dienen können, den Lernprozess eines Studiums permanent zu reflektieren und damit die Studieninhalte zu individualisieren (vgl. Elsholz 2016). Der Einsatz von E-Portfolios in der Hochschullehre ist zwar punktuell vielfach erprobt, doch sind fast alle Einsatzszenarien stark technologisch geprägt (vgl. Miller/Volk 2013) und kaum je grundlegend in ein Curriculum eingebunden.
Ansätze des Learning Analytics können ebenfalls technologisch geprägt sein – wenn etwa bestimmte Lernwege vorgeschlagen werden aufgrund bestimmter Fehler, die jemand bei der Bearbeitung eines Kurses oder einer Aufgabe macht. Learning Analytics kann aber – sofern als Grundlage für Beratungsprozesse eingesetzt – eine geniun pädagogische Funktion erfüllen und individualisierte Studienverläufe ermöglichen. Ähnliches gilt für den Einsatz von Online-Self-Assessments vor Studienbeginn. Sie können technologisch verkürzt als Abschreckungsinstrument der derzeitigen Massenuniversitäten dienen, aber andererseits auch Grundlage für Beratungsprozesse sein auf dem Weg zu einem individualisierten Studium.
Universitäten sollten – auch im Interesse der eigenen Zukunftsfähigkeit – der Fortentwicklung und Modernisierung hochschulischer Lehre (weit über Einzelprojekte hinaus wie überwiegend im Rahmen des Qualitätspakts Lehre) mehr Aufmerksamkeit widmen. Die Rolle der Lehrenden verändert sich in einem solchen Prozess: „Die Rolle des Lehrenden lässt sich in digitalen Lehr- und Lernszenarien eher als begleitende und ermöglichende Funktion im individuellen Lernprozess der Studierenden charakterisieren denn als die des Wissensvermittlers“ (vgl. Hochschulforum Digitalisierung 2016). Der Einsatz digitaler Medien zur Entwicklung einer lernerzentrierten Hochschullehre ist daher stets auch ein Prozess der Personal- und Organisationsentwicklung.
Gefordert sind hier in erster Linie die Hochschulleitungen, sich auf die Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung von Bildung einzustellen und die eigene Organisation entsprechend umzugestalten und weiter zu entwickeln. Gefordert ist aber auch die Bildungspolitik: Sie muss der strukturellen Unterfinanzierung der Universitäten entgegen treten und angemessene Anreize für eine Modernisierung der Hochschullehre setzen. Die starke Fokussierung auf die „Exzellenz“ und damit auf die Forschung steht dem eher entgegen. Die derzeitige Wissenschaftspolitik gefährdet durch die vorgenommene forschungsorientierte Schwerpunktsetzung die Zukunft der deutschen Hochschulen als Bildungsinstitution.
P.S.: Was hier als Bedrohungsszenario für die Hochschulen aufgezeigt wurde, muss aber nicht zwangsläufig negativ gesehen werden. Hochschulen dienten in der Vergangenheit i.d.R. eher der Verfestigung und Reproduktion sozialer Ungleichheit als deren Abbau – ihre staatlich alimentierte Konservierung kann also durchaus kritisch gesehen werden. Fraglich ist allerdings, was an ihre Stelle treten würde – doch das ist ein anderes Thema…
Arnold, R. (2015): Bildung nach Bologna! Die Anregungen der europäischen Hochschulreform. Wiesbaden
Drucker, P.F. (1997): Seeing things as they really are. Online: http://www.forbes.com/forbes/1997/0310/5905122a.html (Abruf: 26.05.2016)
Bernaud, J.-L. (2014): Bilanz der VAE in Frankreich: Fortschritte und Verbesserungsmaßnahmen. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, H. 5, S. 28–29
Elsholz, U.; Vogt, S. (2014): Open Badges zur Anerkennung informell erworbener Kompetenzen – ein Ansatz auch für Deutschland? In: Elsholz, U.; Rohs, M. (Hrsg.) (2014): E-Portfolios für das lebenslange Lernen. Konzepte und Perspektiven. Bielefeld, S. 177-190
Elsholz, U. (2016): Portfolioansätze in hochschulischer und beruflicher Bildung. Ein Beitrag zur Qualitätssicherung wissenschaftlicher Weiterbildung. In: E. Cendon, A. Pellert & A. Mörth (Hrsg.), Lernendenzentrierte Studienformate. Münster, S. 157-165
FAZ (2015): http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/hochschulreform-der-sonderweg-des-ordinariats-14236528-p3.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3 (Abruf: 26.05.2016).
Gerholz, Karl-Heinz; Sloane, Peter: Lernfelder als universitäres Curriculum? – Eine hochschuldidaktische Adaption. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 20, 1-24 (2011). Online: http://www.bwpat.de/ausgabe20/gerholz_sloane_bwpat20.pdf (Stand: 21.01.2016).
Hochschulforum Digitalisierung (2016): 20 Thesen zur Digitalisierung der Hochschulbildung. https://hochschulforumdigitalisierung.de/thesen-digitalisierung-hochschulbildung (Stand: 13.06.2016)
Rödder, A. (2015): 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. München
Miller, D./Volk, B. (Hg.) (2013). E-Portfolios an der Schnittstelle von Studium und Beruf. Münster
Tenorth, E. (2013): Mythos Universität. Die erstaunliche Aktualität und die resistente Realität von Universitäten. In: Bock, F.; Kabaum, M. (Hrsg.): Ideen und Realitäten von Universitäten. Frankfurt, S. 15-34
Udemy (2016): https://www.udemy.com/disruptive-innovation-in-higher-education/learn/v4/overview (Abruf: 27.05.2016)
Udacity (2016): https://www.udacity.com/nanodegree (Abruf: 30.05.2016)
Wehler, H.-U. (1987): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt am Main
Welbers, U./Gaus, O./Wagner, B. (2005): The shift from teaching to learning. Konstruktionsbedingungen eines Ideals: für Johannes Wildt zum 60. Geburtstag. Bielefeld
Wissenschaftsrat (2015): Empfehlungen zum Verhältnis von Hochschulbildung und Arbeitsmarkt. Zweiter Teil der Empfehlungen zur Qualifizierung von Fachkräften vor dem Hintergrund des demographischen Wandels. Drs. 4925-15. Bielefeld.
[i] http://studieren.digital/2016/interview-disruption-und-hochschullehre-in-deutschland/
[ii] https://www.youtube.com/watch?v=TUnpSYMNEhY (Forget university? 4 steps to design your own education) Abruf: 30.05.2016
[iii] http://de.slideshare.net/ibuchem/open-badges-a-beuth-university-in-berlin
(iiii)Diese Notwendigkeit ist auch staatlicherseits erkannt und wird durch ein breit angelegtes Förderprogramm wissenschaftlich bearbeitet. Vgl. http://www.kompetenzen-im-hochschulsektor.de/. Ob der dabei gewählte Weg der Kompetenzmodellierung und Kompetenzmessung allerdings der sinnvollste ist, kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden.