Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser (Jahrgang 1959) ist seit dem 1. Mai 2011 Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) in Bonn. Esser hat nach einer Ausbildung im Bäckerhandwerk in Grevenbroich sein Abitur über den „zweiten Bildungsweg“ am Friedrich-Spee-Kolleg in Neuss gemacht. Anschließend studierte er Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität Braunschweig, Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftspädagogik an der Universität in Köln. Ab 1989 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in Köln. 1998 wurde er Geschäftsführer und ab 2003 stellvertretender Direktor ...
[weitere Informationen]
Auch wenn das deutsche Bildungssystem vielfach im Krisenmodus verortet und daraus abgeleitet die Frage aufgeworfen wird, ob es eine Revolution braucht, um sich aus diesem Modus wieder zu befreien, möchte ich zu Beginn meines Beitrags bewusst einen Gegenpol zu skeptischen Einschätzungen zur (Berufs-)Bildung in Deutschland setzen. Ich möchte daher an dieser Stelle beispielhaft auf drei Rahmendaten hinweisen, um die sehr wohl vorhandenen Stärken vor allem unseres Berufsbildungssystems zu betonen.
Erstens: Im internationalen Vergleich zeichnen sich Deutschland, die Schweiz und Österreich als Länder, die das duale System der Berufsausbildung umsetzen, durch ein hohes Pro-Kopf-Einkommen, hohe Exportleistungen sowie moderate Arbeitslosenquoten beziehungsweise niedrige Jugendarbeitslosenquoten aus. In diesem Zusammenhang soll besonders erwähnt sein, dass alle drei Länder im internationalen Vergleich mit eher mittelmäßigen Akademikerquoten aufwarten – was einmal mehr auch für die Leistungsfähigkeit des Berufsbildungssystems spricht.
Zweitens: In den letzten Jahren können wir in Deutschland von einer Bildungsexpansion sprechen. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass wir generell weniger Menschen ohne Schulabschluss und dafür mehr junge Menschen mit höheren Abschlüssen registrieren. Hinzu kommt, dass die Zahl der Schulabgängerinnen und Schulabgänger mit Hauptschulabschluss zurückgeht, hingegen die Zahl der Hochschulzugangsberechtigten steigt.
Drittens können wir für Deutschland konstatieren, dass es kein friedensgefährdendes soziales Ungleichgewicht gibt, wozu auch die berufliche Bildung in allen angebotenen Varianten ihren Beitrag leistet.
Zu beobachtender Trend: Immer mehr junge Menschen nehmen ein Studium auf.
Obwohl die duale Ausbildung im Ausland zurzeit eine sehr hohe Anerkennung genießt, steht die berufliche Bildung in Deutschland ohne Zweifel unter Druck. Das hat Gründe: die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist in den letzten zehn Jahren um rund 100.000 gesunken. Darüber hinaus verzeichnen wir einen Rückgang der Ausbildungsbetriebsquote vor allem bei den Kleinst- und Kleinbetrieben im handwerklich-industriellen Bereich (die Ausbildungssituation in Großbetrieben ist dagegen relativ stabil), über 43.000 unbesetzte Ausbildungsstellen und immer noch gut 80.000 junge Menschen, die die Schulen verlassen haben, aber noch nicht in eine Ausbildung eingemündet sind.
Dazu beobachten wir schon länger den Trend, dass immer mehr junge Menschen ein Studium aufnehmen. Dieses Bildungsverhalten gründet vermutlich nicht nur darin, dass berufliche Aus- und Weiterbildung bei immer mehr Schulabgängerinnen und Schulabgängern – sowie bei denen, die sie beraten – weniger attraktiv erscheint als ein Studium. Es geht vielmehr auch um Arbeits- und Erwerbsvorstellungen, die an berufliche Abschlüsse gekoppelt werden und bestimmte Berufe beziehungsweise Ausbildungsmöglichkeiten als wenig attraktiv erscheinen lassen. Folgende Punkte möchte ich in diesem Zusammenhang hervorheben:
Das duale System ist nach wie vor ein sehr leistungsfähiges Qualifizierungs-, Bildungs- und Erziehungssystem. Dies wird auch durch internationale Vergleiche belegt. Dennoch gibt es auch hier Schwachstellen beziehungsweise Anschlusspunkte für Verbesserungen und Weiterentwicklungen des Systems.
Wichtige Stichworte hierzu sind Übergänge, Inklusion und Durchlässigkeit. Die angesprochene Bildungsexpansion ist nicht Ausdruck eines Akademisierungswahns, sondern Ausdruck eines Bildungstrends. Um diesen zu verstehen, darf nicht ausschließlich auf die Bildungsseite geschaut werden.
Wichtig für die Problembearbeitung ist sowohl der Blick auf die Berufsbildungs- als auch auf die mit den Bildungsabschlüssen einhergehenden Beschäftigungsperspektiven. Nur wenn beide Seiten zusammen attraktiv sind, ist die Berufsausbildung vor allem für junge Menschen mit Hochschulzugangsberechtigung eine echte Alternative zum Studium.
Auf dem Weg zur Beantwortung der mir aufgetragenen Frage möchte ich zunächst stichwortartig die mir wichtigen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beruflicher und akademischer Bildung herausstellen:
Ausgewählte Gemeinsamkeiten:
Wichtige Unterschiede:
Hält man berufliche und akademische Bildung gedanklich nebeneinander, können bestimmte Zuschreibungen herausgestellt werden, die sich über Jahre in Wirtschaft und Gesellschaft festgesetzt haben, insbesondere:
Durch die Entwicklung des Europäischen beziehungsweise Deutschen Qualifikationsrahmens (EQR/DQR) und die daran anschließende europa- beziehungsweise bundespolitische Vereinbarung ihrer Umsetzung sind in jüngster Zeit jedoch Möglichkeiten eröffnet, diese Zuschreibungen zumindest bildungspolitisch zu durchbrechen. Das hat vor allem damit zu tun, dass
Als Zwischenbemerkung möchte ich an dieser Stelle unterstreichen, dass sich mit der Vereinbarung zur Umsetzung des EQR/DQR auf europäischer wie auch auf nationaler Ebene so etwas wie eine Revolution, zumindest eine Reform, mit Blick auf die Gleichwertigkeit beruflicher, akademischer und allgemeiner Bildung vollzogen hat.
Mit Bezug auf die Ausführungen zur Entwicklung und Umsetzung von EQR/DQR beantworte ich die Frage mit: Nein!
Gerade auch mit Blick auf die Anmerkungen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Abschnitt 4. vertrete ich die Position, dass berufliche und akademische Bildung grundständig, wie in EQR/DQR justiert, zwei verschiedene Zugänge zum Kompetenzaufbau darstellen, die beide gleichermaßen erwerbsarbeitsrelevant und in ihrer jeweiligen Spezifität – Stichwort implizites und explizites Lehren und Lernen – zu erhalten und voneinander abzugrenzen sind. Darum muss auch jedweden Bestrebungen, die einer tendenziellen Verberuflichung der Studiengänge oder einer Akademisierung der Berufsbildung Vorschub leisten, entgegengewirkt werden. In diesem Sinne sind berufliche und akademische Bildung in EQR/DQR völlig angemessen justiert.
Im DQR kommt die Verschiedenheit beruflich und akademisch generierter Qualifikationen übrigens dadurch zum Ausdruck, als dass in den Deskriptoren jeweils von „offen strukturierten Lernbereichen“ für die akademische Seite sowie von „beruflichen Tätigkeitsfeldern“ für die berufliche Seite die Rede ist. Der Nationale Bildungsbericht sieht in dieser Trennung ein Problem vor allem für die Verbesserung der Durchlässigkeit, das aufzulösen sei. Meines Erachtens kann jedoch eine Erosion der Abgrenzung nur zu einer Nivellierung der Bereiche führen. Mehr und bessere Durchlässigkeit zwischen den beruflichen und akademischen Subsystemen ist deshalb auch nicht über Nivellierung der (Berufs-)Bildungsinhalte zu erreichen, sondern über eine Verbesserung der curricularen wie auch lernortspezifischen Rahmenbedingungen.
Vorausgesetzt wird bei dieser Antwort jedoch, dass EQR/DQR auch konsequent und nachhaltig umgesetzt werden, was bislang nicht der Fall ist. Beide Rahmen sind nach wie vor nur in Kreisen von Bildungsexpertinnen und -experten bekannt. Die breite Öffentlichkeit kennt die Rahmen nicht und weiß deshalb auch nichts damit anzufangen. Die Bildungseinrichtungen der Kammerorganisationen handhaben den EQR/DQR mit unterschiedlicher Intensität – auch hier fehlt immer noch die Übersetzung für Nicht-Bildungsexperten sowie eine durchgreifende Kommunikationsstrategie zur Bekanntmachung. In der Hochschullandschaft werden beide Rahmen überhaupt nicht wahrgenommen.
Abgeleitet aus den vorstehenden Überlegungen sollen abschließend stichwortartig Maßnahmen angeführt werden, die für die Stärkung und Profilierung der beruflichen Bildung gegenüber der akademischen Bildung als besonders bedeutsam erachtet werden:
Berufsbildungspolitische Maßnahmen:
Beschäftigungspolitische Maßnahmen:
Um die Attraktivität beruflicher Bildung zu stärken, sind bildungspolitische Maßnahmen alleine nicht ausreichend. Denn die Entscheidung für einen Bildungsweg wird bei der Berufs- und/oder Studienwahl in der Regel nicht allein von bildungsbereichsspezifischen Überlegungen abhängig gemacht. Viel mehr spielen dabei auch Fragen eine Rolle, inwieweit man mit bestimmten Abschlüssen auch die individuell präferierten Ziele am Arbeitsmarkt erreichen kann. Von daher müssen mit Ausbildungsberufen perspektivisch vor allem auch
verbunden werden. Auch hier ist noch einmal hervorzuheben, dass vor allem Kleinst- und Kleinbetriebe im industriell-handwerklichen Bereich bei ihrem Bemühen, attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten vorhalten zu können, verstärkt zu unterstützen sind. Dazu bedarf es geeigneter Maßnahmen, die dazu beitragen können, der körperlich-handwerklichen Arbeit wieder mehr Stellenwert in der Gesellschaft zu verleihen.
Abschließend noch eine Anmerkung zum neuen Schlagwort „Höhere Berufsbildung“.
Die besondere Bedeutung von EQR/DQR für die Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung gründet vor allem darin, dass in beiden Rahmen vom Ort der Qualifikationsentstehung abstrahiert wird. Es geht nicht darum, ob eine Qualifikation an einem Gymnasium, in einem Betrieb in Zusammenarbeit mit der Berufsschule oder an einer Hochschule entstanden ist. Vielmehr geht es um einen „Outcome“, der in einem „beruflichen Tätigkeitsfeld“ oder einem „offen strukturierten Lernbereich“ generiert wird und einem Qualifikationsniveau zugeordnet ist.
Es geht hier also nicht mehr um den Unterschied zwischen dem akademischen und dem berufsbildenden Bereich, sondern um nicht gleichartige, aber gleichwertige Qualifikationen auf jeweils einem EQR/DQR-Niveau.
Kurz gesagt: Beim EQR/DQR kommt es nicht darauf an, wo man gelernt hat, sondern auf das, was jemand kann. Von daher wird der Vorschlag, Aufstiegsfortbildungsangebote als „Höhere Berufsbildung“ zu bezeichnen, insoweit kritisch gesehen, als dass damit genau der oben beschriebene EQR/DQR-Effekt, Qualifikationen unabhängig vom konkreten Ort ihrer Entstehung zu bewerten, konterkariert wird.
Bevor also das Schlagwort „Höhere Berufsbildung“ zu einer Marke entwickelt wird, sollte überprüft werden, ob es nicht doch noch einen geeigneteren Begriff zur Kennzeichnung von Angeboten der Aufstiegsfortbildungen gibt.